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Die Weihnachtsmandy© Bernd IllichmannEs ist eine wenig bekannte, aber im Hinblick auf seine Körperfülle nicht unbedingt erstaunliche Tatsache, dass der Weihnachtsmann eine gewisse Vorliebe für ausgesprochen deftiges Essen hat. Und gerade der Weihnachtsabend, wenn er unterwegs ist, um Millionen von Kindern (und natürlich auch Erwachsenen) ihre Geschenke zu bringen, ist ein Tag, der sich sehr auf den Appetit des Weihnachtsmannes niederschlägt. Nun befindet sich gerade in der kleinen Stadt, in der Mandy wohnt, eine Gaststätte mit österreichisch-böhmischen Spezialitäten und jeder (oder zumindest der eine oder andere in der näheren Umgebung des Weihnachtsmannes) weiß ja, wie sehr der Weihnachtsmann böhmische Knödel liebt und zwar am liebsten in Verbindung mit einem deftigen Schweinebraten. Schuld daran, dass ein zwölfjähriges Mädchen in das größte Abenteuer ihres Lebens geriet, waren deswegen im Grunde die böhmischen Knödel, eine wichtige Rolle spielten dabei allerdings auch eine kleine Unachtsamkeit seitens des Weihnachtsmannes und ein vorwitziger Weihnachtself. Es war ein Weihnachtsabend, wie er im Bilderbuch steht. Es hatte den ganzen Tag geschneit und auch jetzt noch verirrten sich einzelne Flocken aus den letzten, kleinen Wölkchen im klaren, kalten Abendhimmel, während ein schimmernder Vollmond die Winterwelt in ein sanftes Licht tauchte. Mandy war auf dem Heimweg. In der Hand trug sie, in einem Futteral gut verpackt, ihre Klarinette. Sie hatte, wie jedes Jahr, mit der Jugendblaskapelle der Stadt auf dem Marktplatz Weihnachtslieder gespielt. Und wie jedes Jahr hatte sie anschließend den Wunsch, ihr Instrument im Fluss zu versenken. Mandy war, und das war ihr selbst am meisten bewusst, ausgesprochen unmusikalisch und hatte - trotz jahrelanger Übung - immer noch große Probleme, die richtigen Töne zu treffen. Und genau genommen würde sie auch, wenn sie sich plötzlich über Nacht doch in ein musikalisches Genie verwandeln würde, viel lieber die Lieder von Xavier Naidoo spielen als "Ihr Kinderlein kommet". Als sie so auf ihrem Heimweg genau die Strasse entlang trottete, an der zufällig auch der "Olmützer Hof" mit seinen bis an den Nordpol berühmten Mehlspeisen lag, sah sie den Schlitten. Es war einer jener typischen Weihnachtsmannschlitten, wie sie Mandy schon zuhauf in Fußgängerzonen und Einkaufszentren gesehen hatte und sie wäre sicher auch - in Gedanken ganz darin versunken, wo sich ihre Klarinette zuhause unauffällig und für immer unauffindbar verstecken ließe - weitergegangen, wenn ihr nicht ein paar Sachen aufgefallen wären. Da war zum einen, dass natürlich weit und breit kein Einkaufzentrum, ja überhaupt irgendein Laden in der Nähe war. Es gab in dieser Strasse nur diese Gastwirtschaft und diese befand sich auch ungefähr fünfzig Meter entfernt. Außerdem parkte der Schlitten ganz normal am Straßenrand wie ein gewöhnliches Auto, ja, sie sah sogar eine kleine blaue Parkscheibe, die auf genau sieben Uhr eingestellt war. Es war gerade sieben Uhr, was bedeutete, dass der Schlitten noch nicht sehr lange dort stand oder derjenige, der die Parkscheibe eingestellt hatte, beim Einstellen der Zeit etwas geschummelt hatte, was Mandys Vater grundsätzlich auch dauernd tat, da, wie er immer sagte, ihn diese ständige Abzockerei gehörig auf die Nerven ging. Es gab da aber noch ein paar andere Dinge, die Mandy auffielen und seltsam vorkamen. So war dieser Schlitten nicht, wie sonst üblich, aus Plastik, sondern aus echtem und offenbar massivem Holz, außerdem deutlich größer als die normalen Einkaufszentrumsmodelle. Und darüber hinaus hatte sie in noch keinem Einkaufszentrum einen Schlitten gesehen, vor dem echte, lebende Rentiere gespannt waren. Sie hatte die Probleme mit ihrer musikalischen Karriere völlig vergessen und näherte sich dem Schlitten ganz vorsichtig. Sie achtete darauf, einen großen Bogen um die Rentiere zu machen, da sie - obwohl sie ein großer Fan von Tierfilmen ist - wenig über diese Tiere wusste und nicht sicher war, ob sie irgendwelche unangenehmen Angewohnheiten hatten wie Treten, Beißen oder gar gezieltes Spucken. Während sie um die Rentiere herumging, wurde sie von den Tieren sehr ruhig und aufmerksam beobachtet. Sie hatte ein seltsames Gefühl dabei. Diese Blicke, die ihr diese Geschöpfe zuwarfen, wirkten so ganz anders als die eines Rehs oder Hirsches oder sonst irgendeines heimischen Tieres, dass Mandy in Wildparkbesuchen kennen gelernt hatte. Diese heimischen Huftiere - das war zumindest ihre Erfahrung - schienen immer nur bemüht zu sein, abzuschätzen, ob man entweder jemand war, der Futter bringt, oder jemand, der sie als Futter betrachtete. Diese Rentiere aber sahen sie mit einem seltsam ernsten und interessierten Blick an, der Mandy verwirrte. Sie hatte das Gefühl, als wäre es diesen Tieren völlig egal, ob sie jetzt vielleicht zufällig saftiges Heu in der Hosentasche hatte. Vielmehr sahen sie Mandy mit einer Neugierde an, die fast menschlich wirkte. Mandy schloss die Augen und schüttelte den Kopf, eine Geste, die sie aus dem Fernsehen kannte, wenn Menschen plötzlich Halluzinationen hatten. Als sie die Augen wieder öffnete, waren die Rentiere natürlich noch immer da und sie beobachteten auch Mandy weiterhin mit unvermindertem Interesse. Sie beschloss, sich dem Schlitten selbst zuzuwenden. Es war - soweit Mandy das beurteilen konnte - ein klassischer Weihnachtsmannschlitten. Er hatte silberne Glöckchen an der Seite, geschwungene Kufen und hinter einer großen und geräumigen Sitzbank stand ein riesiger brauner Sack, aus dem oben einige bunte Pakete hervorlugten. Darüber hinaus hatte er vorne zwei Scheinwerfer und hinten zwei rote Rückleuchten, was Mandy, die in der Schule natürlich auch jedes Jahr Verkehrsunterricht hat, sehr vernünftig fand. Wirklich ungewöhnlich war allerdings dieses Männchen, dass lässig quer auf der Sitzbank fläzte, als gehörte der ganze Schlitten ihm. Mandy schätzte es auf ungefähr einem Meter Größe, es trug grüne Kleidung und altmodische Stulpenstiefel, die es lässig auf die Seitenlehne der Sitzbank gelegt hatte. Das Gesicht wirkte wie eine jener verwachsenen Kartoffeln, die Mandys Großmutter manchmal aus ihrem Schrebergarten mitbrachte, weil sie sicher war, dass sie einem Politiker oder berühmten Schauspieler ähnelte. Aus dem Gesicht dieses Männchens ragten vor allem zwei runde, in der kalten Luft rot leuchtende Wangenknochen und eine große, fleischige Nase hervor. Der Kopf war im Verhältnis zu seinem Körper sehr groß, was auch auf die Hände zutraf, die außerdem ungewöhnlich lange Finger ihr eigen nannten, mit denen sich das Wesen hier und da ganz gemütlich kratzte. Auf dem Kopf saß eine Zipfelmütze, die in dem gleichen saftigen Grün von Frühlingslaub leuchtete, wie es seine andere Kleidung auch tat. Am ungewöhnlichsten waren allerdings diese seltsamen, spitz zulaufenden Ohren. Mandy musste einen Augenblick überlegen, woher ihr das bekannt vorkam, bis ihr klar wurde: Dieses Männchen war ein Vulkanier! Nein, Unsinn! Vulkanier waren groß gewachsen und kamen außerdem nur im Fernsehen vor. Und wenn es sie tatsächlich gäbe, würden sie wohl eher mit einem silberglänzenden Raumschiff auf der Erde landen als mit einem Weihnachtsmannschlitten. Der Zwerg sah Mandy direkt an und grinste. "Hallo, Kleines", sagte er mit einer Stimme, die sich so ähnlich anhörte wie die von Mandys Physiklehrer, als er die Wirkung von Helium auf seine Stimmbänder demonstrierte. "Äh, hallo", antwortete Mandy. Sie überlegte, was sie sonst noch sagen könnte. Erwachsene würden jetzt vermutlich einige Worte über das Wetter verlieren - "es hat ganz schön angezogen in den letzten Tagen" oder so ähnlich -, aber das kam ihr irgendwie nicht richtig vor. Sie entschloss sich zu einer direkteren Vorgehensweise. "Ich bin Mandy Kulka, zwölf Jahre. Und wer bist Du?" Und nach einem kurzen Augenblick des Überlegens fügte sie noch hinzu: "Und was bist Du?" Das Männchen grinste noch breiter als zuvor. "Hallo, Mandy Kulka, zwölf Jahre", sagte es mit seiner Heliumstimme, "mein Name ist Etlchoaidhrm Gloywllt." Für einen Augenblick musste Mandy überlegen, ob dieses Männchen tatsächlich diesen wirklich sehr absonderlichen Namen hatte oder einfach nur einen üblen Husten. "Etilo…", versuchte sie zu wiederholen. "Etlchoaidhrm", verbesserte das Männchen, "man muss es mehr in der Kehle aussprechen. Aber das hat sowieso noch kein Mensch hingekriegt, noch nicht mal der Boss. Nenn´ mich einfach Tom, Mandy Kulka, zwölf Jahre." "Gut, wenn Du mich dafür einfach nur Mandy nennst. Aber ich habe Dir noch eine zweite Frage gestellt." "Du meinst, was ich bin? Aber das müsste Dir doch eigentlich schon längst klar sein: Ich bin ein Weihnachtself." Das erschien Mandy eigentlich ganz logisch. Ein Weihnachtsmannschlitten, sechs echte Rentiere, ein riesiger Geschenkesack, da gehörte ein Weihnachtself natürlich dazu. Allerdings sah dieser Weihnachtself so ganz anders aus als die immer etwas verschlafen wirkenden studentischen Aushilfen mit der verschmierten grünen Schminke im Gesicht, die sie aus dem Einkaufszentrum kannte. Überhaupt wirkte das alles so ganz anders. Sie war verwirrt und sie wusste nicht, was es war, was sie so beunruhigte…ihr kam ein sehr seltsamer Gedanke… "Wenn Du ein Weihnachtself bist", sagte sie vorsichtig, "wo ist dann der Weihnachtsmann?" "Essen gegangen", antwortete er und fügte grinsend hinzu: "Er muss sich um seine Linie kümmern." "Um seine Linie?" Der Elf beschrieb mit seinen Händen die Form einer großen Kugel in der Luft. Dann setzte er sich auf und rutschte auf die Seite der Sitzbank, die Mandy gegenüber lag. Er klopfte zweimal mit der flachen Seite seiner kleinen Hände auf den freien Bereich der Bank. "Na, wie wär's", sagte er, "ich denke, dass jedes kleine Mädchen davon träumt, einmal im Schlitten des Weihnachtsmannes zu sitzen." "Der Weihnachtsmann geht am Heiligen Abend essen?", fragte Mandy. Dieser Gedanke arbeitete weiter an ihr…Was wäre, wenn…? "Oh, du kannst mir glauben: Der Weihnachtsmann geht am jedem Tag essen. Und zwar mehrmals. Und immer mehrgängig. Also…" Tom klopfte weiter einladend mit der Hand auf die Sitzbank. Es war eine an und für sich sehr schöne Sitzbank. Sie schien schön weich gepolstert zu sein und mit etwas bezogen, das wie weinroter Samt aussah. Sie war sicher sehr gemütlich. Und auch wenn Mandy noch nie wirklich jemals davon geträumt hatte, einmal im Schlitten des Weihnachtsmannes zu sitzen, sprach ja nichts dagegen, dass sie es sich trotzdem mal kurz bequem machte. Sie schwang sich in den Schlitten. Die Sitzbank war tatsächlich schön weich. Sie sah sich um. Vor sich sah sie die Rücken der Rentiere, deren Köpfe sich zu ihr umdrehten und die auf eine seltsame, in den Ohren Mandys nicht sehr rentierhaft wirkende Weise vor sich hin grummelten. Zwischen den Rentieren und ihr befand sich ein Armaturenbrett. Es bestand aus den üblichen Messanzeigern, Bedienungsknöpfen und kleinen Hebeln, wie Mandy sie von Autos kannte. Alles war sanft von einem grünen Licht beleuchtet. Auf den runden Skalen standen Sachen wie Magometer oder Geschenke/h in komischen altmodischen Schriftzügen. Mandy hatte zwar nicht viel Ahnung von Autos, aber sie war sich ziemlich sicher, solche Anzeigen weder im Volvo ihres Vaters noch im Polo ihrer Mutter jemals gesehen zu haben. Außerdem fehlte eindeutig ein Lenkrad. Irgendwie erschien ihr das ganze ziemlich verrückt, aber gleichzeitig… Vielleicht ist das tatsächlich… Sie deutete auf einen Knopf, der sich direkt vor ihr befand und sich deutlich von den anderen Armaturenbrettdingern abhob. Er war ein großer, leuchtend roter und irgendwie altmodisch wirkender Knopf. Er erinnerte sie an die Knöpfe in den alten Filmen, mit denen man einen Selbstzerstörungsmechanismus in Gang setzte oder eine Atomrakete startete. "Wozu ist der?" fragte sie den Elf. "Och…ich glaube, dass ist nur die Hupe. Sie spielt "Kling, Glöckchen, Klingeling". Probier' sie ruhig aus." Und Mandy drückte den Knopf. Im ersten Augenblick war sich Mandy überhaupt nicht im Klaren darüber, was geschah. Irgendeine tiefe Stimme sagte: "Na, dann mal los, Jungs", und im nächsten Moment wurde sie an ihren Sitz gepresst, als säße sie in einer Achterbahn. Darüber hinaus strich ihr ein eisiger Wind ins Gesicht und sie hatte das Gefühl, dass ihr Magen beschlossen hatte, einfach in ihrem Bauch hoch- und runter zu hüpfen, wie es ihm gerade passte. Sie hörte das leise Gebimmel kleiner Glöckchen und neben sich den Weihnachtself, der solche komischen Sachen wie "Juchhuh" und "Jippie" rief. Was eindeutig nicht zu hören war, war ein Hupsignal, dass "Kling, Glöckchen, Klingeling" spielte. Mandy beschloss, dass sie herausfinden musste, was gerade geschehen war. Dazu musste sie allerdings zunächst einmal ihre Augen öffnen, denn erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie seit dem "Na, dann mal los, Jungs" die Lider so fest geschlossen hatte, dass ihr allmählich das ganze Gesicht weh tat. Im ersten Augenblick bereute sie es. Mit geschlossenen Augen hätte sie sich weiter vorstellen können, dass sie auf einer kleinen Seitenstraße in dem Weihnachtsmannschlitten eines Kaufhauses saß oder vielleicht sogar nur davon träumte, in dem Weihnachtsmannschlitten eines Kaufhauses zu sitzen und sicher bald aufzuwachen. Aber als sie die Augen öffnete, waren die Dinge völlig anders. Sie saß natürlich nach wie vor in dem Schlitten. Aber der Schlitten bewegte sich - was ja im Grunde auch nicht unbedingt beunruhigend war, schließlich war ein Schlitten ja ein Fortbewegungsmittel. Was Mandy aber wirklich den Atem nahm, war zum einen die hohe Geschwindigkeit, mit der sich der Schlitten bewegte und vor allen Dingen die Tatsache, dass sie ganz eindeutig flogen. Und zwar in einer besorgniserregenden Höhe. Unter ihr erstreckte sich die Stadt wie eine winzige Modelleisenbahnlandschaft. Nur dass der Schnee eindeutig nicht aus Watte war. Mandy klammerte sich an der Bank fest und starrte Tom mit funkelnden Augen an. "Eine Hupe, hä?!" rief sie wütend. "Was willst du?", rief er fröhlich zurück, "das ist doch toll! Du fliegst im Schlitten des Weihnachtsmannes über deiner Stadt! Glaub' mir: Von einem solchen Erlebnis träumen viele!" "Du hast mich angelogen!" "Was erwartest du? Ich bin ein Elf. Auch wenn ich zurzeit den Job des Helfers des Weihnachtsmannes ausüben muss, kann ich meine Herkunft nicht verheimlichen. Und Elfen lügen eben gelegentlich. Vor allem, wenn sich etwas Interessantes daraus entwickeln kann." Mandy wusste nicht so recht, wo sie hinsehen sollte. Vor sich hatte sie die Rentiere, die fleißig vor sich hin galoppierten und sich dabei wenig darum kümmerten, dass sie nur auf Luft liefen, weit unter ihr befanden sich die Häuser der Stadt und neben ihr saß ein durchgeknallter Elf. Ja, das kann tatsächlich nur eines bedeuten: Sie saß im echten Schlitten des wahren Weihnachtsmannes! Wobei sie es allerdings unerhört fand, dass er am Heiligen Abend einfach essen ging und seinen Schlitten so achtlos in einer Nebenstraße parkte, wo ihn ja praktisch jeder stehlen konnte. Das brachte sie direkt zu einem anderen schrecklichen Gedanken. Oh, Gott, ich habe den Schlitten des Weihnachtsmannes geklaut! …und ein weiterer Gedanke kam unvermeidlich hinterdrein. …das war's dann wohl mit der Playstation! Sie versuchte darüber nachdenken, wie es jetzt weiter ging. Sie musste sich eingestehen, dass sie in ihrem Leben noch nie in einer nur annähernd vergleichbaren Situation gewesen war. Aber wahrscheinlich war überhaupt noch niemand in einer vergleichbaren Situation gewesen. So nebenher sah sie sich etwas um. Die Rentiere galoppierten fleißig durch die Luft und wenn sie nach unten blickte - was sie natürlich sehr, sehr vorsichtig tat - sah sie, wie die Häuser der Stadt vorüberzogen. Sie entdeckte mehrere Gebäude: das dunkle Schulgebäude, die schimmernde Einkaufspassage, sogar ihr Elternhaus konnte sie von hier oben erkennen. Eigentlich - stellte sie fest - war es gar nicht so übel, hier oben herumzufliegen. Sie tadelte zwar innerlich den Weihnachtsmann etwas dafür, dass er nicht an Sicherheitsgurte gedacht hatte, aber im Grunde machte es tatsächlich Spaß. Sie wandte sich an den Elf. "Sag' mal, wo fliegen wir eigentlich hin?" "Wo immer du hin willst!" antwortete dieser fröhlich. "Das heißt, wenn jetzt sagen würde, ich wollte nach Timbuktu …" Sofort spürte sie, wie die Rentiere abrupt die Richtung änderten. Sie wurde in ihren Sitz gepresst, während die Landschaft unter ihr mit einer Geschwindigkeit vorüber flitzte, dass ihr fast übel nur vom Zusehen wurde. "He, langsam", rief Mandy, "das war doch nur so daher gesagt." Tatsächlich wurden die Rentiere auf der Stelle langsamer. Sie befand sich jetzt längst nicht mehr über ihrer Heimatstadt, die Landschaft unter ihr war gebirgiger, es gab kaum einmal Häuser zu sehen. Tom saß mit unverändert vergnügtem Gesichtsausdruck neben ihr. "Du musst vorsichtiger sein bei dem, was du sagst", sagte er, "Rentiere sind nicht dafür bekannt, dass sie viel nachdenken." "He, Vorsicht, Elf!" sagte eine tiefe Stimme. Es war die gleiche Stimme, die vorhin schon "Na, dann mal los, Jungs" gerufen hatte. Bei all der Aufregung hatte Mandy gar nicht darüber nachgedacht, wer das wohl gesagt haben könnte. Es musste wohl noch jemand hier im Schlitten sein. Sie drehte sich vorsichtig um. Aber hinter ihr befand sich nur der riesige Geschenkesack mit den hervorquellenden Paketen. Er füllte die ganze Ladefläche des Schlittens aus und stand sogar an den Seiten etwas über. Dort konnte sich unmöglich jemand verstecken, außer er befand sich im Sack. "Du siehst in die falsche Richtung", sagte Tom und deutete nach vorne. Dort waren die Rentiere in einen gemütlichen Trab verfallen. Das vorderste der Tiere drehte seinen Kopf um und sah Mandy direkt an. Erst jetzt fiel ihr auf, dass von dessen Nase ein rötliches Leuchten ausging. Dann zwinkerte es Mandy zu und grinste. Wer schon einmal ein Rentier grinsen gesehen hat, weiß, dass das nicht gerade einer der schönsten Anblicke ist (weswegen man Rentiere vermutlich auch so selten grinsen sieht), aber wenn man mit zwölfjährigen Jungs in einer Klasse sitzen muss, ist man so manches an Ekligkeiten gewohnt. Das Tier öffnete seinen Mund und sagte mit tiefer Stimme: "Hallo." "Äh, hallo", antwortete Mandy und fügte hinzu: "Ich bin Mandy Kulka, zwölf Jahre." "Hab' ich schon mitgekriegt", antwortete das Rentier, "ich heiße Rudolf." "Komisch. Das habe ich mir schon irgendwie gedacht", gab Mandy zurück und bemühte sich, nicht allzu sehr auf die rote Nase zu starren, "und wie heißen deine…", sie suchte nach dem geeigneten Wort, "…Kollegen?" "Oh", sagte Rudolf, "die heißen auch alle Rudolf." Es setzte ein allgemeines Kopfdrehen und Hallosagen ein. Mandy fiel auf, dass außer dem Vorderstem der Tiere keines eine leuchtend rote Nase hatte. Vermutlich war diese Nase eine Art Signal, so wie die Warnblinklichter auf hohen Türmen. "Ihr heißt alle nur Rudolf?" fragte Mandy etwas verwirrt. "Natürlich", antwortete Rudolf mit der roten Nase und hörte sich ebenfalls etwas irritiert an, "wie sollen wir denn sonst heißen?" "Naja, es gibt ja jede Menge Namen. Ich hatte mal als Stofftier einen Elch - da war ich natürlich noch klein -, den nannte ich Knut. Ich weiß ja, dass Elche keine Rentiere sind…" Sofort setzte unter den Rentieren ein allgemeines Durcheinanderreden ein. "Knut, was für ein blöder Name!", "Das ist doch kein Rentiername!", "Was ist denn an Rudolf auszusetzen?" "Oder ihr könntet Euch Nummern geben oder irgendwelche Beinamen", versuchte es Mandy noch einmal, "Rudolf Eins, Rudolf Zwei und so weiter oder Rudolf mit der roten Nase, Rudolf mit…" jetzt kam sie etwas ins Straucheln, denn die anderen Rentiere unterschieden sich kaum voneinander. "Warum sollten wir das tun?" rief einer der Rudolfs. "Na, damit man Euch auseinander halten kann!" antwortete Mandy schon leicht genervt. "Und wieso sollte man uns auseinander halten können?" fragte ein anderer Rudolf. Tom stieß sie leicht in die Seite. "Ich hab's dir doch gesagt", flüsterte er, "Rentiere haben es nicht so mit dem Denken. Du bringst sie nur durcheinander." "He, Jungs, " rief er fröhlich mit lauter Stimme, "nachher gibt's erstklassigen Hafer!" Auf der Stelle setzte ein allgemeines Hurra-Gerufe ein und die Rentiere verfielen sofort in einen leichten Galopp. Offenbar hatten sie diese Diskussion um ihre Namen sofort vergessen, als sie das Wort Hafer hörten. Tom sah Mandy grinsend an und zuckte leicht mit den Schultern. "Das haben sie verstanden", sagte er. Sie überquerten weiter die Gebirgslandschaft. Mandy fiel ein, dass sie eigentlich noch gar nicht gesagt hatte, wohin sie wollte. Wahrscheinlich waren sie immer noch auf dem Weg nach Timbuktu, wo immer das auch war. "Sollten wir nicht langsam umkehren" sagte sie, "ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust darauf, vom Weihnachtsmann erwischt zu werden." "Da brauchst du dir keine Sorgen machen", antworte der Elf, "wir haben jede Menge Zeit." "Na ja, ich schätze, dass auch beim Weihnachtsmann irgendwann einmal ein Abendessen zu Ende geht." "Nein, du verstehst nicht: Wir haben Zeit. Und zwar noch einen ganzen Haufen davon." Er deutete auf eine der Anzeigen auf dem Armaturenbrett des Schlittens. Es war ein rundes Schauglas mit Stricheinheiten und einem leicht vibrierenden rot leuchtenden Zeiger. Am oberen Rand des Schauglases stand in altmodischen Buchstaben: tempus. "Das ist die Zeitanzeige", erklärte Tom, "solange diese voll genug ist, müssen wir nicht die normale Zeit benutzen." Mandy starrte ihn mit großen Augen an. Sie hatte absolut keine Ahnung, was ihr der Elf da erklären wollte. "Siehst du", sagte Tom mit betont geduldiger Stimme, "es dauert eine ganze Weile, um sämtlichen Kindern dieser Welt ihre Geschenke zu bringen, nicht zu vergessen den Erwachsenen. Das schafft man selbst mit dem schnellsten Rentierschlitten nicht an einem Abend, vor allem, wenn jemand Bestimmtes zwischendurch Hunger bekommt. Deswegen muss der Boss vorher Zeit besorgen und den Schlitten damit randvoll tanken." "Zeit besorgen? Aber woher bekommt man denn Zeit?" "Ach, das Universum ist groß, es gibt viele Gegenden, in denen es jede Menge Zeit gibt, ohne dass jemand davon Gebrauch machen würde. Aber mach' dir keine Sorgen, weil du das nicht kapierst. Hast du schon mal von Einstein gehört?" "Ja." "Der hätte es auch nicht kapiert." "Also", fuhr der Elf fort, "wohin soll's jetzt gehen?" Mandy überlegte eine Weile. "Sag' mal", fragte sie vorsichtig, "das ist doch der richtige, der echte Schlitten des Weihnachtsmannes?" "Echter geht's nicht!" "… und der Weihnachtsmann kommt doch - soviel ich weiß - vom Nordpol." "Genau. Ich weiß zwar nicht, warum er sich ausgerechnet diese scheußliche Gegend ausgesucht hat…" "Können wir da hinfliegen?" "Na ja, warum nicht", gab Tom mit wenig Begeisterung zurück, "ich bin zwar auch mal froh, wenigstens an einem Tag im Jahr von da wegzukommen, aber es ist deine Party." Mandy wandte sich an die Rentiere. Sie räusperte sich kurz und sagte dann mit höflicher Stimme: "Zum Nordpol, bitte." Sofort änderten die Rudolfs ihren Kurs, flogen eine enge Schleife, bei der sich der Schlitten für Mandys Empfinden etwas zu sehr in die Kurve legte, und beschleunigten. Sie sah unter sich die Landschaft mit einer solchen Geschwindigkeit vorbeiflitzen, dass alles zu verschwimmen schien. Sogar der Mond sah aus, als sei er etwas in die Breite gezogen, außerdem schien er langsam an dem Schlitten vorbei zu wandern. Sie wandte sich wieder an den Elf. "Wir sind ganz schön schnell", stellte sie fest. "Na ja", gab der zurück, "so schnell, wie man eben mit sechs Rentieren sein kann." "Wie schnell sind wir genau?" Tom deutete auf eine der Anzeigen. Es war eine dieser Schaugläser, die aussahen wie die Geschwindigkeitsmesser in Autos. Sie konnte die Zahlen, die darauf standen, nicht entziffern (sie waren in altisländischen Runen geschrieben), aber das war sowieso egal, da sich der Zeiger sowieso nicht bewegte. "Der ist kaputt", stellte sie fest. "Nein, genau genommen eigentlich nicht" sagte Tom, "es ist nur so, dass Geschwindigkeiten immer eine Strecke messen, die man in einem gewissen Zeitraum zurücklegt." Das hörte sich an wie Mathe! Eigentlich wollte sich Mandy in den Ferien gerade damit nicht beschäftigen. "… da wir aber unendlich viel Zeit haben, ist unsere Geschwindigkeit praktisch gleich null." Mandy sah auf die Welt, die unter ihr vorbei schoss. Sie hatte nicht gerade das Gefühl, dass die Geschwindigkeit, mit der sie flogen, null war, aber sie wollte nicht noch einmal nachfragen. Das war vermutlich wieder so eine Sache, die auch Einstein nicht kapiert hätte. "Wie weit ist es noch bis zum Nordpol?" fragte sie. Tom deutete nach unten. Den Mond hatten sie irgendwann während der Fahrt ganz hinter sich gelassen. Einzig die Sterne spendeten noch ein wenig Licht. Was jetzt tief unter ihnen vorbei flitzte, war eine riesige Fläche von unbestimmter, aber einheitlicher Farbe. "Wir sind schon über dem Eismeer. Möchtest du, dass wir landen, wenn wir dort sind?" "Klar", antwortete Mandy, "ich will doch alles sehen!" Genau genommen hatte sie eigentlich keine richtige Vorstellung, wie es auf dem Nordpol aussah. Die einzigen Bilder, die ihr einfielen, waren die von Hundeschlitten und Eisbären. Sie hatte eigentlich keine Lust auf Eisbären. Der Schlitten wurde merklich langsamer. Sie verloren langsam an Höhe. Die Rentiere legten sich elegant in eine weit gezogene Kurve. Und plötzlich sah Mandy, wie inmitten dieser endlos scheinenden, gleichförmigen, in der nordpolaren Dunkelheit grau wirkenden Eiswüste einige nur kleine und unscheinbare Lichter auftauchten. Sie erkannte, je näher sie kamen, eine Art Dorf mit kleinen Häuschen, die sich im Windschatten eines großen Hügels duckten und unter ihren riesigen Hauben aus Schnee fast verschwanden. Aus ihren winzigen Fenstern schimmerte flackerndes Licht, das vermutlich von Kerzen kam, davor standen einige sehr altmodisch wirkende, verschnörkelte schwarze Straßenlaternen, die ebenfalls ein eher schwaches und flackerndes Licht verbreiteten. Aus irgendwelchen Gründen erinnerte sie diese Laternen an diese kitschigen uralten Weihnachtsgeschichten aus dem neunzehnten Jahrhundert, die die meisten Erwachsenen so liebten. Die Rentiere hielten direkt auf eine schmale, von diesen Laternen nur schwach beleuchtete Gasse zwischen den Häuschen zu. Sie verloren jetzt rasch an Höhe und für einen kurzen Augenblick bekam Mandy nochmals dieses komische Gefühl in der Magengegend, so als hätten sich ihre Eingeweide ganz spontan dazu entschlossen, eine andere Richtung einzuschlagen als Mandy selbst. Der Schlitten landete sanft im weichen Schnee, was Mandy erst nach einigen Sekunden Verzögerung begriff. Sie war mittlerweile auch völlig abgelenkt von dem merkwürdigen Wesen, das den Schlitten - ähnlich wie man es mit Flugzeugen auf den Flughäfen machte - heranwinkte. Es benutzte dazu zwei Gegenstände, von denen es jeweils einen in jeder Hand hielt und mit denen es sehr kompliziert erscheinende Bewegungen durchführte. Diese Gegenstände sahen aus wie zwei überdimensionale rote Riesenlutscher. Und als Mandy genauer hinsah, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass es tatsächlich zwei überdimensionale rote Riesenlutscher waren. Sie nahm sogar den Hauch von Kirscharoma wahr, der in der eisigen Luft hing. Das Wesen selbst war ungefähr so groß wie Tom, trug aber statt eines grünen Huts eine rote Mütze, außerdem schien es viel stämmiger zu sein als der Elf und hatte einen weißen buschigen Bart. Auch wenn es ein wenig dem Weihnachtsmann ähnelte, konnte sich Mandy dieses Wesen aus irgendwelchen Gründen weniger mit einem großen Geschenkesack auf dem Rücken vorstellen, sondern eher mit einer Schubkarre oder irgendwelchen Gartengeräten. Hinter dem Wesen sah Mandy ein großes, hölzernes Tor. Es war direkt in den Hügel, den sie sie schon aus der Luft gesehen hatte, hineingebaut. Das merkwürdige Männchen vollführte weiterhin seine komplizierten Armbewegungen mit den Riesenlutschern, auch nachdem der Schlitten längst zum Stillstand gekommen war. "Du kannst jetzt aufhören mit deinen Signalen, Happy", sagte Tom fröhlich, "Die Rentiere kapieren sowieso nicht, was sie bedeuten." Das Wesen mit den Riesenlutschern sah Tom mit grimmigem Gesichtsausdruck an. "Es ist meine Aufgabe, den Schlitten einzuweisen, ich mache das seit achthundertzweiundfünfzig Jahren und ich mache das auf meine Weise! Außerdem verstehen die Rentiere meine Signale sehr gut." "Die verstehen nur eins", gab Tom zurück und wandte sich an die Rudolfs: "He, Jungs, jetzt gibt's gleich Hafer." Die Rentiere bildeten auf der Stelle einen Sprechchor, der mit ausgelassener Fröhlichkeit die Worte "Ha-fer, Ha-fer" skandierte. Währenddessen war dem Bärtigen mit den Riesenlutschern Mandy aufgefallen. "Wer ist das!" fragte er Tom und setzte dazu eine Miene auf, die noch ernster war als zuvor. Er starrte erst den Elf und dann das Mädchen mit einem solchen stechenden Blick an, dass Mandy fast das Gefühl hatte, als wolle er ihr Löcher in ihren Kopf brennen. Sie fragte sich, wie dieser düstere Kerl zu einem so harmlosen Namen gekommen war. Sie versuchte es mit ihrer üblichen Antwort: "Ich bin Mandy Kulka, zwölf Jahre." Der Kerl sah sie nochmals ganz genau an. "Du bist nicht der Weihnachtsmann", stellte er fest. "Ich weiß", antwortete Mandy knapp und fügte hinzu: "Und du bist…?" Er warf sich in die Brust. "Mein Name ist Gwawlomorr, der Grimmige, Sohn des Tailltinn, dem Dunklen. Ein stolzer Zwergenname!" Etwas leiser fügte er hinzu: "Aber der Boss ist der Meinung, dass ein solcher Name nicht so richtig zur Werkstatt des Weihnachtsmannes passt. Ich weiß auch nicht, wie er auf solche Sachen kommt. Deswegen nennt er mich ausgerechnet Happy. Aber wie kommst du auf den Schlitten des Weihnachtsmannes?" "Das ist nur eine einfache Anhalterin", sagte Tom, "würdest du öfter in die Welt der Menschen kommen, wüsstest du, was das ist." Der Zwerg sah Mandy noch eine Weile mit einem Gesichtsausdruck an, der seinem eigentlichen Namen vollauf gerecht wurde. "Und wo ist der Boss?" fragte er. "Essen, was sonst", gab Tom zur Antwort, "die Kleine vertritt ihn solange." Der Elf sah Mandy grinsend an und zwinkerte verschwörerisch. "Aha", sagte Happy. Er stand weiterhin zwischen dem Rentiergespann und dem großen Tor und starrte die Insassen des Schlittens an. "Jetzt lass' uns halt vorbei", sagte Tom, "die Rentiere haben Hunger…" Auf der Stelle hob der Ha-fer, Ha-fer-Sprechchor wieder an. "Na gut", sagte der Zwerg und brummelte mit immer leiser werdenden Stimme vor sich hin, "ich bin hier sowieso nur dazu da, den Schlitten einzuweisen. Alles andere kann mir egal sein. Soll der Boss doch sehen, was er davon hat, wenn er kleine Mädchen seine Arbeit machen lässt…" Er machte ein paar Schritte zur Seite. Die Flügel des Tores schwangen langsam und von ganz alleine auf. Das Renntiergespann setzte sich langsam wieder in Bewegung. Während sie den Zwerg passierten, konnte es sich Mandy nicht verkneifen, ihn zu fragen: "Leckst du manchmal dran?" Happy sah sie mit verständnislosem Blick an "Die Riesenlutscher", fügte Mandy hinzu, "Leckst du manchmal daran? Sie sehen lecker aus." "Bist du verrückt", antwortete der Zwerg, "das sind hoch präzise Arbeitsgeräte! Ich lecke doch nicht an meinem Werkzeug!" Mandy wurde klar, dass sie in Happy wohl kaum jemals einen Freund finden würde. Das Tor hatte sich jetzt vollständig geöffnet. Was Mandy dahinter sah, verschlug ihr den Atem. Der Eingang durch das Tor führte direkt in eine riesige Halle. Während die Rentiere den Schlitten in langsamem Schritttempo in diesen gewaltigen Raum hineinzogen, sah sie, weit entfernt, hohe, glatte Wände, die aus irgendeinem halb lichtdurchlässigen Material zu bestehen schienen und abwechselnd in einem kräftigen Gelb und in einem blassen Rot sanft zu leuchten schienen, als befände sich in den Wänden eine geheimnisvolle Lichtquelle. Dazwischen stützten hohe Säulen die Halle. Sie waren völlig unterschiedlich. Mandy sah kristallartig funkelnde weiße Pfeiler, um die sich rote Streifen spiralig nach oben wanden, als wären es riesige Zuckerstangen, andere waren schwarz und zopfartig gewunden, wieder andere sahen aus wie richtige antike Säulen, nur dass diese so aussahen, als bestünden sie nicht aus Marmor, sondern aus weißer Schokolade mit Pistazienstückchen. Alles war durchflutet von einem warmen Licht, dass die Farben in den Säulen und Wänden schimmern ließ. Aber so sehr sich Mandy auch umsah, sie konnte nirgends eine Lampe oder irgendeine andere Lichtquelle entdecken. Es war, als würde diese Halle von innen heraus leuchten. Zwischen den Säulen verliefen kreuz und quer große Rohre. Sie waren, im Gegensatz zu den sanften Farben der Wände, knallbunt. Sie schienen ganz wahllos mal nach oben, mal nach unten, mal nach rechts und mal nach links zu verlaufen, von den meisten Rohren zweigten wieder andere Rohre ab, manche schienen sich regelrecht miteinander zu verknoten, es erinnerte an jene Zeitschriftenrätsel, bei denen man mit einem Stift den Verlauf eines Weges bis zu seinem Ausgang folgen musste und man zumeist doch in irgendwelchen Sackgassen landete. Die Rohre endeten an kleinen, ebenfalls knallig bunten Tischen, die überall in der riesigen Halle verteilt standen. An jedem dieser Tische saß ein Zwerg. Sie waren mit Geschenken beschäftigt, die in unregelmäßigen Abständen aus den Rohren auf diese Tische fielen. Und über all dem war Musik zu hören, so zart und lieblich, dass Mandy sie erst wahrnahm, nachdem sie sich an den anderen Dingen satt gesehen hatte. Sie kannte diese Lieder nicht, spürte aber sofort eine seltsame Vertrautheit mit dieser Musik, so als wäre sie schon immer in ihrem Kopf gewesen und hätte nur auf einen besonderen Weihnachtsabend gewartet, um den Weg zu ihren Ohren zu finden. Diese Musik war so perfekt, so fröhlich und gleichzeitig feierlich, dass Mandy sofort klar war, dass sie so etwas Wunderschönes nie mit ihrer Klarinette würde spielen können. Mittlerweile war sie aus dem Schlitten ausgestiegen. Sie stand da und machte dass, was wohl jeder Mensch in dieser Situation machen würde: Sie starrte mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund auf diese ganze Szenerie. "Willkommen am Nordpol", sagte eine freundliche Stimme. Noch ganz perplex von dem überwältigenden Eindruck dieser Halle blickte Mandy neben sich. Dann fiel ihr ein, mit welchen Wesen sie es ihr zu tun hatte, und senkte ihren Blick ein wenig nach unten. Neben ihr stand ein weiterer Zwerg. Er wirkte im Vergleich zu dem Rentierschlittenlotsen Happy deutlich freundlicher und schien sie, soweit man das bei diesem gewaltigen, fast das ganze Gesicht überwuchernden Bart, beurteilen konnte, anzulächeln. "Mein Name ist Klimbim. Ich bin der Oberaufseher der Weihnachtsmannwerkstatt." Mandy sah den Zwerg an. Er hatte eine Nickelbrille auf der Nase und trug ein für seine Körpergröße viel zu gewaltig wirkendes Klemmbrett in der Hand. Irgendwo, halb verborgen zwischen der roten Mütze und dem Bart erschien die Spitze eines Bleistiftes, den er sich offenbar hinter sein rechtes Ohr geschoben hatte. Plötzlich fiel Mandy auf, dass sie den Zwerg bereits über Gebühr lange angestarrt hatte. Außerdem wurde ihr bewusst, dass ihr Mund nach wie vor ein wenig offen stand. Sie klappte ihn zu. "Mein Name ist Mandy Kulka, zwölf Jahre", antwortete sie dann schließlich. "Es kommt selten vor, dass wir hier Besuch haben", sagte der Zwerg, "darf ich fragen…?" "Sie ist eine kurzfristige Aushilfe", warf Tom, der plötzlich neben dem Zwerg erschienen war, ein. "Ahaa", sagte Klimbim, "ich nehme an, der Boss macht dann gerade Pause?" "Richtig!" sagte Tom. "Und aus irgendwelchen Gründen hat er dieses Mädchen solange als Ersatz eingestellt?" "So ungefähr war es", antwortete der Elf. Er wirkte sichtlich nervös, hüpfte von einem Bein auf das andere, während sein Blick hektisch zwischen Mandy und Klimbim hin und her zuckte. Der Zwerg fuhr mit ruhiger Stimme fort. "Dann sollten wir das jetzt folgendermaßen machen: Deine Arbeit, Tom, besteht ja seit jeher darin, die Rentiere zu füttern. Vielleicht solltest du dieser Aufgabe jetzt nachkommen." Er deutete auf eine Stelle direkt neben dem großen Holztor. Dort war eine Art Stall eingerichtet. Mandy sah Futterkrippen, daneben einen großen Haufen mit Stroh und noch ein paar Jutesäcke, die vermutlich mit dem so begehrten Hafer gefüllt waren. Davor standen die Rentiere, die immer noch am Schlitten angeschirrt waren und mit einem Gesichtsausdruck, der in der geheimnisvollen Welt der Rentiermimik vermutlich einem sehr verärgerten Blick entsprach, in die Richtung sahen, in der Mandy, Tom und Klimbim standen. "Hey, wir haben Hunger!" rief einer der Rudolfs. Andere Tiere fielen in dem Gezeter ein. "Elf, mach uns los!" "Du hast uns Hafer versprochen!" "Ha-fer, Ha-fer!" "Und währenddessen führe ich unsere Aushilfskraft hier ein wenig durch die Werkstatt und führe sie in ihre Arbeit ein", fuhr Klimbim fort. Tom drehte sich um und ging zu den Rentieren. Mandy hörte, wie er dabei leise mit seiner Quietschstimme vor sich hin brummelte. "Elfen!" seufzte Klimbim, "mit denen hat man nur Ärger." Dann wandte er sich mit unvermindert fröhlichem Lächeln Mandy zu. "Und Du bist also im Augenblick die Vertretung des Weihnachtsmannes?" "Äh…also…genau genommen…habe ich nur auf eine Hupe gedrückt…das heißt, ich dachte, es sei eine Hupe…und dann rief jemand: Dann mal los, Jungs…und dann waren wir erst auf dem Weg nach Timbuktu…und jetzt bin ich da." Mandy hatte den Eindruck, dass sie sich damit möglicherweise nicht so ausgedrückt hatte, dass es der Oberzwergenaufseher wirklich hätte verstehen können. "Was ich eigentlich sagen wollte: Ich glaube nicht, dass ich die Arbeit des Weihnachtsmannes machen kann. Ich habe absolut keine Ahnung von richtiger Weihnachtsmannarbeit. Ich habe ja noch nicht mal einen Bart. Und wenn ich "Ho, ho, ho" sagen müsste, würde das total lächerlich klingen…" Und zur Bekräftigung fügte sie noch mal ein "Ho, ho, ho" an, das sich bei ihrer Mädchenstimme tatsächlich etwas ungewöhnlich anhörte. Klimbim lächelte sie weiter mit einer strahlenden Fröhlichkeit an, wie man sie wohl nur an Orten wie der Werkstatt des Weihnachtsmannes am Heiligen Abend erleben konnte. "Ach, das ist gar nicht so schwer", sagte er, "man überschätzt da gemeinhin die Tätigkeit des Bosses. Alles nur eine Frage der richtigen Organisation. Und ganz im Vertrauen…" Der Zwerg winkte Mandy mit einer kurzen Handbewegung zu und beugte sich verschwörerisch nach vorne. Mandy blieb nichts anderes übrig, als in die Hocke zu gehen. "…um die Organisation kümmern sich hier hauptsächlich Zwerge. Der Boss ist da etwas…nachlässig." "Keine Sorge", fuhr er fort und begann, in die Richtung der mit unzähligen Zwergen besetzten Tischreihen los zu marschieren, "das kriegen wir schon hin. Und ich glaube nicht, dass es nötig sein wird, Ho, ho, ho zu sagen." Am ersten Tisch angekommen, sahen sie einen etwas müde wirkenden Zwerg, der, unterbrochen von einigen Gähnanfällen, in Geschenkpapier verpackte Pakete, die aus einer Rohröffnung von oben direkt auf seinen Tisch plumpsten, abstempelte. Er benutzte dazu einen großen, hölzernen Stempel, der selbst in der Hand eines normal gewachsenen Menschen etwas übertrieben gewirkt hätte, in den winzigen Zwergenhänden aber fast wie ein dicker Knüppel wirkte. Nach dem Stempeln beförderte der schläfrige Zwerg die Pakete in eine weitere Rohröffnung, die direkt neben seinem Tisch in ein unteres Stockwerk zu führen schien. Mandy fiel auf, dass sich nirgendwo auf dem Tisch ein Stempelkissen befand. Sie sah sich den Zwerg, der mit halbgeöffneten Augen und einem leeren, schläfrigen Blick auf seinem Stuhl saß, genau an. "Das scheint eine ermüdende Tätigkeit zu sein", sagte sie. "Oh, nein, das täuscht", gab Klimbim zurück, "das ist nur Schnarchi. Der ist immer so." "Äh, hallo, Schnarchi", sagte Mandy, "ich bin Mandy Kulka, zwölf Jahre." "Mmmh." "Er ist erfreut, dich kennen zu lernen", dolmetschte Klimbim und fügte erklärend hinzu: "Sein Wortschatz beschränkt sich zumeist auf die Geräusche, die jemand macht, wenn man ihn gerade aus dem tiefsten Schlaf geweckt hat." "Kann man ihm da nicht helfen. Es muss doch schrecklich, wenn man immer so müde ist." "Oh, ich glaube, er ist ganz glücklich damit. Tom wollte ihm mal etwas Gutes tun und hat ihm einige Tassen extra starken Kaffee eingeflößt. Das gab ihm offensichtlich viel Energie, denn er hat kurz darauf so laut und so kraftvoll geschnarcht, dass wir uns alle Lametta in die Ohren stecken mussten." Sie führten ihre Wanderung durch die große Halle fort. Aber im Grunde machte jeder Zwerg dasselbe: Er nahm Pakete, die aus einem Rohr auf ihren Arbeitsplatz fielen, stempelte sie ab und steckte sie anschließend in ein anderes Rohr. Klimbim hatte inzwischen den Bleistift hinter seinem Ohr hervor gefingert und damit begonnen, auf den Listen, die in seinem Klemmbrett steckten, sehr akkurate und fast völlig identische Häkchen zu setzen. Was auf diesen Listen stand, konnte Mandy nicht entziffern, da sie alle in alt-svalbardischen Runen geschrieben waren, aber es war deutlich zu erkennen, dass sich Klimbim über jedes gelungene Häkchen freute. "Es ist sehr hübsch hier", sagte Mandy, "aber irgendwie hatte ich mir die Werkstatt des Weihnachtsmannes ganz anders vorgestellt." Klimbim sah sie verwirrt an. "Wie meinst Du das?" "Na ja, irgendwie als Werkstatt eben. Zwerge, die mit kleinen Hämmern, Sägen und Zangen Tiere und Eisenbahnen aus Holz zusammenbauen. Zwergenfrauen, die Teddybären ausstopfen und kleine Mützen stricken. Du weißt schon." "Ach, du meinst diesen alten Kram." Er blickte sinnierend an die Hallendecke. "Ja, das waren noch Zeiten. Aber heutzutage? Versuch mal, mit Hammer, Zange und Säge eine Spielekonsole zu bauen. Oder eine DVD. Nein, das läuft heute anders. Ich erkläre es dir: Alle Dinge auf dieser Welt, die gekauft oder auch gebastelt wurden in der Absicht, sie an Weihnachten zu verschenken, landen automatisch hier in der Werkstatt. Sie werden aufgelistet, abgestempelt, kontrolliert und inventarisiert und dann vom Weihnachtsmann am Weihnachtsabend verteilt." "Du meinst alle Geschenke?" "Alle Geschenke!" "Auch - nur mal zum Beispiel - das Aftershave, das ich für meinen Vater gekauft habe?" Klimbim blätterte in den Listen auf seinem Klemmbrett. Er brabbelte leise vor sich hin, wobei Mandy immer wieder das Wort Aftershave heraushören konnte. Nach nicht einmal einer Minute landete sein knubbeliger Zwergenzeigefinger auf einer alt-svalbardischen Eintragung. "Hier", rief er fröhlich, "für Gerhard Kulka, eine 250 ml Flasche "Old Western Isles Rough Sea" von seiner Tochter Mandy. Mit Adresse." "Und da geht nie etwas verloren?" fragte Mandy. Klimbim blickte sie mit einem empörten Gesichtsausdruck an. "Natürlich nicht!" rief er. Eigentlich schade, dachte Mandy. Ihr war erst nach ihrem zugegebenermaßen etwas gedankenlosen Einkauf bewusst geworden, dass ihr Vater seit einigen Monaten stolzer Träger eines Vollbartes war. "Und was macht ihr, wenn keine Weihnachtszeit ist und die Menschen auf der Welt keine Geschenke kaufen?" In das Gesicht des Zwerges kehrte das fröhliche Lächeln zurück. "In der Werkstatt des Weihnachtsmannes ist immer Weihnachtszeit!" "Auch im Sommer?" "Gibt es bei uns nicht. Der Boss kümmert sich darum. Er macht irgendetwas mit der Zeit, so dass bei uns praktisch immer Dezember ist. Wie er das macht, weiß ich auch nicht so genau. Es ist eine ziemlich komplizierte Sache." "Ich weiß schon. Einstein", gab Mandy zurück und erntete von dem Zwerg einen irritierten Blick. "Wer?" fragte er. "Nicht so wichtig. Und wie kommen die Geschenke eigentlich hierher?" "Das", sagte er mit sanfter Stimme, "ist reine Magie. Und dafür ist der Boss zuständig." Was vermutlich bedeutete, dass es Klimbim auch nicht wusste. Mandy musste zugeben, dass sie ein klein wenig enttäuscht war von der Werkstatt des Weihnachtsmannes. Kein Hämmern und Klopfen, Sägen und Bohren, keine bunten Farbtöpfe und bunte Wollknäuel und nirgends einer dieser Nussknacker, die aussahen wie altmodische Soldaten. Auf der anderen Seite hätte sie vor noch nicht mal einer Stunde jeden für verrückt oder rettungslos naiv gehalten, der behauptet hätte, dass es so etwas wie eine Weihnachtsmannwerkstatt überhaupt gab. Sie begann sich mittlerweile etwas zu langweilen. Während Klimbim ein weiteres jener sorgfältigen Häkchen auf eine seiner Listen malte, lehnte sie sich leicht an den schwarzen Pfeiler, der direkt hinter ihr stand. Zu ihrer Überraschung war dieser nicht aus hartem Stein oder Holz. Die Oberfläche gab sogar ein klein wenig nach, so als wäre der Pfeiler gepolstert. Dann nahm sie den Geruch wahr. Sie drehte sich um und schaute sich die Säule genauer an. Sie bestand aus mehreren lang gestreckten, tiefschwarzen, zylindrischen Stangen, die miteinander zu einer Art Zopf verflochten waren. Und sie roch eindeutig nach…Lakritze. "Ist es das, für was ich es halte?" fragte sie Klimbim. Der Zwerg beendete noch kurz einen besonders gelungenen Haken auf seiner Liste und drehte sich zu Mandy um. "Oh, ja", sagte er und betastete den Pfeiler, "Lakritze aus dem besten handgeraspelten Süßholz. Beste Qualität. So etwas bekommst du nicht im Supermarkt um die Ecke. Die statischen Fähigkeiten lassen allerdings etwas zu wünschen übrig." Mandy sah sich noch einmal in der großen Halle um. Die Pfeiler, die aussahen wie Zuckerstangen, die Schokoladensäulen… "Ist das alles…echt?" fragte sie. Klimbim lächelte sie fröhlich an. "Wenn du meinst, dass diese Halle vollständig aus Süßigkeiten gebaut ist: Ja! Die Säulen bestehen aus feinsten Rohrzuckerstangen, andere aus hochwertiger mexikanischer Schokolade mit besten karamellisierte Pistazien direkt aus Kalabrien oder aus hauchfeinen dänischen Keksröllchen, die mit dem stabilisierenden Guss einer Schokoladen-Pfefferminzmasse überzogen sind. Decke und Wände bestehen vollständig aus mit natürlichen Fruchtauszügen aromatisierter Bonbonmasse." "Und das hält? Ich denke doch, dass eine Säule aus Keksröllchen vermutlich nicht sehr stabil ist." Der Zwerg senkte leicht seine Stimme. "Also, ganz im Vertrauen", sagte er, "ich persönlich würde da ja eher Industriebeton bevorzugen. Er hat auch in seiner Schlichtheit seine ästhetischen und vor allem praktischen Qualitäten." Er blickte seufzend auf die bunten, mit Erdbeer- und Zitronenauszügen gefärbten Wände der Halle. "Aber mach' dir keine Sorgen", fuhr er fort, nachdem er sich von seinen Betonträumereien gelöst hatte, "Wider aller Logik steht dieses Gebäude so fest, dass es jeden Polarsturm aushält. Das ist schließlich die Werkstatt des Weihnachtsmannes. Und der Boss ist der Ansicht, dass man da auch etwas Besonderes bieten muss." "Falls einmal unerwartet Kinder hier hereinschneien, so wie ich jetzt?" "Ja, zum Beispiel", antwortete Klimbim, fügte dann aber mit nachdenklicher Stimme hinzu "andererseits: wenn ich es mir recht überlege: Ich glaube, das ist das erste Mal, dass hier unerwartet ein Kind auftaucht. Und ich arbeite schon seit neunhundertdreiunddreißig Jahren hier. Eigentlich merkwürdig." "Aber", fuhr er mit fröhlicher Stimme fort, "Warte erst einmal, bis wir uns die Kellerbereiche ansehen: Alles aus feinster Gummibärchenmasse!" "Und wer soll solange die Geschenke verteilen?" meldete sich eine unverkennbare quäkende Stimme, "etwa der Osterhase?" Tom war offensichtlich fertig mit der Versorgung der Rentiere und sprühte vor Tatendrang. "Der Osterhase?" fragte Mandy, "gibt es den etwa auch…?" "Hey, alles zu seiner Zeit", antwortete Tom und wandte sich an Klimbim. "Wir müssen dann mal los" sagte er, "du weißt schon: Geschenke verteilen, Freude verbreiten, Lächeln in Kindergesichter zaubern, all diese Sachen." Er zerrte Mandy sanft in Richtung des großen Eingangstores. Im Grunde war es ihr ganz recht, die Werkstatt zu verlassen, denn auch wenn sie von der Halle an sich und vor allem von der Musik und den ungewöhnlichen Baumaterialien wirklich beeindruckt war, so gefiel ihr die Art der Arbeit, die diese Zwerge dort verrichteten, ganz und gar nicht. Es wirkte irgendwie so monoton. Sie gingen zum Schlitten. Die Rentiere waren wieder angeschirrt und scharrten unruhig mit den Hufen. Tom und Mandy machten es sich auf der Sitzbank bequem, während Klimbim neben dem Schlitten stehen blieb. Er hatte den Bleistift wieder hinter sein Ohr geschoben und lächelte Mandy mit unverminderter Fröhlichkeit an. Auf seine Weise machte er einen sehr glücklichen Eindruck. Mandy beugte sich leicht zu dem Zwerg hinüber. "Du hast gesagt, du arbeitest seit neunhundertdreiunddreißig Jahren in der Weihnachtsmannwerkstatt", sagte sie, "hattest du da auch einmal Urlaub?" "Urlaub?" Klimbim sprach dieses Wort so aus, als würde es das erste Mal in seinem langen Leben über seine Lippen kommen. "Das, heißt, du warst immer hier, in der Werkstatt?" Der Zwerg deutete auf das kleine Dorf mit den winzigen Häuschen, das jetzt hinter dem sich langsam öffnenden Tor auftauchte. "Nun, manchmal, so alle paar Jahre, gehe ich auch in meine Hütte, mache meinen Haushalt, schlafe ein oder zwei Stündchen und trinke anschließend eine gemütliche Tasse Tee am Kamin." "Das ist alles?" Klimbim sah Mandy mit verwirrtem Gesichtsausdruck an. Dann lächelte er. "Ja, das ist alles", antwortete er mit fröhlicher Stimme, "und es ist ein wunderbares Leben!"
Langsam glitt der Schlitten wieder hinaus in die Nacht. Sie fuhren an Happy vorbei, der sie mit seinen Riesenlutschern und mit einem grimmigen und gleichzeitig höchst konzentrierten Gesichtsausdruck auf die kleine Hauptstrasse des Dorfes dirigierte, was den Rentieren nicht weiter schwer fiel, da es in dieser kleinen Ansiedlung sowieso nur eine Strasse gab. Hinter ihnen schwang das große Tor zu der lichtdurchfluteten Halle langsam zu. "Und", begann Tom, "wie hat dir die Werkstatt des Weihnachtsmannes gefallen?" "Na ja", gab Mandy zur Antwort, "ein bisschen anders hatte ich es mir schon vorgestellt. Ich dachte, die basteln da und singen fröhliche Lieder. Ich meine: Ich gehe ja noch zur Schule und war noch nie in einer Fabrik. Aber ungefähr so stelle ich mir es vor, wenn die Leute von Akkordarbeit reden." "Also, ich würde es keine fünf Minuten aushalten", pflichtete ihr Tom bei, "aber ich bin schließlich auch ein Elf." "Wie meinst du das?" "Es ist so: Wenn Zwerge etwas wirklich gerne machen, dann ist es arbeiten. Und da ist es ihnen eigentlich auch völlig egal, wie stumpfsinnig diese Arbeit tatsächlich ist. Sie sind enorm fleißig. Ist dir nicht aufgefallen, wie glücklich sie alle aussahen?" Wenn es sich Mandy recht überlegte, machten die Zwerge tatsächlich alle einen sehr gutgelaunten Eindruck. Sogar Schnarchi wirkte auf seine Weise zufrieden. "Sie arbeiten praktisch rund um die Uhr", fuhr Tom fort, "die meisten Zwerge benötigen auch sehr wenig Schlaf. Es gibt welche unter ihnen, die seit Jahrhunderten kein Auge zugemacht haben. Wenn man einen Zwerg so richtig bestrafen will, gibt man ihm ein paar Tage Urlaub. Und wenn man besonders grausam sein will, weißt man ihn noch zusätzlich darauf hin, dass er sich mal so richtig ausschlafen, die Beine baumeln lassen und sich dem Nichtstun ergeben soll." Während ihres Gespräches waren die Rentiere gemütlich weitergelaufen und hatten den Rand des Dorfes erreicht. Die letzte Straßenlaterne befand sich mittlerweile hinter ihnen und sie hatten nur noch das graue, polare Zwielicht vor sich. Tom wurde unruhig. "Wir sollten losfliegen", sagte er nervös, "das ist hier keine sehr angenehme Gegend." "Gibt es hier etwa Eisbären?" fragte Mandy erschreckt. "Nein, das nicht, aber hier treibt sich gerne der alte Mann herum", gab Tom zur Antwort. "Der alte Mann?" "Ja", antwortete Tom, "mein Vorgänger." Wie auf Befehl tauchte in fünfzig Metern Entfernung, da, wo der dunkle Himmel und die graue Schneelandschaft allmählich ineinander übergingen und zu einem einzigen dämmrigen Nichts verschmolzen, eine Gestalt auf. Sie war nur grob in Umrissen erkennbar und schien halb mit dieser grauen Umwelt zu verschmelzen. Was Mandy sah, war eine groß gewachsene, schlanke Person, bekleidet mit einer Art Kutte oder einem langen Gewand. Auf dem Kopf trug sie eine große Kapuze, hinter der das ganze Gesicht in einem Schatten, der schwärzer schien als die dunkelste Nacht, verschwand. Sie ging in leicht vornüber gebeugter Haltung, stützte sich auf einem langen, krummen und knotigen Stock, hielt aber mit langsamen und schwerfälligen Schritten genau auf den Schlitten zu. Mandy wusste nicht warum, aber aus irgendwelchen Gründen machte ihr diese merkwürdige Erscheinung entsetzliche Angst. Gleichzeitig spürte sie aber noch etwas anderes. "Jetzt drück' schon den Knopf", rief Tom aufgeregt. Mandy wusste nicht, was der Elf meinte. "Welcher Knopf denn?" rief sie und spürte, wie die Angst ihre Stimme zum Zittern brachte. Die unheimliche Gestalt näherte sich immer mehr. Mandy glaubte, trotz der Dunkelheit unter der Kapuze zwei Augen zu erkennen, die sie mit einem eiskalten Blick fixierten. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie dieser Blick durchbohren, als wollte diese seltsame Erscheinung direkt in Innerstes sehen, als suche sie etwas… "Der rote Startknopf! Die blöde Hupe, die "Kling, Glöckchen, Klingeling" spielt!" Tom brüllte sie regelrecht an, was bei seiner Stimme natürlich sehr unangenehm war. Mandy entdeckte den Knopf und schlug mit der flachen Hand darauf. Sofort begann der Schlitten zu beschleunigen. "Hey", rief eine düstere, furchteinflößende Stimme, "ich wollte doch noch ein bisschen mit euch plaudern!" Und dann hörte sie nur noch das Rauschen des Fahrtwindes. Und das Gejauchze der Rudolfs. Innerhalb von Sekundenbruchteilen waren sie nach oben gestiegen. Mandy drehte sich vorsichtig um. Hinter und mittlerweile auch ein ganzes Stück unter ihr befand sich das Weihnachtsdorf. Die Gestalt dieses unheimlichen Fremden am dunklen Rand dieses Dorfes war jetzt natürlich nicht mehr zu erkennen, aber sie hatte nach wie vor dieses seltsame Gefühl, von diesen furchtbaren Augen beobachtet zu werden. "Puh, das war knapp", sagte Tom. "Wer war das!" rief Mandy. Sie spürte, dass sie immer noch aufgeregt war und mit dem Weihnachtself viel lauter redete, als es eigentlich notwendig war. "Habe ich doch gesagt: Mein Vorgänger. Knecht Rupprecht." "Und was wollte er von uns?" "Was er gesagt hat. Plaudern." "Du meinst, er wollte nur mit uns reden?" "Nur mit uns reden? Du hast ja keine Ahnung! Du glaubst nicht, was der für ein Langweiler ist. Er war Jahrhunderte mit dem Weihnachtsmann unterwegs. Dauernd erzählt er Geschichten davon, wie es früher war. Wie gut er sich mit dem Boss verstanden hat. Und dass die Kinder damals noch Respekt hatten. Das wird er nicht müde, zu betonen. Ist ja auch kein Wunder, wenn da so ein düsterer Geselle wie der da mit einer Rute in der Hand auftaucht. Gut, dass du noch rechtzeitig auf den Knopf gedrückt hast. Sonst würde er jetzt eine seiner ewig langen Geschichten über den harten Winter im Jahre sechzehnhundertzweiundfünfzig erzählen oder über dieses besondere Weihnachtsgeschenk, dass Zar Iwan, der Schreckliche fünf-zehnhundertsiebenundvierzig erhalten hat." "Du meinst, er hatte nicht vor, uns irgendetwas Schlimmes anzutun?" "Glaub' mir, es gibt kaum etwas Schlimmeres als seine ewig langen Ausführungen über den Verfall der weihnachtlichen Gebräuche." "Ich fand ihn so…unheimlich. Ich hatte den Eindruck, als wolle er direkt in meine Seele blicken. Als suchte er etwas." "Ach", sagte Tom und lachte, "er wollte einfach nur wissen, ob du das Jahr über lieb gewesen bist. Alte Angewohnheit. Aber mach' dir keine Sorgen. Der Boss hat ihn schon vor vielen Jahren in Pension geschickt. Der tut niemanden was. Außer vielleicht mich irgendwann zu Tode langweilen." "Er wurde in Pension geschickt?" "Ja. Der Boss sagt, dass er einfach nicht mehr zeitgemäß ist. Zu düster, zu mittelalterlich. Dann diese Sache mit der Rute. So etwas kommt heutzutage einfach nicht mehr an." Dann fiel Mandy ein, wie sie, trotz ihrer Angst und auch nur für einen kurzen Augenblick, etwas anderes wahrgenommen hatte in diesem unheimlichen Blick von Knecht Rupprecht, etwas, dass gar nicht zu dieser furchterregenden Erscheinung zu passen schien. "Ich glaube", sagte sie, "dass er sehr traurig ist. Er wirkte…einsam." Der Weihnachtself sah sie mir spöttischem Gesichtsausdruck an. "Natürlich ist er einsam. Sein ganzer Lebenszweck hat darin bestanden, kleine Kinder zu erschrecken. Glaubst du, es gibt irgendjemanden, der mit so einem Typen etwas zu tun haben will", sagte er schnippisch. "Aber Menschen können sich ändern." "Knecht Rupprecht ist kein Mensch. Er ist ein magisches Geschöpf. Solche Wesen sind nicht so flexibel wie Menschen. Sie ändern sich nie." Mandy ging davon aus, dass Tom selbst ein magisches Geschöpf war. Vermutlich hatte er mehr Ahnung von solchen Sachen als sie. Andererseits hatte sie diese Traurigkeit deutlich gespürt, auch wenn sie nicht wusste, wie das möglich war. Und warum sollte ein gewissermaßen berufsmäßiger Kindererschrecker ausgerechnet einem Kind etwas über diese Gefühle vermitteln? "Hey", rief Tom und holte sie aus ihren Gedanken, "du hast noch gar nicht gesagt, wo es jetzt hingehen soll." Mandy sah in das erwartungsvolle Gesicht des Elfen. Vor ihr trabten die Rentiere gemächlich durch die Luft und drehten ihre Köpfe zu ihr um. "Ich glaube", sagte sie, "ich will nach hause." Sofort schossen die Rudolfs los. Wieder jagte die Welt mit einer Geschwindigkeit unter ihnen vorbei, so dass alles, Berge Meere und Wälder, zu einem einheitlichen grauen Brei zu verschwimmen schienen. Mandy machte diese irrwitzige Geschwindigkeit weiterhin zu schaffen. Sie spürte, wie der eine oder andere sehr vernünftig wirkende Gedanke versuchte, sich seinen Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen, so zum Beispiel die Überlegung, dass es eigentlich unmöglich war, sich bei dieser immensen Geschwindigkeit und ohne Sicherheitsgurt auf dieser einfachen gepolsterten Holzsitzbank halten zu können. Sie tat natürlich alles, um solche Gedanken mit aller Macht zu verdrängen. Schließlich: Wenn man es schon akzeptiert hat, mit einem von sprechenden Rentieren gezogenen Schlitten durch den Himmel zu reisen, erübrigen sich alle anderen Fragen, die einem mit Logik und Vernunft kommen wollen, im Grunde von ganz alleine. "Hey", rief Tom, "hast du schon genug von unserem Ausflug?" "Na ja", antwortete Mandy, "Es war ja eigentlich ganz lustig, aber es gab dann schon ein paar Sachen, die nicht ganz so waren, wie ich es erwartet hatte. Ich denke, ich sollte nach hause. Außerdem ist der richtige Weihnachtsmann sicher schon fertig mit seinem Abendessen." "Nein, wir haben noch jede Menge Zeit. Das habe ich dir doch erklärt." Er deutete auf den tempus-Anzeiger auf dem Armaturenbrett, der noch fast genau so stand wie zu Beginn ihrer Reise. "Und das Allerwichtigste, das Schönste an der ganzen Sache, hast du ja noch gar nicht ausprobiert." "Und was ist das?" "Das Verteilen der Geschenke! Oder wie ich es gerne nenne: Der Kaminflutscher!" Mandy sah sich den riesigen, von Geschenkpaketen überquellenden Sack an, der hinter ihr stand. "Aber ich habe doch überhaupt keine Ahnung, wie das geht." "Was soll daran denn so schwer sein? Du rutschst durch den Kamin, verteilst die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum und dann geht's wieder nach oben." "Klingt einfach." "Das sag' ich doch." "Nur bin ich vorher noch nie durch einen Kamin gerutscht. Ich meine, was mache ich, wenn da ein Feuer brennt? Oder der Kamin zugemauert ist? Und was mache ich bei den Leuten, die überhaupt keinen Kamin haben?" "Du denkst dir einen." "Was soll das heißen: Du denkst dir einen?" "Hör' mal", erklärte Tom mit geduldiger Stimme, "glaubst du, der Boss hätte Spaß daran, durch verrußte oder qualmende Schornsteine zu rutschen, um dann in irgendeinem fröhlich prasselnden Feuer zu landen? Davon abgesehen, würde er bei seiner Figur sowieso in fast jedem Kamin stecken bleiben. Nein, es ist im Grunde ganz einfach: Du denkst dir einen hübschen, sauberen Kamin aus, der groß genug ist, um bequem hindurch zu rutschen und den benutzt du dann." Mandy sah den Weihnachtself genau an. Sie war sich nicht sicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. Aber Tom sah genauso aus wie immer: Ein ewig grinsendes, ständig zu Streichen aufgelegtes, spitzohriges Kind im Körper einer Märchenfigur aus einem Freizeitpark. "Dir ist schon klar", begann sie vorsichtig, "dass ich ein zwölfjähriges Mädchen bin. Ein einfacher Mensch, kein Zwerg, Elf oder Weihnachtsmann. Bei uns Menschen funktioniert das nicht so, dass man sich irgendwelche Dinge vorstellt und diese dann einfach so Realität werden. Das passiert höchstens in Zeichentrickfilmen." "Ich erkläre es dir", sagte Tom. Er deutete auf das Armaturenbrett, das vor ihnen in sanftem Grün leuchtete. "Es gibt", sagte er, "im Grunde nur eine magische Person, die diese ganzen Knöpfe und Hebel bedienen kann. Nicht einmal ich bin in der Lage, überhaupt nur irgendeinen dieser Knöpfe zu drücken. Nur der Weihnachtsmann selbst kann diesen Schlitten fliegen." "Aber…" wandte Mandy ein. "Normale Menschen dagegen", unterbrach sie der Elf, "haben keine Ahnung, wie die Weihnachtsmagie funktioniert. Für jemanden wie dich ist dieser rote Knopf da einfach nur ein roter Knopf, während er für mich eine gewaltige magische Kraft ausströmt, die es mir unmöglich macht, ihn zu berühren. Du hast ihn berührt! Und damit bist du gewissermaßen automatisch zum Weihnachtsmann geworden. Oder, genauer gesagt, zur Weihnachtsmandy." Tom kicherte wegen seinem seiner Ansicht nach überaus gelungenen Wortspiel. "Und jetzt kannst du natürlich auch all diese magischen Sachen, die der Boss kann" bemerkte er abschließend. Mandy blickte nach unten. Das Gespann hatte inzwischen wieder ihre Heimatstadt erreicht und kreiste wie ein sechsspänniger Bussard mit Kufen und Glöckchen in niedriger Höhe über die Häuserdächer. Von hier oben sah alles wunderbar aus, der alles bedeckende, weiche und glitzernde Schnee, die bunten Lichterketten überall, diese völlige Ruhe. Tatsächlich bewegte sich wirklich niemand in den Strassen der Stadt, keine Menschen huschten durch die Dunkelheit, nirgends fuhr ein Auto. Das war allerdings - selbst für Heiligabend - merkwürdig. Andererseits war es Mandy ganz recht. Sie war sich nicht sicher, aber vermutlich würde sie es als peinlich empfinden, wenn sie jetzt zum Beispiel vom Dirigenten ihrer Jugendblaskapelle hier oben entdecken werden würde oder - noch schlimmer - von irgendeinem ihrer Mitschüler. Sie konnte sich gut die blöden Witze vorstellen, die sie sich dann nach den Ferien würde anhören müssen. "Okay", sagte sie zu Tom, "dann lass' uns Geschenke verteilen." Der Weihnachtself stieg nach hinten, kletterte den großen Geschenkesack hinauf und sprang hinein, als sei er eine Art Paket-Schwimmbecken. Danach waren für eine Weile Geräusche zu hören, wie sie eine mit Stoffturnschuhen gefüllte Waschmaschine im Schleudergang macht. Ein- oder zweimal beulte sich der Sack seitlich in der kartoffeligen Form eines Elfenkopfes aus. Hin und wieder flog ein Paket aus dem Sack heraus in die Höhe und landete dann wieder darin, dann erschien zunächst Toms Kopf über dem Rand und anschließend seine großen langfingrigen Hände, in denen er mit erstaunlicher Geschicklichkeit gleich mehrere Pakete festhielt. "Familie Müllerschön" rief er, "Zwei Eltern, ein dreijähriger Sohn Kevin, eine zehnjährige Tochter Gwenifer. Genau das richtige für den Anfang." "Also fliegen wir dahin", sagte Mandy. Sofort starteten die Rentiere in Richtung der Müllerschöns, wobei sie ihr übliches Gejauchze ausstießen, das Mandy an die nervigen alten Western erinnerte, die ihr Vater so liebte und bei denen irgendwelche Cowboys mit Siedlern nach Westen oder mit Rinderherden nach Osten aufbrachen. Sie landeten - nur einen winzigen Augenblick später - auf dem Dach eines kleinen Einfamilienhäuschens. Es war eine weitere jener Merkwürdigkeiten, die genauer zu erfragen sich Mandy schon fast nicht mehr traute, dass dieser große Weihnachtsmannschlitten fest, gerade und ohne auch nur eine Spur zu wackeln auf der Kante des steil zulaufenden Dachgiebels des Müllerschön´schen Anwesens zu Stehen kam. Mandy sah hinunter. Sie entdeckte einen Schornstein, der über das schneebedeckte Dach des Hauses hinausragte. Er war aus rotem Backstein gemauert, ein kleines Wölkchen aus weißem Rauch, der den würzigen Geruch von gut gelagertem Buchenholz in sich trug, stieg aus ihm heraus. Der Schornstein hatte eine leicht konische Form und lief nach oben hin so schmal zu, dass vermutlich sogar der kleine und zierliche Tom letztlich mit seiner fleischigen Nase darin hängen bleiben würde, würde er den Versuch wagen, über den Kamin in dieses Haus zu kommen. Es war klar, dass ein wohlbeleibter Weihnachtsmann mit einer solchen Methode, die ja eigentlich der traditionellen Vorstellung der Menschen entsprach, nicht sehr weit kommen würde. Mandy sah den Weihnachtself ratlos an. "Und was muss ich jetzt tun", fragte sie. "Stell' dir einen Kamin vor", antwortete Tom. Auch wenn sie ihre Zweifel hatte, versuchte sie, den Anweisungen des Elfs zu folgen. Da sie sich - soweit sie sich erinnern konnte - in ihrem Leben noch nie Gedanken darüber gemacht hatte, wie ein korrekter, zum "Kaminflutschen" geeigneter, Schornstein auszusehen hatte, nahm sie sich den zum Vorbild, der sowieso schon auf dem Dach der Müllerschöns stand. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Zuerst stellte sie sich rote Backsteine vor. Es waren einfache Ziegel, alle in dem gleichen Farbton und der gleichen Form, sie wollte ihre Fantasie erst einmal nicht überstrapazieren. Sie begann, diese Steine übereinander zu mauern, dazwischen imaginierte sie schmale Streifen hellgrauer Mörtelmasse. Sie ließ daraus vorsichtig eine kleine Mauer wachsen. Dann ließ sie diese Mauer eine Weile vor ihrem geistigen Auge stehen, sah sie sich genau an und fand, dass sie mit ihrer Vorstellungskraft durchaus zufrieden sein konnte. Anschließend ließ sie die Mauer noch ein bisschen in die Höhe wachsen, stellte sich drei weitere Mauern von der gleichen Größe vor und fügte das alles dann zuletzt zusammen. Es sah aus wie ein langer Schornstein oder zumindest wie etwas, was Mandys Vorstellung eines langen Schornsteins entsprach. Sie öffnete die Augen. Für einen Augenblick war sie so überrascht, dass sie leise aufschrie. Ihr Schornstein, dieses Gebilde, das nur ihrer Vorstellungskraft entstammte, stand direkt vor ihr! Er war Realität geworden! Natürlich musste Mandy feststellen, dass er einem richtigen Schornstein kaum ähnlich sah, das Rot der Ziegel war zu grell und zu eintönig, die Mörtelstreifen zu gerade, es gab keine Schattierungen. Im Grunde wirkte er eher wie eine schlecht gezeichnete Comicversion eines Schornsteins, die sich versehentlich in die Wirklichkeit verirrt hatte. Er war erstaunlich groß geworden. Die obere Öffnung befand sich direkt vor Mandy, während sich die Backsteinmauern nach unten hin ganz einfach durch das Dach des Hauses bohrte, als sei es gar nicht vorhanden. Aus für sie unerklärlichen und merkwürdigen Gründen wusste sie, dass das untere Ende des Kamins direkt zum Weihnachtsbaum der Müllerschöns führte. Mittlerweile war Tom aus dem großen Geschenkesack hinausgeklettert und hatte sich wieder zu Mandy auf die Sitzbank gesellt. Er betrachtete ihren Schornstein mit einem Kennerblick, was bedeutete, dass er seinen Kopf zur Seite legte und seine ohnehin schon schmalen Augen zu winzigen Schlitzen verengte. Aber trotz aller Ernsthaftigkeit, die er sich bemühte auszustrahlen, erinnerte er Mandy in dem Augenblick doch eher an einen neugierigen kleinen Dackel als an einen anerkannten Fachmann für ausgedachte Gebäudeteile. "Na ja", begann er, wobei die Vokale nachdenklich in die Länge zog, "für den Anfang mal nicht schlecht. Natürlich kein Vergleich zu den Produkten des Bosses, seinen ausladenden viktorianischen Herrenhauskaminen oder seinen verspielten barocken Marmortürmchen, aber für eine Anfängerin…" "Ja, ja", unterbrach Mandy ungeduldig, "aber wie geht es jetzt weiter?" Der Weihnachtself bückte sich und zog einen braunen Sack, gewissermaßen die handlichere Version des großen Geschenkesacks im hinteren Teil des Schlittens, unter der Sitzbank hervor. Er steckte die Geschenkpakete der Müllerschöns hinein, dann reichte er den Sack an Mandy weiter. "Gut Flutsch", sagte er und deutete in die Öffnung des Schornsteins. Mandy schaute in die Öffnung hinein. Als ob sie durch eine Art magisches Fernrohr blickte, konnte sie direkt in ein Zimmer hineinsehen. Von hier oben konnte sie allerdings nur einen hellgrauen Teppichboden erkennen - was sie im Hinblick dessen, was sie jetzt vorhatte, als zumindest etwas Ermutigender empfand als zum Beispiel ein Boden aus Steinfliesen. Am Rande des Ausschnittes, der ihr der Blick durch den Kamin bot, entdeckte sie etwas sehr kleines, was sie dann allerdings bei genauerer Betrachtung als die achtlos auf den Boden geworfene Hülle einer Weihnachts-CD erkennen konnte. Die Hülle erschien ihr sehr klein. Eigentlich viel zu klein. Da Mandy davon ausgehen konnte, dass diese CD-Hülle Normalgröße hatte, konnte das nur bedeuten, dass der Fußboden des Zimmers, das sie betrachtete, sehr weit weg war. "Da geht's ganz schön weit 'runter", sagte sie. "Du musst dir keine Sorgen machen", warf Tom ein "das ist wie die Wasserrutsche in einem Hallenbad. Es macht Spaß." Mandy blickte weiter mit leichtem Misstrauen in die Tiefe. "Hör mal", fuhr der Elf fort und lächelte sie mit dem unschuldigendsten Gesichtsausdruck, zu dem je ein Elf überhaupt fähig ist, an, "du kannst mir wirklich vertrauen. Oder habe ich dich etwa schon jemals belogen?" Für einen Augenblick war Mandy wie verzaubert von diesem Lächeln. Tom wirkte so naiv und rein wie ein neugeborenes Kind. Dann fiel ihr die Hupe, die "Kling, Glöckchen, Klingeling" spielt, ein. "He", rief sie verärgert, "natürlich hast du mich schon belogen! Wenn du mich nicht angelogen hättest, säße ich überhaupt nicht hier!" "Na gut", räumte Tom ein, "aber ansonsten habe ich dir immer die Wahrheit gesagt. Und das mit der Hupe habe ich doch nur gesagt, damit du den Schlitten startest und das größte Abenteuer deines Lebens hast. Ich wollte nur einem kleinen Mädchen ein Chance bieten, etwas zu erleben, was es in seinem ganzen Leben zuvor noch nie erfahren hatte und wohl auch nie wieder erfahren wird." "So, und das war der einzige Grund?" "Na ja, du kannst dir nicht vorstellen, wie langweilig es für einen Elfen ist, irgendwo in einer Seitenstraße auf einem Schlitten herumzuhängen und darauf zu warten, dass der große Boss seine sechzehn Knödel und anschließend seine Riesenportion Karamellpudding verdrückt hat. Außerdem hat er selbst vergessen, den kleinen Knopf zu drücken, der den Schlitten für die Zeit seines ausführlichen Dinners unsichtbar gemacht hätte." "Ein Unsichtbarkeitsknopf? Davon hast du mir gar nichts erzählt." "Ach, das hätte alles nur unnötig kompliziert." Mandy hatte nicht den Eindruck, dass die Dinge auch ohne diese kleine Information erheblich weniger kompliziert gewesen wären. Sie starrte nach wie vor durch den Kamin in die Tiefe des Müllerschön'schen Wohnzimmers. "Wie die Wasserrutsche in einem Hallenbad, sagst du?" "Klar" sagte Tom und grinste. "Was soll's", rief Mandy. Sie ließ sich in den Schornstein hineingleiten. Sofort zog sie die Schwerkraft in die einzige Richtung, die sie kannte. Es war allerdings nicht der Sturz, den sie befürchtet hatte, sondern ein sanftes Schlittern und obwohl sie die Wände ihres Schornsteins mit keinem Körperteil berührte, hatte sie das Gefühl, als ob sie etwas Glattes und gleichzeitig Weiches umgab, das dafür sorgte, dass ihr "Kaminflutsch" schnell genug war, um Spaß zu machen und nicht zu schnell, um zu verhindern, dass sich ein zwölfjähriges Mädchen auf dem Boden des Wohnzimmers der Familie Müllerschön sämtliche Knochen brach. Diese kurze Reise empfand Mandy als so angenehm, dass ihr erst, als sie schon fast unten war, eine Sache einfiel, die sie sofort aus ihrer Begeisterung für das Kaminflutschen herausriss. "He!", rief sie nach oben, wo nur der kleiner werdende Ausschnitt des nächtlichen Sternenhimmels zu erkennen war, "Wie komme ich denn wieder nach oben!" Leise, wie von großer Ferne, ertönte eine quäkende Stimme. "Genau so, wie du 'runter gekommen bist!" Und dann stand Mandy auf dem grauen Teppich. Eine Handbreit über ihr endete das untere Ende ihres Kamins. Ansonsten sah es aus wie in einem normalen Wohnzimmer. Einem normalen Wohnzimmer am Heiligen Abend natürlich. Sie sah eine Couch und einen Wohnzimmertisch, auf dem Schalen mit Weihnachtsgebäck standen. Gegenüber der Couch befand sich ein Fernseher, auf dem in Schwarzweiß das Standbild eines traurig dreinblickenden Schauspielers aus irgendeinem uralten Kitschfilm zu sehen war. Auf dem Fernseher sah sie eine Weihnachtsmannfigur aus Plastik. An einem großen Fenster hing eine Lichterkette. In der Ecke war ein bunt behängter Weihnachtsbaum. Dann entdeckte sie den Fernsehsessel, der neben der Couch stand. Mandy erschrak! Ein Fernsehsessel war im Grunde ja nichts ungewöhnliches, aber was sie zusammenzucken ließ, war der Mann, der in dem Sessel saß. Es war ein ungefähr vierzigjähriger Mann, er trug ein blaues Hemd, einen Pullunder mit Rentiermuster, Jeans und Hausschuhe. In der rechten Hand balancierte er lässig ein Glas Bier. Und er starrte sie an! Mandy blieb regungslos stehen. Natürlich war das wieder etwas, was ihr der Elf nicht erzählt hatte: Was geschah, wenn sie beim Geschenkeverteilen erwischt werden würde? Es war doch klar, dass man sie für eine Einbrecherin halten würde, ein halbwüchsiges Mädchen, das ausgerechnet an Heiligabend loszog, um den Leuten ihre Geschenke zu stehlen, ein zutiefst verdorbenes Subjekt. Dann fiel ihr auf, dass der Mann keine Anstalt machte, etwas anderes zu tun, als in seinem Sessel zu sitzen und sie anzustarren. Er unterließ sogar das Blinzeln. Er wirkte fast selbst wie das Standbild im Fernseher. Mandy drehte sich vorsichtig um. Hinter ihr war derselbe Schauspieler in derselben Haltung und mit demselben traurigen Gesichtsausdruck zu sehen. Mandy drehte sich nochmals um. Der Mann saß in seinem Sessel mit seinem Bier und bewegte sich nicht. Langsam wurde es ihr klar. Sie stand genau zwischen dem Sessel und dem Fernseher. Der Mann starrte nicht sie an, sondern einen alten Hollywoodschinken. Und er war völlig bewegungslos, fast, als ob er in einem einzigen Augenblick festgefroren wäre. Das musste mit dieser Sache mit der im Universum zusammengeklaubten Zeit zu tun haben, von der ihr Tom erzählt hatte. Vorsichtig bewegte sie sich aus dem Blickfeld des Mannes, der nichtsdestotrotz weiterhin auf den Bildschirm starrte. Herr Müllerschön hatte wohl dieselbe merkwürdige Vorliebe für alte Schwarzweißfilme wie sie wohl alle Väter hatten, Mandys Vater eingeschlossen. Sie packte den Sack aus und verteilte die Geschenke gleichmäßig unter dem Baum. Dann ging sie zurück in eine Position direkt unter dem Kamin und…sprang. Der Rückweg war genau so wie der Weg nach unten, nur dass die Erfahrung, über eine schöne Rutschbahn nach oben zu rutschen, noch etwas ungewöhnlicher und kribbelnder war. Sie landete direkt auf der Sitzbank des Schlittens. Im selben Augenblick verschwand der Kamin, als hätte es ihn nie gegeben. Tom sah sie erwartungsvoll grinsend an "Und wie war's?" Mandy war hellauf begeistert. "Fantastisch!" rief sie, "einfach toll! Worauf warten wir noch? Ich will noch ein paar Geschenke verteilen!" Sie hatte wirklich Spaß gefunden an dieser Sache. Sie begannen, kreuz und quer durch die Stadt zu fliegen und Pakete zu verteilen. Mandy dachte sich immer schönere Schornsteine aus, begann mit der Form zu spielen und mit den Farben der Steine. Sie entwarf weiße Kamine mit schwarzem Mörtel oder knallbunte runde Kamine, dann dachte sie sich Schornsteine aus Legosteinen aus oder welche aus Holzklötzen. Das Kaminflutschen machte jedes Mal einen Riesenspaß. Irgendwann hatte sie sogar den Einfall, ein Looping in ihren Schornstein hinein zu bauen, so dass es fast wie auf einer Achterbahn war. Und es war jedes Mal spannend, wie es in den Wohnzimmern der Menschen aussah und ob sie jemanden der regungslosen Bewohner antraf. Einmal flutschte sie in die Wohnung von Benjamin Hartriegel, einem der größten Ekel in ihrer Klasse. Benny lag auf dem Fußboden vor einem Großbildfernseher und machte irgendein blutrünstiges Videospiel, während seine Mutter daneben stand und ihn voller Stolz betrachtete. Mandy war sich eigentlich ziemlich sicher, dass das nicht das Verhalten war, das man von einem Vertreter des Weihnachtsmannes erwartete, aber es war einfach zu verführerisch, ihm das Netzkabel aus seiner Spielekonsole zu ziehen. Sie musste dann aber feststellen, dass sie das nicht konnte. Der Stecker saß bombenfest und nach einigen Versuchen musste sie feststellen, dass sie nicht einmal in der Lage war, das Kabel überhaupt nur zu bewegen. Vermutlich war sie nur in der Lage, irgendwelche Weihnachtsmannsachen zu machen. Sie unterließ es, in anderen Wohnungen irgendetwas anderes tun zu wollen als einfach nur Geschenke unter den Baum zu legen. Trotzdem hatte sie riesigen Spaß. Sie hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Auf der anderen Seite versicherte ihr Tom auch immerzu, dass sie sowieso jede Zeit der Welt, ja sogar des Weltalls hatte. Irgendwann, sie wusste schon nicht mehr, in wie viel dutzend Wohnungen sie gewesen war, saß sie auf der Sitzbank des Schlittens auf dem Dach eines großen Mehrfamilienhauses und ruhte sich ein wenig aus. Sich ständig Kamine vorstellen zu müssen, war anstrengender, als es sich anhörte. Sie sah sich den großen Geschenkesack an, der wider alle Logik noch genauso randvoll war wie zu dem Zeitpunkt, als sie den Schlitten das erste Mal in dieser Seitenstraße entdeckt hatte. Tom thronte auf der Spitze des Sacks auf einem sehr großen Paket und strahlte. "Sag mal", fragte sie, "woher weißt du eigentlich, welches Paket für wen ist?" "Ich erkenne es an den Stempeln", antwortete er. "Du meinst diese unsichtbaren Stempel der Zwerge?" "Für mich sind sie nicht unsichtbar. Jeder Stempel teilt mir genau mit, was das Paket beinhaltet, und er sagt mir, wer es bekommt und wo derjenige wohnt." "Wie meinst du das: Der Stempel sagt es dir?" "Er redet mit mir. Da die Stempel aber unsichtbar sind, sind natürlich auch ihre Stimmen nicht zu hören. Außer natürlich für so hochmagische Wesen wie einem Elfen." "Und je nach dem, was dir der Stempel sagt, reichst du mir diese Pakete?" "Ja", antwortete Tom zögernd, fügte dann deutlich leiser hinzu: "Meistens zumindest." "Meistens? Was soll das heißen: Meistens?!" Mandy sah Tom wütend und gleichzeitig erschreckt an. Der Elf zog seine Schultern nach oben und verzog sein Kartoffelgesicht zu einem fröhlichen Lächeln. Er wirkte wie ein allerdings sehr hässlicher Fünfjähriger, der gerade etwas Limonade auf die Auslegeware verschüttet hatte und nun auf einen sanften Tadel wartete. "Na, wir sind doch hier, um Spaß zu haben", antwortete er, "jetzt stell dir doch mal vor, wie lustig es ist, wenn die fünfzehnjährige Grit eine Benjamin-Blümchen-CD bekommt, während der fünfjährige Kevin mit dem Set "Mein erster Schminkkoffer" seinen Spaß hat, oder wenn die dreijährige Leonie ihre erste eigene Schlagbohrmaschine…" "Soll das heißen", unterbrach ihn Mandy, "dass du Geschenke einfach vertauscht hast?!" "Na ja, ein paar." "Wie viel?" "Keine Ahnung. Ich bin nur ein Elf. Glaubst du etwa, ich habe eine Schule besucht, in der man Zählen lernt. Es war aber ganz sicher weniger als die Hälfte. Glaube ich. Bei den Krawatten allerdings war ich etwas großzügiger. Wer will schon eine Krawatte zu Weihnachten?" Trotz der winterlichen Kälte musste Mandy feststellen, dass sie schweißnasse Hände bekam. "Weißt du wenigstens noch, in welchen Wohnungen und Häusern diese vertauschten Pakete sind. Wir könnten dann zurückfliegen und…" "Also", unterbrach sie Tom, "ohne die Stempel der Zwerge kann ich da, glaube ich, nichts machen." "Könnten wir zurück zum Nordpol fliegen und anhand dieser Listen, die Klimbim macht, herausfinden, wo die falschen Geschenke sind?" "Oh ja, Klimbim und seine Listen. Er hat ein riesiges Büro voller Ordner, das so viel Platz braucht, das der Boss sogar ein paar Extra-Dimensionen einbauen musste, um alles unterbringen zu können. Man hat dort oben leider noch nichts von Computern gehört. Also, selbst wenn es Klimbim gelingen würde, die entsprechenden Listen in einer angemessenen Zeit zu finden: Bist du mit der altsvalbardischen Runenschrift vertraut?" "Ich weiß nicht einmal, was altsvalbardische Runenschrift ist." "Außerdem", fügte er hinzu und deutete auf die tempus-Anzeige, "nimmt die Zeit allmählich ab. Einen Abstecher an den Nordpol können wir uns gar nicht leisten." Mandy starrte auf das Armaturenbrett. Sie stellte fest, dass der Zeiger, der doch die ganze Zeit über so zuverlässig neben dem obersten Strich auf dem Schauglas gehangen hatte, mittlerweile auf Dreiviertel abgerutscht war. "Na, da ist doch noch jede Menge Zeit übrig", versuchte sie sich in Optimismus. "Nicht, wenn man bedenkt, dass wir noch den Rest der Stadt und außerdem auch noch den ganzen nordamerikanischen Kontinent mit Geschenken beliefern müssen. Und glaub mir: Das ist der größte Brocken von allen." Mandy war der Verzweiflung nahe. Sie fühlte sich dafür verantwortlich, dass unzählige Kinder am Heiligen Abend enttäuscht werden würden, weil sie statt dem, was sie sich inniglich gewünscht hatten, Schlagbohrmaschinen und Krawatten erhielten. Natürlich war es Tom gewesen, der die Geschenke vertauscht hatte, aber er hatte schließlich oft genug darauf hingewiesen, dass man sich auf ihn nicht verlassen konnte. Erstmals in dieser Nacht spürte Mandy, wie sie mit den Tränen kämpfen musste. Tom sah sie verständnislos an. "He, was hast du?", sagte er, "das ist doch lustig. Ich dachte, du hättest Sinn für Humor." "Ich weiß nicht, ob ich den richtigen Sinn für Humor habe", gab Mandy wütend zurück, "aber kleine Kinder, die irgendwelches Erwachsenenzeugs geschenkt bekommen, haben sicher keinen Sinn für deinen Humor." Sie schluckte ihre Wut und ihre Enttäuschung hinunter. "Also gut", sagte sie, "dann fliegen wir jetzt von Haus zu Haus, holen alle Geschenke wieder heraus und verteilen sie dann anschließend richtig. Und wenn du mir dann nur ein falsches Paket gibst, werde ich mir die schlimmste Bestrafung einfallen lassen, die je ein Elf erdulden musste!" Tom wurde kreidebleich. "Du willst mich nach Trallallaland verbannen?" "Genau!" sagte Mandy. Sie hatte natürlich keine Ahnung, wo Trallallaland lag, noch wie sie Tom dahin verbannen konnte, außerdem hörte sich Trallallaland auch nicht gerade wie der schreckliche und furchterregende Ort an, vor dem man in Ehrfurcht erstarrte, aber wenn die Drohung dabei half, dass der Elf die Pakete richtig sortierte, war es ihr nur recht, wenn er zumindest ein kleines bisschen Angst hatte. "Das können wir natürlich machen", sagte Tom kleinlaut, "aber es wird trotzdem von der Zeit her nicht langen. Du darfst nicht vergessen: Der ganze nordamerikanische Kontinent!" "Ich könnte ja zum Beispiel auf mein Geschenk verzichten…" "Eine kleine Schneeflocke in dem gewaltigen Eismeer eines fast grenzenlosen Weihnachtsabends." "Dann sind wir aufgeschmissen." Mandy machte sich Vorwürfe. Wie hatte auch ausgerechnet sie, ein zwölfjähriges Mädchen, das auf der Klarinette nicht einmal fehlerfrei "Ihr Kinderlein kommet" spielen konnte, glauben können, dass sie in der Lage wäre, die ganze Arbeit des Weihnachtsmannes zu erledigen. Wenn sie sich alleine schon überlegte, wie schwer ihr die Hausaufgaben oft fielen… Ein langer, schriller Pfiff ertönte. Mandy wusste nicht, von wo dieser Pfiff kam, aber es war ihr auf der Stelle klar, dass dieses Geräusch so durchdringend war, dass sie es vermutlich auch noch auf dem Nordpol gehört hätte. Sie bemerkte, wie die Rentiere augenblicklich ihre Ohren spitzten und sich auf der Stelle auf den Weg machten. Sie sah Tom an, der sich seltsamerweise zu bemühen schien, noch kleiner zu werden und mit einer Ecke der Sitzbank zu verschmelzen. Mandy hatte keine Ahnung, wo sie hinflogen, hoffte aber, dass jetzt nicht der nordamerikanische Kontinent das Ziel war. Sie hatte im Augenblick - trotz allem Spaß, den sie dabei gehabt hatte - gründlich die Nase voll vom Weihnachtsmannspielen. Aber der Flug war nur kurz. Die Rentiere zogen eine elegante Schleife und landeten auf genau der Straße, von der aus ihre Reise begonnen hatte. Im Grunde war alles dort ganz genau so wie zu dem Zeitpunkt, als sie den roten Knopf gedrückt hatte. Nach wie vor zogen kleine Wölkchen in Fetzen am Mond vorbei und entließen noch einige winzige Schneeflocken, die ziellos um sie herum wirbelten, die ersten Sterne leuchteten funkelnd am Nachthimmel und eine geschlossene weiche Schneedecke sorgte dafür, dass der alltägliche Lärm der Welt ein wenig gedämpft und jegliche Geräusche so sanft wie das Schnurren einer jungen Katze waren. Der einzige, aber gravierende Unterschied zu vorher bestand aus diesem großen und sehr dicken Mann mit fellgefütterter Zipfelmütze, rotem Wintermantel und Bratensoßenflecken in seinem wallenden Bart, der direkt vor den fröhlich plappernden Rentieren stand und seine behandschuhten Hände in die Hüften gestemmt hatte. Das war - und nicht zuletzt ein leise und ehrfürchtig gehauchtes "Der Boss" aus der Ecke, in der sich Tom immer mehr verkroch, bewies das - eindeutig der Weihnachtsmann. Eine Stimme ertönte, tief und grollend wie ein unruhiger Vulkan. "Ho, ho, ho!", sagte diese Stimme. Was auch sonst? Mandy erschrak zunächst, spürte aber trotz dieses tiefen Donnergrollens auch eine Freundlichkeit und eine Vertrautheit in der Stimme des Weihnachtsmannes, die ihr zunächst sehr merkwürdig vorkam. Ihr wurde sofort klar, dass sie diese Stimme schon mehr als einmal gehört hatte. Es war irgendwo tief in ihrem Gedächtnis vergraben und aus irgendwelchen Gründen wusste sie, dass sie diese Erinnerung vermutlich in ein bis zwei Jahren völlig vergessen hätte. "Mandy Kulka", sagte der Weihnachtsmann, als seien sie alte Bekannte, "versucht sich also selbst als Weihnachtsmann." "Ich…", stammelte Mandy, "ich bin da so 'reingerutscht." "Das kann ich mir denken" gab der Weihnachtsmann zurück. Er war an das vorderste Rentier, demjenigen der Rudolfs, der eine rote Nase hatte, herangetreten. Und während er mit der einen Hand den Nacken des Zugtieres kraulte, was dieses mit einem wohligen Brummen goutierte, hatte er in der anderen einen Zahnstocher, mit dem er lässig in dem Bereich, der zwischen seinem gewaltigen Schnauzer und seinem wallenden Kinnbart lag und wo sich demzufolge sein Mund befinden musste, nach etwaigen Bratenresten durchsuchte. "Wo ist denn unser guter Tom, der alte Tunichtgut", fuhr der Weihnachtsmann fort. Der Elf, der immer noch mit dem Versuch beschäftigt war, ein Teil des Schlittenmobiliars zu werden, antwortete mit einem leisen, ängstlichen "Hier." "Komm heraus!" sagte der Weihnachtsmann, wobei das Grollen in seiner Stimme ein klein wenig intensiver und unfreundlicher wurde, so, als würde sich der Vulkan doch überlegen, eventuell in den nächsten Minuten auszubrechen. Der Elf stand mit betretener Miene auf, stieg aus den Schlitten und ging zu seinem Boss und blieb dort mit reuevoll gesenktem Kopf stehen. Es war tatsächlich ein wahrlich mitleiderregendes Bild, wie dieser kleine, zierliche, kartoffelköpfige Elf vor seinem riesigen, jede Konfektionsgröße hohnlachenden Boss stand. Mandy war sich sicher, dass die Kamine, die sich der Weihnachtsmann selbst ausdenken musste, die Ausmaße von gewaltigen Industrieschornsteinen haben mussten. "Was ist geschehen?" fragte er. "Nun, zuerst habt Ihr vergessen, den Unsichtbarkeitsknopf zu drücken", antwortete Tom, "und der Rest ergab sich dann gewissermaßen von ganz alleine." "Aha", gab der Vulkan zurück, "dass heißt wohl, du bist da auch so 'reingerutscht?" "Wenn Ihr es so sehen wollt, Meister." "Tom, mein Freund", sagte der Weihnachtsmann so zuckersüß, wie es bei dieser Stimme überhaupt möglich war, "ich glaube, dass sich die Bewohner des Trallallalandes sehr über deine Rückkehr freuen würden." Der Elf wurde unruhig, begann von einem Bein auf das andere zu hüpfen. "Äh, na ja", begann er zögernd, "vielleicht habe ich den einen oder anderen Hinweis gegeben, um die Sache ein bisschen in Schwung zu bringen. Ich meine: Wenn das Mädchen unbedingt mit dem Schlitten fliegen will und Geschenke verteilen will…" Der Weihnachtsmann sah Mandy direkt an. Trotz seiner Größe und dem offensichtlichen Ärger, den sie ihm bereitet hatte, war irgendwo inmitten seines gewaltigen Bartes ein sanftes Lächeln erkennbar, während er sie freundlich aus milden grünen Großvateraugen ansah. "Spricht der Elf die Wahrheit?" fragte er Mandy. "Äh, gut, gut", warf Tom hektisch ein, "so richtig gewollt hat das Mädchen anfangs nicht. Ein kleines bisschen habe ich, glaube ich, schon nachgeholfen. Und von dem kleinen Streich mit den vertauschten Geschenken hat sie natürlich auch nichts gewusst, bis ich es ihr gesagt habe." "Du hast Geschenke vertauscht?" Das Grollen stieg wieder leicht an. "Nur ein paar…", gab Tom kleinlaut zurück. "Hmm", sagte der Weihnachtsmann nachdenklich, was sich in Ungefähr so anhörte, als würde ein vollgeladener Sattelschlepper in einer Nebenstrasse vorbei fahren, "Geschenke vertauschen. Du könntest dir mal etwas Neues einfallen lassen." "Darf ich das als Aufforderung betrachten?", gab der Elf mit deutlich mehr Mut in der Stimme zurück. "Man vermisst dich nach wie vor im Trallallaland", antwortete der Weihnachtsmann trocken. Danach wandte er sich an Mandy. Er stapfte durch den Neuschnee auf sie zu. Erstaunlicherweise hinterließ er keine Fußabdrücke. "Dir ist vermutlich schon klar", sagte er, als er neben ihr stand, "dass das Stehlen des Schlittens des Weihnachtsmannes ein Verhalten ist, das man nicht gerade als korrekt einstufen kann?" "Ja, Herr Weihnachtsmann", antwortete Mandy, "ich hatte es ja auch nicht vor. Aber als wir dann mit den Schlitten unterwegs waren, machte es so einen Spaß." "Das will ich hoffen", sagte der Weihnachtsmann lächelnd, "und da ich meinen Elfen nur zu gut kenne, weiß ich auch, dass du den Schlitten nicht in böser Absicht genommen hast. Und ich weiß genau, dass Tom diese Geschichte solange verdrehen wird, dass ich irgendwann einmal selbst der Ansicht bin, dass einzig und allein ich schuld daran war, weil ich vergessen habe, den Unsichtbarkeitsknopf zu drücken." "Aber", fuhr er fort und blickte mit träumerischem Blick in den Himmel, "wenn ich weiß, dass eine schöne große Portion von wunderbaren Böhmischen Knödeln auf mich wartet, kann ich manchmal möglicherweise etwas unkonzentriert und unachtsam sein. Weswegen man aber auch Gehilfen hat, die einem darauf hinweisen können." Während des letzten Satzes blickte er in die Richtung von Tom, bei dem bereits wieder seine alte lässige Körperhaltung und sein Grinsen zurückgekehrt waren. "Wenn ich jetzt aber bitten dürfte." Erst jetzt wurde Mandy klar, dass sie nach wie vor im Schlitten auf dem Platz saß, der rechtmäßig dem Weihnachtsmann zustand. "Oh, Entschuldigung", sagte sie und stieg aus. Der Weihnachtsmann setzte sich in den Schlitten. Er füllte die Sitzbank zu einem so großen Teil aus, dass neben ihm wirklich nur ein Wesen von der Größe eines Weihnachtselfen Platz finden konnte. "Ich würde gerne noch ein wenig mit dir plaudern", sagte der Weihnachtsmann, an Mandy gewandt, "aber gewisse Umstände machen es nötig, dass wir uns ein wenig beeilen." "Tom hat gesagt, die Zeit würde sowieso nicht mehr reichen. Also, wenn es was hilft, würde ich gerne auf mein Geschenk verzichten." "Nun", sagte der Weihnachtsmann, "als erstes werde ich frische Zeit besorgen. Keine Sorge: Das Universum ist riesig und Zeit ist eines der Dinge die es dort wirklich im Überfluss gibt. Und was dein Geschenk angeht…" Wie aus dem Nichts erschien in seiner Hand ein mittelgroßes, in grünem Papier eingeschlagenes und mit goldenem Band umwickeltes Paket. Mandy war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, als würde dieses Paket ein oder zwei Sekunden von winzigen silbernen Funken umschwirrt werden, die es umflatterten wie Glühwürmchen eine Kerze und die sich nur einen Augenblick später im Nichts auflösten. "Frohe Weihnachten", sagte der Weihnachtsmann und übergab ihr das Paket. "Du brauchst dir wirklich keine Sorgen machen", setzte er hinzu, "seit ich im Geschäft bin, gab es noch kein Weihnachten, an dem nicht jeder - und zwar wirklich jeder - das Geschenk erhalten hat, das ihm zustand." "Das heißt, ich bekomme…?" "Einen Notenständer für deine Klarinette, ganz genau." Der Weihnachtsmann zwinkerte Mandy zu, drückte auf den roten Knopf und verschwand von einem Augenblick auf den nächsten.
Mandy stand in der kleinen Seitenstrasse und nichts, keine Fußspuren, keine Kufenabdrücke, kein Rentierkot, wiesen darauf hin, dass hier soeben der echte Schlitten des echten Weihnachtsmannes gestanden hatte. Irgendwo, so fünfzig Meter entfernt schloss der Wirt des "Olmützer Hofes" den Eingang seiner Gaststätte ab und verriegelte die Fenster. Mandy wurde klar, dass gerade ein paar Minuten vergangen waren, seit sie diese Strasse betreten hatte. Irgendetwas ist in diesen Minuten geschehen. Sie versuchte herauszufinden, was es war. Seltsame Erinnerungen tauchten auf, von Zwergen und Elfen, von sprechenden Rentieren und einem traurigen alten Mann, aber jedes Mal, wenn sie versuchte, eine der Erinnerungen festzuhalten, verschwand sie wie das Spiegelbild, das man auf der Oberfläche eines Teich zu greifen versucht. Einzig eine Stimme, grollend wie entferntes Gewitter, aber gleichzeitig sanft und freundlich, blieb ein wenig länger haften. Da habe ich aber wieder ordentlich taggeträumt, tadelte sie sich. Dann entdeckte sie das Paket, dass sie in der Hand hatte. Seltsamerweise wusste sie sofort, dass das ihr Weihnachtsgeschenk war und sie wusste auch, dass es nicht die ersehnte Playstation war, sondern ein Notenständer für ihre Klarinette. Aber aus irgendwelchen Gründen machte ihr das überhaupt nichts aus, sie freute sich sogar über ihr Geschenk. Und dann kam ihr ein weiterer merkwürdiger Gedanke, den sie laut aussprach. "Hauptsache, es ist keine Krawatte."
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