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Der Flamencorock© Martina Bethe-HartwigTabea betrachtete sich im Spiegel. Der Spiegel war groß. Er nahm eine der drei Türen ihres Kleiderschrankes sowohl in der Länge als auch in der Breite ein. Behutsam hob sie ihre Arme, dann bog sie ihre Finger und drehte ihre Hände. Mit hochgerecktem Kinn machte sie einen Ausfallschritt. Konzentriert, mit ernstem Gesicht lauschte sie auf die Musik in ihrem Kopf. Gitarrenklänge, vermischt mit dem Klacken von Kastagnetten und dem Klatschen von Händen schienen aus weiter Ferne zu ihr zu schweben. Tabea machte einen Schritt zur Seite, dann drehte sie sich herum. Und während sie ihre Haare in den Nacken warf, glaubte sie für einen Augenblick die Gestalt einer Flamencotänzerin im Spiegel zu sehen. Unter straff zurückgekämmtem schwarzem Haar, das im Nacken zu einem Knoten gebunden war, blitzten sie dunkle Augen an. Ein knöchellanger roter Rock mit Volants und Rüschen floss an ihren Beinen hinunter. Über ihre weiße Bluse fiel ein schwarzes filigranes Tuch mit roten Fransen. Für den Bruchteil einer Sekunde verschmolzen Tabeas Blick und der der Flamencotänzerin. Dann, mit einem Mal, als hätte jemand das Bild wie eine Kerze ausgeblasen, war die Erscheinung verschwunden.
"Tabea!", erklang die drängende Stimme ihrer Mutter vom Absatz der Treppe in ihr Zimmer. "Mach dich fertig! Wir wollen in die Kirche gehen!" Seufzend ließ Tabea ihre Arme sinken. Die Musik in ihrem Kopf erlosch. "Ich bin gleich so weit!", rief sie durch die geöffnete Zimmertür. "Ich zieh mich nur schnell um!" Sie schlüpfte aus der Trainingshose, streifte sich das neue Kleid über, das sie extra für das Weihnachtsfest von ihrer Oma bekommen hatte und rannte die Treppe hinunter. Im Hausflur vor der Garderobe warteten bereits, in ihre Mäntel gehüllt, ihre Eltern. "Nun mach aber Dampf!", sagte ihr Vater und reichte ihr die Jacke. "Frau Holle meint es dieses Jahr gut mit uns", sagte ihre Mutter. "Ich hoffe nur, es ist nicht zu glatt auf den Gehwegen. Ihr wisst ja, letztes Jahr ist Oma fast ausgerutscht."
Die Straßen und Wege verschwanden unter einer dicken Schicht Pulverschnee. Bei jedem Schritt durchbrach ein Knirschen die Stille. Die Luft roch nach Kälte, Frische und Festlichkeit. Tabea probierte vorsichtig das Rutschen aus. "Kein Grund zur Sorge", verkündete sie, als ihre Stiefelsohlen auf der Stelle haften blieben. Zehn Minuten später betraten sie unter Glockengeläut die Kirche. Auf dem Gang herrschte Gedränge. Viele Plätze waren bereits besetzt. Tabea reckte den Hals und hielt nach ihrer Oma Ausschau. "Da ist sie", sagte sie und zupfte an den Mantelärmeln ihrer Eltern. In diesem Moment stand ihre Oma in der dritten Bankreihe auch auf und winkte zu ihnen hinüber. "Entschuldigen Sie", hörte Tabea ihren Vater sagen, während er sich behutsam an einem älteren Herrn mit vorstehendem Bauch vorbei schob. Tabeas Mutter und Tabea folgten ihm. Das Glockengeläut verhallte und Orgelmusik setzte ein. Kerzenduft überdeckte den Geruch in der Kirche, den Tabea an anderen Sonntagen immer wahrnahm. Sie zog hastig ihre Handschuhe aus, öffnete ihre Jacke und ließ sich auf den freien Platz neben ihrer Oma fallen. "Na, dass ihr auch noch kommt", flüsterte ihre Oma. "Tabea hat wohl wieder mal geträumt", antwortete ihre Mutter leise. "Deswegen sind wir nicht früher weggekommen." Ihre Oma drehte sich Tabea zu, und während sie ein leises ‚Zzz- Zzz' von sich gab, spürte Tabea, wie ihr plötzlich ganz heiß unter ihrem langen Pony wurde. Ihr war, als glühten ihre Ohren und bollerte ein alter Ofen in ihrem Kopf. Sie wandte sich rasch ab und blickte steif zum Pastor hinüber. Der Pastor erzählte von Joseph, Maria und dem Jesuskind. Dann führten einige Kinder im feierlichen Kerzenschein des geschmückten Tannenbaumes ein Krippenspiel auf. Zum Schluss wurden Weihnachtslieder angestimmt. Orgelmusik ertönte. Nach einer Stunde setzte das Glockengeläut wieder ein. Die Menschen erhoben sich. Füße scharrten. Ein kleines Kind begann zu weinen. Jemand hustete. Das Kirchenschiff füllte sich mit Stimmen. Tabea drängte sich dicht an ihre Oma und packte ihren Arm. Langsam, eingepfercht zwischen Menschen, schlurften sie dem Ausgang zu. Vor der Tür reichte ihre Oma ihr zwei Münzen, die sie in den schmalen Schlitz eines Holzkastens steckte. Dann traten sie ins Freie. Dicke Flocken hüllten sie ein. Gesichter streckten sich durch diesen Schneevorhang ihnen entgegen, lächelten und wünschten ein ‚Frohes Weihnachtsfest', während behandschuhte Hände die ihren ergriffen. Tabea zog, als der Ansturm vorüber war, den Reißverschluss ihrer Daunenjacke zu und streifte sich die Handschuhe über. Dann drehte sie sich herum und hielt nach ihren Eltern Ausschau. "Die lassen sich mal wieder Zeit", zischte ihre Oma neben ihr. "Die Letzten, die kommen, und die Letzten, die gehen." "Da kommen sie doch schon", sagte Tabea und hob die rechte Hand. "Na, dann können wir ja endlich zu euch ins Warme gehen. Bin schon durchgefroren bis auf die Knochen."
Es dämmerte bereits, als sie den Kirchenvorplatz verließen und auf den Gehweg traten. Von den Straßenlaternen fiel gedämpftes gelbes Licht. Glockengeläut füllte noch immer die Luft. Schneemützen zierten Zäune, Fenstersimse und Bäume. An einer Hauswand türmte sich ein Berg von Schnee. Tabea beugte vor und stieß ihre Hände hinein. "Der Schnee pappt nicht", sagte ihr Vater. "Aber vielleicht können wir morgen eine Schneeballschlacht machen." "Ohne mich", sagte Tabeas Mutter. "Der Schnee ist mir zu kalt." "Ich weiß", sagte Tabeas Vater. "Schon als Kind mochtest du ihn nicht im Gesicht haben." "Wie wahr ... wie wahr", murmelte Tabeas Oma. "Aber, Kinder, nun riecht doch mal! So riecht es nur Weihnachten, an keinem anderen Tag." Tabea hob die Nase und schnupperte. Für einen Augenblick machte sie die Augen zu. Oma hat Recht, dachte sie, heute riecht es wirklich anders als sonst. Vielleicht ist das so, weil Weihnachten etwas Besonderes ist. An einem solchen Tag kann dann vielleicht auch alles passieren, auch ... "Ich liebe Lichterbögen", hörte Tabea in diesem Augenblick ihre Mutter sagen. "Und die geschmückten Tannenbäume wohl nicht?", fragte gleich darauf ihre Oma. Tabea drehte sich zu ihnen herum und blickte abwechselnd ihre Mutter und ihre Oma an. "Die natürlich auch", antwortete ihre Mutter und lächelte. "Aber Lichterbögen, finde ich, haben immer eine so geheimnisvolle Ausstrahlung. Bedeuten nicht Lichter im Fenster, dass man auf jemanden wartet und hofft, dass er kommt?" Tabea sah, wie ihre Oma nickte. Auf jemanden oder auf etwas warten, dachte sie, vielleicht auf die Erfüllung eines Wunsches. Sie seufzte. Einen Wunsch hätte ich ja, aber den werde ich mir wohl nie erfüllen, so unsportlich wie ich bin. "Beeilen wir uns ein bisschen. Ich möchte endlich ein Glas Wein am Kamin genießen", riss die Stimme ihres Vaters Tabea aus ihren Gedanken. "Dazu unseren Familienkartoffelsalat und Lachs. Mit läuft schon das Wasser im Munde zusammen." "Die Bescherung zuerst wäre mir aber lieber", sagte Tabea und hörte gleich darauf ihre Mutter lachen. "Als ich zwölf war", erklärte ihre Mutter. "Konnte ich meine Geschenke auch nie erwarten. Erinnerst du dich noch, Mama." "Und ob. Auf deine Finger musste ich dir hauen, um dich am Aufreißen der Schachteln zu hindern", antwortete ihre Oma. Tabea fühlte, wie sich die Finger ihrer Oma um ihren Arm legten. Dann spürte sie einen kurzen Druck, so als wollte ihre Oma ihr sagen, wie gut sie ihren Wunsch verstehen würde.
Minuten später erreichten sie das Reihenhaus, in dem Tabea mit ihren Eltern lebte. Und noch weitere Augenblicke darauf nahmen sie beim Licht der Christbaumkerzen und dezenter Weihnachtsmusik das Essen ein. Doch schließlich räumten sie das Geschirr ab und begaben sie sich zum Gabentisch. Tabeas Mutter hob das weiße Laken von den Geschenken, nahm Päckchen um Päckchen auf, las den Namen auf dem Anhänger vor und reichte sie weiter. "Merkwürdig", sagte sie, als sie eine große flache Schachtel hochnahm. "Ich kann mich nicht erinnern, dieses Päckchen in Papier eingeschlagen zu haben. Solches Weihnachtspapier besitzen wir doch gar nicht." Sie blickte fragend auf. "Also, ich war es nicht", sagte Tabeas Vater und hielt, wie um seine Unschuld zu beteuern, beide Handflächen in die Höhe. "Vielleicht ... du kennst doch deine Schwester Inge. Wahrscheinlich hat sie es unter unsere Geschenke geschmuggelt, bevor sie zu ihrem Skiurlaub aufgebrochen ist. Für wen ist es denn?" Er beugte sich mit hochgezogenen Augenbrauen vor. "Für Tabea, also ..." Tabea sah, wie ihre Mutter die Stirn runzelte. Aber schließlich streckte sie das Geschenk zu Tabea hin. "Dann pack es mal aus! Bin neugierig, was drin ist." Tabea ergriff das Geschenk und begann hastig, das Papier abzureißen. Als sie den Deckel der Schachtel, die unter dem Papier zum Vorschein kam, anhob, sog sie vor Überraschung scharf die Luft durch die Zähne. Für einen Augenblick meinte sie nicht mehr atmen zu können. Ihr Herz bubberte laut, als sie vorsichtig den roten Stoff aus der Schachtel nahm und auseinanderfaltete. Im nächsten Moment schrie sie auf. "Ein Flamencorock! Ein richtiger Flamencorock! Genau so einen habe ich mir schon immer gewünscht!" Sie drückte den Rock an ihren Körper, dann schwang sie auf den Hacken hin und her und stürmte schließlich aus dem Wohnzimmer, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Rasch tauschte sie ihr Kleid gegen ein T-Shirt und den Flamencorock aus, dann nahm sie ihre Tanzposition vor dem Spiegel ein. Die Umrisse ihres Zimmers verschwammen. Vor ihr auf der blanken Glasoberfläche tauchte eine Tanzbühne auf. An schlichten Holztischen an ihrem Rande saßen Menschen. Ihre Gesichter waren in einem Halbschatten getaucht. Doch für Sekunden hatte Tabea das mulmige Gefühl, von all den dunkelhaarigen Menschen angestarrt zu werden. Plötzlich erscholl Gitarrenmusik. Spanische Klänge mischten sich mit der Weihnachtsmusik, die noch immer gedämpft durch Tabeas geschlossene Tür in ihr Zimmer drang. "Tabea, komm!" Eine Tänzerin löste sich aus dem Schatten am Ende der Bühne und kam auf Tabea zu. Lächelnd streckte sie ihre Hände nach ihr aus. Tabea schluckte hart. Für Sekunden stand sie wie versteinert da. Mit großen Augen starrte sie die Tänzerin an. Das Lächeln der Frau verstärkte sich. Wie warme Hände schien es Tabea zu ergreifen. Tabea hob einen Fuß. Die Tänzerin nickte. "Ich komme", sagte Tabea und fuhr mit dem Fuß durch den Spiegel. Einen Herzschlag darauf stand sie auf der Bühne, und vor ihr lächelte die Tänzerin. Ihre schlanken Finger legten sich um Tabeas Hände. "Wir freuen uns, Tabea, dass du gekommen bist, und wir freuen uns, dass dir unser Geschenk gefällt. Nun zeige ich dir, wie gut du einmal Flamenco tanzen wirst. Denn eines Tages, Tabea, wirst du eine große Tänzerin sein."
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