Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
29. März 2007

Die Harry-und-Sally-Situation

© Harry G. Sochor

Beth! Der Song läuft heute schon mindestens zum 1000. Mal. Und jedes Mal reißt er mich ein bisschen tiefer hinab. Wenn sich Pianomelodien und die flehende Stimmen von Stephen Tyler ein wenig tiefer ins Hirn fressen und an ihm zerren wie der River Styx.

Schneeflocken rieseln nieder. Ich beobachte sie im matten Schein der Laternen. Zeitloses Winterland. Trinke eine Mischung aus Red Bull und Carmen-Sekt, beobachte den Tanz der Schneeflocken, wenn ich einen Song höre und trinke. Dann suche ich lange nach einem Song, der zu meiner augenblicklichen Stimmung passt. Nach zwei oder drei Songs immer das Gefühl, dass Beth nun genau der richtige Song wäre. Jeder Song ein Blick auf einen Moment aus der eigenen Vergangenheit. Augenblicke des Lebens manifestieren sich so fest, dass ich glaube, dass ich in einem Garten Eden aufwache, wenn ich morgen die Augen aufschlage.

Dazwischen brauche ich einen Song, der selbst nach zwanzig Jahren noch an eine Zukunft glauben lässt. Jetzt wandern die Hände doch zu einem der CD-Stapel, die ich bis jetzt konsequent ignoriert habe, weil ich mich nur bei den Platten daran erinnern kann, wann und wo ich sie gekauft habe. Nicht bei allen, und bei einigen ertappe ich mich dabei, dass ich das Cover betrachte und mich sogar daran erinnere, wer seine fettigen Fingerabdrücke darauf hinterlassen hat, wie sie durch die verschiedenen Cliquen rotiert ist und nach jedem Verleihen an wieder neuen Stellen geknackst hat.

Oft lächle ich dabei und blättere weiter, weil keiner der Songs auch nur annähernd passt. Jetzt eine Scheibe am Stück. Erst als die ersten Takte in den Lautsprechern rumoren, weiß ich, was ich aufgelegt habe. Während der Stille wie in Trance verbracht. Die Welcome to the pleasure dome von Frankie goes to Hollywood. Seitdem ich die Scheibe zum letzten Mal gehört hatte, war Frankie bekennender Homosexueller geworden - später sogar bekennender AIDS-Kranker. Und die Band soll nicht einmal selbst gespielt und gesungen habe, was mir allerdings breit am Sack vorbei geht, wenn ich einen Song mit der Power von Relax höre.

Wir haben die Scheibe damals bei einigen Partys gehört, als wir noch Flaschendrehen spielen mussten, um einen Grund dafür zu haben, an den Mädchen herumzufummeln. Die Pferde galoppieren wieder so durch die Pulsadern wie an den Abenden, an denen jemand eine Ecke Haschisch mitgebracht hatte und wir auf rosa Wolken mit wabernden Bassgitarren als Schlüssel zu einer psychadelischen Klangfarbenwelt dahin preschten. Als ich noch meinen Vater darum bitten musste, mich zu fahren, wenn ich weggehen wollte - und die Zukunft noch irgendwann später beginnen sollte.

Jahre später dieselbe Musik gehört, wenn ich wilden Sex praktisch überall mit verschiedenen Frauen hatte, als mir das angesichts AIDS noch nicht wie ein Wiener Walzer auf einem Drahtseil ohne Netz vorgekommen ist. Jetzt Schweißausbrüche, wenn ich daran denke, wie oft dieser schleichende Tod schon drauf und dran war, mich zu küssen.

Einmal hat es Stunden gedauert, bis ich unter kochendem Wasser in der Dusche all die kleinen Lehmbrocken aus den Haaren gepullt hatte; erst Tage später schienen der Geschmack von Dreck und Schweiß endgültig aus dem Gaumen verschwunden zu sein. Seltsam! Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen der Frau, und ihr Gesicht ist von Schattenschleiern bedeckt, aber ich kann mich daran erinnern, wie ich empfunden habe, als ihre Finger und Lippen meine Haut entdeckt und liebkost haben. Ich erinnere mich daran, wie sich ihre erigierenden Brustwarzen zwischen meinen Lippen angefühlt haben, daran dass ihre Haut nach Kokosnuss roch und zum Schluss sehr lehmverschmiert war.

Aber ich erinnere mich nicht mehr daran, wie sie ausgesehen hat. Wir waren beide ziemlich stoned und hatten vorher abgemacht, dass wir in dieser Nacht den Sex des Jahrhunderts haben wollten - und uns vielleicht nie wieder sehen würden, nachdem wir eingeschlafen waren. Wir dösten im Dreck und als ich aufgewacht war, fror ich, hatte Gänsehaut. Sie schien auch gerade erst aufgewacht zu sein. Doch während ich noch blinzelte, um die Schatten des Schlafes abzuschütteln und ungehindert in den neuen Tag zu blicken, schien sie bereits fit zu sein. Ich nehme an, sie war schon eine Weile wach und hatte mich nicht ohne Abschied zurück lassen wollen.

Wir hatten beschlossen, gemeinsam zu frühstücken und keine halbe Stunde später saßen wir in einem Cafe. Als die Bedienung die Bestellung von ihrem Tablett nahm und auf dem Tisch verteilte, scheuerten noch immer Sandkörner die Haut auf. Vor allem zwischen den Beinen, wo ich mich anscheinend doch zu oberflächlich gereinigt hatte, obwohl ich dieser Körperregion an dem kleinen Bach neben unserem Liebesnest die meiste Zeit gewidmet hatte. Wir hatten uns nichts zu sagen, genau wie Harry und Sally, direkt nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Und als wir das Frühstück schweigend hinter uns gebracht hatten, berührten sich unsere Lippen ein nächstes Mal. Doch diese Berührung war, als hätten sie die Leidenschaft der vergangenen Nacht nie kennen gelernt.

Wenn ich daran zurück denke, fühle ich mich wie bei einem Waldspaziergang im Winter, nachdem ich einen Joint geraucht habe. Wenn alles vieldimensional wirkt und sich das Gleißen und Glimmen des Schnees ebenso innig in die Netzhäute frisst wie die Kälte durch die Haut an den Händen.

Aus dem Empfinden von Nervenkitzel wird irgendwann eine Paranoia. In allen Richtungen knacksen Zweige, andere Geräusche, die Zufall sein könnten oder von Bewegung erzeugt. Irgendein Paranoiker. Oder den Lippen eines Metaphysikers in einer gottverlassenen Gegend auf der Welt entflutscht eine Beschwörung, die das Holz um mich herum zu Fleisch werden lassen könnte. Du drehst dich um, deine Schritte werden schneller und du willst nur noch heim. Die Schritte werden schneller, doch trotzdem kann dich das Fleisch gewordene Holz jeden Augenblick unter sich begraben.

Aber das ist egal, weil alles ganz anders sein wird, wenn du erst einmal in deinen sicheren vier Wänden bist. Wenn die Stimmen aus der Vergangenheit schlechtes Gewissen herauf beschwören, einen Eid geleistet, dass sowieso bald alles ganz anders sein würde. Und man schwor es sich immer wieder, obwohl einem die Zeit immer schlagartiger überrollte und man immer mehr ahnte, dass Träume vielleicht nie wahr werden. Es nützt nichts mehr, sich an diesen dürren Strohhalm zu klammern. Es waren Tage wie heute.

"Wir haben es geschafft! Der Baum ist noch hässlicher als im vergangenen Jahr!" Nick grinst über das ganze Gesicht, lehnt zufrieden an der Wand. "Jupp!" Gehe zu ihm und grinse, obwohl ich es eigentlich keinen Funken komisch finde. Der Christbaumschmuck ist tatsächlich noch hässlicher als im vergangenen Jahr. Damals haben wir wenigstens die verschiedenfarbigen Kugeln und Lametta noch zu halbwegs gut aussehenden Mustern kombiniert. Heute ächzt ein altersschwacher Fichtenkrüppel unter einem Müllberg.

Die Tür knarzt und es ist auf eine seltsame Art still. Beth steht im Türrahmen und die großen Augen sind gebannt vom Anblick des Baumes. "Das ist doch wohl nicht euer Ernst?", fragt sie nach endlosen Augenblicken des Schweigens. Ich würde am liebsten in Grund und Boden versinken, um den Vorwurf in ihren Augen nicht mehr lesen zu müssen.

Gleichzeitig dackeln Nick und ich zum Baum. Unsere Finger entwirren das Chaos. Schweigend schmücken wir den Baum sorgfältig neu, während jeder seien eigenen Gedanken nachhängt. Die Tradition, dass wir Heiligabend gemeinsam verbringen, ist schon fast so alt wie diese Songs - wenn ich richtig mitgezählt habe, ist es dieses Jahr wohl das elfte Mal. Wir fanden es damals ziemlich rebellisch, am Tag nach der Bescherung verbotene Dinge zu tun, beispielsweise Kiffen und Saufen, einmal hatten wir sogar gemeinsam einen Tierporno geschaut.

Dieses Jahr tranken wir zum ersten Mal an einem einheitlich gedeckten Tisch. Ich war wieder einmal als Erster gekommen, weil ich vor der allgemeinen Wirsindheutealleganz-nettzueinanderweilWeihnachtenist-Berieselung flüchten wollte. Beth war diesmal auch gekommen, weil ihre Eltern und ihre Schwester ohne sie in die Berge gefahren waren. Als der Spontanurlaub gebucht worden war, hatte sie noch nicht gewusst, ob sie Weihnachten frei haben würde. Nick hatte sie schließlich eingeladen, damit sie an den Feiertagen nicht alleine zu Hause sitzen musste.

Sonst tranken wir aus den großen, mit Bildern oder Sprüchen verzierten Tassen - ich trinke immer aus einer Donald-Tasse, deren Glasur von vielen Rissen gezeichnet ist. Ich habe sie im Küchenschrank stehen sehen. Es ist lächerlich, aber so lange ich aus dieser Tasse trinken kann, wird es mir vorkommen, als könne man die Vergangenheit festhalten. Wenn sie im Laufe des Jahres zerbrochen wäre, ginge mir diese allgemeine Konsumaktion noch ein gewaltiges Stück weiter am Sack vorbei.

"Hallo, Leute!" Chris würdigt uns kaum eines Blickes, grüßt nur mit der Hand, geht direkt auf die Stereoanlage zu. Erst jetzt nehme ich bewusst wahr, dass irgendein Radiosender schon die ganze Zeit eine Variation der üblichen weihnachtlichen Programmkacke durch den Äther rieselt und ahne Schreckliches. Jedes Jahr dasselbe Spiel: Er hat einen Stapel CDs dabei, die er für ziemlich gut hält und legt irgendetwas auf, das Nick oder ich binnen kürzester Zeit wieder aus dem Player schmeißen.

Seitdem Chris erfahren hat, dass Garth Brooks insgesamt schon mehr Platten verkauft hat als Michael Jackson, hält er ihn für ziemlich gut. Was sich meinen Ohren darbietet, pumpt tonnenweise Adrenalin ins Blut. Eine schmalztriefende Stimme quäkt nach wenigen Eingangstakten in breitem Südstaatenslang eine Story von Einsamkeit und ewiger Liebe, die da prächtig gedeiht wie ein Kaktus unter sengender Wüstensonne. Den Dancefloorschrott, den Chris für Techno hält, hätte ich vielleicht etwas länger ertragen - aber nicht den Nashville-Country-Schrott.

"Wage es nicht noch einmal, den CD-Player zu berühren", zische ich ihn an, drücke so fest auf die Eject-Taste, dass der Player ein wenig verrutscht und drücke ihm seine Scheibe in die Hand. Die Stille im Raum ist beklemmend; wenn einer von uns dreien jetzt auch nur einen Ton sagt, eskaliert die Situation. Egal! Ich fühle mich nach niederbirnen in einer Kneipe, nicht nach feiern. Suche in einem von Nicks CD-Stapeln, die er im Schrank neben der Anlage aufbewahrt, nach etwas demonstrativ Hartem. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, die Licensed to Ill von den Beastie Boys aufzulegen, entscheide mich dann aber doch für La Folie. Ich will nicht derjenige sein, der die Situation eskalieren lässt, die Stranglers sind also ein fairer Kompromiss.

Die Zeit plätschert dahin, und bis Tom, Nail, Strupp, Bingo und Pete eingetrudelt sind, haben wir ein fünfgängiges Menü gezaubert, Nicks Bude so sehr auf festlich getrimmt, dass er sie wohl nicht wieder erkannt hätte, wäre er nicht die ganze Zeit anwesend gewesen. Und als wir alle vor dem Baum sitzen und Punsch schlürfen, hat sich sogar so etwas wie Festtagsstimmung verbreitet. Ich sehe es Chris an, dass er sauer auf mich ist. Gott, manchmal kann ich es nicht fassen, mit was für Typen ich abhänge.

Keiner ist mehr als ein guter Bekannter, Freunde mögen wir vielleicht früher einmal gewesen sein. Nail und Bingo wohnten nur eine Straße weiter. Seit einigen Jahren schaffen wir es, uns konsequent aus dem Weg zu gehen, bis auf Heiligabend eben. Chris treffe ich ab und zu beim Ausgehen, aber selbst dann wechseln wir nur ein paar Worte, bis jeder seines Weges geht. Strupp hat sich zu einem Paradespießer entwickelt, seitdem er studiert und ich würde ihm am liebsten an die Gurgel gehen, sobald er den Mund aufmacht.

Nick ist der einzige, den ich während des Jahres mal auf ein Bier oder einen Kaffee treffe. Das ist wohl auch der einzige Grund, warum ich heute schon seit Mittag hier bin. Die anderen sind wie immer erst dann gekommen, sobald die Vorbereitungen abgeschlossen waren und würden sich zweifellos aus dem Staub machen, bevor es ans Aufräumen ging. Es geht ihnen noch immer ziemlich weit am Arsch vorbei, dass jemand eine Menge Arbeit hat, wenn er einige Gäste bewirtet. Chris labert eine ziemliche Kacke und lallt bereits leicht, Nail stopft sich einen Space-Cake in den Mund und Strupp erklärt, warum Drogen scheiße sind, was mich und Nick wiederum dazu veranlasst, uns aus Prinzip mit Nail solidarisch zu erklären - Nick baut eine Tüte - Tom sagt irgend etwas und Beth lacht.

Wir glotzen sie an, verlieren den Faden. Ich kaue lange auf kleinen Keksstücken und Krümeln herum, Nick baut mechanisch einen paar Joints, Nail, Strupp und Chris trinken Prost. Es ist jedem anzumerken, dass er sich genauso fühlt wie ich. Seltsam: Die Aggressivität tritt jedes Jahr offensichtlicher zu Tage. Es regt mich auf, dass Chris nach dem Essen mit den Fingernägeln zwischen den Zähnen herumstochern muss. Der Wunsch, mit der Faust in sein Gesicht zu schlagen, manifestiert sich immer stärker in mir.

Das beste, was uns in diesem Jahr passieren konnte, ist Beth. Sie wäre blind, würde sie die gewitterschwangere Atmosphäre nicht wahrnehmen., aber überspielt es ziemlich geschickt und versucht eine Ewigkeit lang, eine richtige Unterhaltung in Gang zu bringen, indem sie mit jedem einzelnen plaudert und versucht, auch die anderen in das Gespräch einzubeziehen. Niemand steigt ein, also unterhalte ich mich mit ihr über Filme. Nick hört uns zu, sagt nichts. Die Augen starr auf den Inhalt seines Glases gerichtet.

Ich an seiner Stelle wäre ziemlich sauer, hätte die ganze Bande außer vielleicht Beth und mir schon längst nach draußen befördert. Down-in-the-hole-Stimmung. Das sind die Augenblicke, die ich am Winter hasse. Es sind die grauen Gedanken, die klares Denken vernebeln, wenn herbstliche Nebelgespinste den Nächten eine metaphysische Aura verleihen, wenn eine Dunstglocke über der Welt liegt und es draußen so kalt ist, dass die Hände klamm werden, selbst wenn sie tief in den Jackentaschen vergraben sind.

Im Augenblick sehne ich mich nach dem Duft von getrocknetem Heu, nach dem sanften Prickeln, das die Sommersonne auf der Haut erzeugt und nach dem Rauch von Lagerfeuern. Der Winter ist keine gute Zeit zum Pläneschmieden und wenn ich uns hier jedes Jahr sehe, dann wird mir immer klar, dass wir alle weiter von unseren Träumen entfernt sind als je zuvor und dass uns immer weniger Zeit bleibt, um sie zu verwirklichen. Manchmal erscheint es mir, als hätten wir alle Zeit der Welt zwischen den Fingern verrinnen lassen - und je länger dieser Zustand dauert, um so schneller verrinnt die Zeit.

"Den hab' ich schon mehr als 40 Mal gesehen!" Es war mehr Höflichkeit als wirkliches Interesse, dass ich mich auf eine Unterhaltung eingelassen habe. Sie mag True Romance. Sie findet den Film romantisch. Wegen dieses Films bin ich mal mit einer ziemlich scharfen Maus nicht im Bett gelandet. Ich hatte nach einem romantischen Dinner mit einer guten Flasche Wein den Film eingelegt, und kurz nach der Hälfte des Films war dieses Date für mich gelaufen. Sie hatte es Scheiße gefunden, dass Clarence Alabama zum Bierholen geschickt hatte, als er seinen Vater nach Jahren wieder traf. Sie hatte mir einen Vortrag darüber gehalten, wie typisch Mann dieses Verhalten sei und hatte sich dann aus dem Staub gemacht. Der letzte Rest meiner Erektion hatte sich bereits während ihres Vortrages verabschiedet.

Beth findet die Szene, in der Alabama Clarence gesteht, dass sie ein Callgirl ist und sich in ihn, ihren zweiten Kunden, verliebt hat, romantisch. Ich kenne Beth seit Jahren, aber sie ist mir nie wirklich aufgefallen. Ich kenne sie ziemlich gut, doch wenn ich sie beschreiben wollte, müsste ich passen. Es ist mir nie aufgefallen, wie weich ihr Gesicht gezeichnet ist, die Lippen sind immer einen winzigen Spalt weit offen, und es kann eigentlich nur am Space Cake liegen, dass mir ihre Stimme engelsgleich erscheint.

Spätestens als ich wissen will, wie ihre Lippen wohl schmecken, sind wir von den anderen isoliert. Es haben sich mittlerweile die üblichen Cliquen gebildet. Chris quatscht selbstvergessen darüber, was er für Musik hält und braucht eigentlich nicht wirklich einen Zuhörer. Nail erzählt gerade von einem geilen Drogentrip, Strupp hört zu und tut so als hätte er all das selbst ebenfalls schon erlebt. Normalerweise würden wir beide uns gerade in den Haaren liegen. Nick und Tom hingegen streiten sich allen Ernstes darüber, ob nun Prince oder Tom Jones die bessere Version von Kiss gemacht haben. Nick als eher klassischer Gentlemen favorisiert natürlich Tom Jones, während Tom - oh Wunder - für Prince plädierte.

Beth und ich stellen fest, dass wir einen ziemlich ähnlichen Geschmack haben. Sie mag ähnliche Filme, ähnliche Kneipen und ähnliche Musik wie ich. Komisch, dass wir ausgerechnet diesen traurigen Haufen hier brauchen, um das überhaupt zu bemerken. Aber ich habe es schon längst aufgegeben, mich darüber zu wundern, wie das Leben seine Geschichten schreibt. Beth rumort in einem fernen Winkel meines Schädels, wir trinken Sekt und spüren, dass wir abheben.

Obwohl die anderen sich teilweise sehr lautstark unterhalten, bleibt die Runde in einem viel friedlicheren Rahmen als es in den vergangenen Jahren der Fall gewesen war. Die Zeit hatte aus unserer verschworenen Clique eine Horde von Streunern gemacht, die sich alljährlich trafen, wobei allerdings jeder einzelne immer weniger bereit war, auch nur eine Handbreit Boden unverteidigt preiszugeben. Fast staune ich darüber, um wie viel friedlicher wir alle sind, nur weil zum ersten Mal eine Frau an unserer Weihnachtsrunde teilnimmt. Denn insgeheim hatten wir alle damit gerechnet, dass irgendwann in nicht mehr allzu ferner Zeit irgendwer seine psychopatische Ader durchbrechen ließ und ein riesiges Blutbad anrichten würde. Doch momentan sind wir alle sehr weit davon entfernt, dass ein einziger Funke ausreichen könnte, um die Bombe zum Platzen zu bringen.

Die anderen sind drauf und dran, ziemlich besoffen und stoned zu werden, Beth und ich halten uns sehr viel mehr zurück, wir sind leicht angeheitert und stoned. Unsere Hände haben sich gefunden und wollen nicht mehr voneinander lassen, genießen diese zeitlosen Augenblicke zärtlicher Intimität. Ihr Kopf sinkt auf meine Brust, während sie erzählt, dass sie als Kind davon geträumt hatte, ein Vogel zu sein. "Frei sein und hinfliegen, wohin ich will!"

"Ja!" höre ich meine Stimme wie aus weiter Ferne seufzen. Die Farben des Christbaumschmuckes greifen nach mir. "Glaubst du daran, dass Träume in Erfüllung gehen?" Die anderen Gespräche sind ganz weit fort, der langsame Schlag zweier Herzen lullt uns ein. Finger streicheln langsam über meine Brust bis hinauf zu den Schultern.

Sanftes Prickeln von Gänsehaut, als mein Blick sich in den unendlichen Weiten ihrer blauen Augen verlieren. Unsere Lippen berühren sich und die Zungen tanzen ineinander verschlungen zum sanften Rhythmus einer Melodie, die wir in diesem Augenblick erfinden.

Irgendwann später - eine kleine Ewigkeit war vergangen - weicht sie sanft aber entschieden vor meiner Umarmung zurück. Aus einem schwarzen Loch gerissen. Muss überlegen, wo und wann ich bin. Nach einem Blick in die Runde weiß ich, warum sie sich von mir gelöst hat. Um uns herum herrscht so etwas wie peinlich berührtes Schweigen. Beths Lippen deuten ein Grinsen an. Das Gesicht verhüllt von überirdischen Lichtschleiern.

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich in die Runde von fünf entsetzten Gesichtern schaue. Ich bin froh, dass nicht Chris es ist, der nach endlosen Augenblicken peinlichen Schweigens als Erster etwas sagt. Ich hätte es mir wahrscheinlich nicht verkneifen können, ihm ein paar Zähne auszuschlagen. Nach ein paar peinlich-dummen Sprüchen fragt Strupp schließlich, ob jemand Lust hätte, Junta zu spielen. Seine Frage bleibt unbeantwortet, Nick reicht stattdessen einen Joint an mich weiter. Ich inhaliere vier tiefe Züge und reiche ihn an Beth weiter. "Bin gleich wieder da!", flüstere ich, Beth nickt. Ich gebe Nick zu verstehen, dass er mir in die Küche folgen soll, wo ich ihn darum bitte, mir eine Ecke Dope mitzugeben.

"Lass uns irgendwo anders hingehen!" Beth zieht einen Schmollmund, ihre Finger graben sich in meine Haare. Ich lege die Hand auf ihren Oberschenkel. Ich sollte sie nun küssen, fühle mich aber fremd in meiner eigenen Haut, solange die anderen hier sind. "Also, was machen wir?" Chris öffnet den Mund, schluckt seine Bemerkung aber hinunter, als er meinen warnenden Blick bemerkt. Nick ist hinter dem Weihnachtsbaum verschwunden. Nur Rascheln und Scheppern ist zu hören, bevor er lautstark zwei Schranktüren zuknallt und mit dem Junta-Spiel unter dem Arm hinter der geschmückten Tanne hervor tritt. Widerwillig kämpfen Beth und ich gleichzeitig gegen die Schwerkraft an, wie aus einem Mund sagen wir: "Ihr werdet wohl ohne uns spielen müssen."

"Wo wollt ihr denn hin?" Schulterzucken und Grinsen sind die einzige Antwort, die Chris auf seine selten dämliche Frage von uns erntet. Die Haustür fällt gerade hinter uns ins Schloss und schon zerrt klirrende Kälte an uns. Trotzdem spüre ich Schmetterlinge im Bauch flattern.

Seltsam! Bis zu diesem Augenblick scheint jedes Detail so real, als ob es erst vor wenigen Minuten geschehen wäre. Alles, was danach passiert ist, existiert nur noch als angenehmes Gefühl. Ein Feuerzeug glimmt auf, und als nach zwei Zügen träge Nebel jede Faser des Körpers durchdringen, vergrabe ich mich tiefer in den Kissen auf dem Korbstuhl, während Phil Collins von One more night schmachtet.

Wieder dieses Scheißgefühl. Aber erst als Nick und ich auf der Couch hocken, das Zimmer in das diffuse Licht von Kerzenschein gehüllt ist und wir schon sehr stoned sind, packt es mich mit aller macht: Kloß im Hals! Gerade läuft die Art von Musik, die ich auflege, wenn ich allein bin und meinen Gefühlen freien Lauf lassen will.

"Weißt du, was Beth zurzeit macht?"

Nick schüttelt den Kopf. "Du hast sie nicht mehr gesehen, oder?" Ein Sektkorken knallt. Nick reicht sein Glas herüber. "Seit dem ersten Weihnachtsfeiertag nicht mehr."

Ich bin froh um die dichten Schattenschleier, die uns einhüllen. Kämpfe gegen das Zittern in meiner Stimme an. "Wenn du reden willst..."

Nick ist der einzige, bei dem ich keine Hemmungen habe, gegen das ungeschriebene Gesetz, das früher in der Clique geherrscht hatte - nämlich uns gegenseitig nicht mit Gefühlskram zu belasten - zu verstoßen. "Ja, gleich! Lass uns erst noch einen Song hören, o.k.?" Noch nie hat die Stimme von Gene Simmons derart kaputt geklungen wie jetzt, während Beth läuft. Ich schließe die Augen und für die Dauer von zwei Minuten und zwanzig Sekunden erlebe ich diesen ganz besonderen Abend noch einmal im Zeitraffer.

Dämmerlicht hüllt uns in Schatten. Gänsehaut lässt mich beben. Blaue Augen strahlen, bevor wir in einem endlosen Kuss versinken. Spüre diesen Augenblick der Nähe eine kurze Ewigkeit lang, dieses kurze Zögern als wir in den ersten Kuss in ungestörter Zweisamkeit versunken waren. Andere Augenblicke sind nur noch Bilder: Zu mir nach Hause gefahren, wo ich eine Flasche Sekt und zwei Gläser in eine Tasche gesteckt habe, etwas zu rauchen war noch in der Hosentasche, dann sind wir ein paar Kilometer weit an einen einsamen Ort gefahren, wo die nächsten Spuren menschlicher Siedlung unendlich weit weg schienen, und auf den Liegesitzen meines Corsa lernte ich kennen, was Sex bedeuten konnte, wenn gleichzeitig auch noch gegenseitige Zuneigung im Spiel war.

Dann machte ich den Motor aus, wir ließen das Auto geparkt auf dem Waldweg stehen. Durch Wald und Schnee gelaufen, bis wir vollkommen außer Atem waren. Irgendwann zärtlich Arm in Arm die zwei Zentimeter tiefe Spur zurückverfolgt. Ein lauter Knall entweiht die Stille als der Sektkorken im fast sternenlosen Dunkel der Nacht verschwindet. Beth führt meine rechte Hand zu ihrem Mund, die warme, feuchte Zunge streichelt über die Haut, als sie den übergelaufenen Sekt von den Fingern leckt. Unter der mächtigen Fichte, unter deren Schatten ich vor einigen Jahren während einer lauen Sommernacht den ersten Sex meines Lebens hatte, liegt kein Schnee. Unsere Leiber vereinigen sich kuschelnd zu einem einzigen Körper.

Ich zittere, aber nicht wegen der Kälte. Ihre Nähe lässt die gierigen Klauen des Frostes vergessen. Alles Licht und Wärme - und der Geschmack von erntefrischen Pfirsichen. Hände, Lippen und Zungen gieren nach mehr, wollen all die Monate und Jahre nachholen, in denen wir uns nicht gekannt haben, all die Monate, die wir uns gekannt hatten, aber nichts voneinander wollten.

Der Rausch der Begierde fällt ab, als die Autotüren aufschnappen. Lachen. Blaue Augen funkeln wie tiefe Hochgebirgsseen, die von Myriaden Gestirnen angestrahlt werden. Schweigen, nicht einmal eine winzige Berührung. Wüsste nicht, was ich sagen soll.

"Ich war ein Riesenidiot!", sage ich, während die Kiss-Platte im Cover verschwindet. Ich greife nach irgendeiner CD aus dem 70er-Jahre-Stapel, als der Pop seine Unschuld noch nicht verloren hatte und Träume noch wahr werden konnten. "Wieso?"

Ich überlege, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. "Es war Wahnsinn ... das Romantischste, was einem passieren kann." Meine Faust hämmert auf die Armlehne des Sessels. "Im Wald war es irgendwie magisch. Aber sobald wir wieder im Auto waren, war der Zauber verschwunden. Wir haben die ganze Fahrt über kein Wort gesprochen."

Spüre den Druck der Tränen stärker werden als Knock on wood die warme, nach Zimt und Weihnachten duftende Luft vibrieren lässt. Längst vergessene Erinnerungsfacetten tauchen aus den Tiefen der Vergangenheit auf und ... Melancholie. Es ist ein Augenblick, in dem man nur den Wunsch hat, alles Dope zu rauchen, das man auftreiben kann, und den kümmerlichen Rest von Gehirn, der wohl oder übel übrig bleiben würde, in Alkohol zu ertränken.

"Es war irgendwie so, als hätte sich alles einfach so ergeben müssen. Und genauso sind wir nach dem Frühstück auseinander gegangen. Es war als ob wir beide nicht wussten, wie wir nach diesem Abend weitermachen sollten." Keine Ahnung, wie ich es erklären sollte. Unsere Zeit war abgelaufen, ohne dass wir mehr daraus machen konnten.

Zwölf Monate lang hatte mich dieser eine ganz besondere Abend immer wieder eingeholt und mich für Abende, ja für ganze Tage in ein tiefes schwarzes Loch voller Grauen und Verzweiflung gerissen. Mir war ein Satz aus einem Film eingefallen und im Laufe der Zeit begann ich die Macho-Weisheit für die er stand, zu glauben: Männer und Frauen können keine Freunde sein, weil ihnen irgendwann der Sex dazwischen kommt.

"Ich glaub', ich versteh', was du meinst." Nicks Augen bannen mich. Greift nach einer Kippe, ohne den Blick von mir abzuwenden. Lehne mich zurück. "Vielleicht war es einfach nicht der richtige Augenblick für mehr." Beobachte die Rauchwölkchen, die zwischen Nicks Lippen emporsteigen. Zünde ebenfalls eine Zigarette an.

"Aber ihr habt immerhin einen Abend miteinander verbracht, an den du dich dein ganzes Leben lang erinnern wirst." Er hat Recht. Worte, Gedanken und Musik verschmelzen miteinander zu einem diffusen Nebel. Das Gefühl, irgendwie alles verbockt zu haben, schnürt das Herz ein. Wie wenn du dich daran erinnerst, wie toll der Sommer damals war, als jeder wie Patrick Swayze und Jennifer Grey tanzen wollte, obwohl du niemals wirklich dazu gehört hast, damals. Gegen Ende des Schuljahres hatten alljährlich 20 Amerikaner deine Schule besucht und jeden Abend stieg irgendwo eine Party. Und Mückenstiche waren oft die einzige Erinnerung an den vergangenen Abend, weil irgendwer immer gerade eine Wette verloren hatte und deshalb Alkohol bis zum Abwinken hatte mitbringen müssen.

"Ja, aber ich glaub, es hätte wesentlich mehr sein können als dieser eine Abend. Wenn ich nur meinen Scheißmund aufgemacht und Ich liebe dich! gesagt hätte." Nick schweigt, mustert mich. Er hat Recht. Wenn Beth nach dem Frühstück nicht gegangen wäre, wären wir wahrscheinlich ein Paar geblieben. Vielleicht hätten wir uns Wochen oder Monate später zerstritten und ich würde mich jetzt nur noch daran erinnern, wie es auseinander gegangen ist, nicht daran, wie zauberhaft unser erster gemeinsamer Abend gewesen war. Vielleicht wären wir auch zusammen geblieben und der einzige Grund dafür, dass wir noch zusammen waren, war die Erinnerung an diesen zauberhaften Heiligabend.

"Na ja! Verbockt ist verbockt!" Easy Living, auch wenn es bis in die tiefste Tiefe des Herzens schmerzt. Es bringt nichts, wenn ich auch noch Nick diesen Abend versaue. Da muss ich wohl allein durch. "Warum sind die anderen eigentlich nicht da?" Eine klasse Frage, um die Stimmung für ihn noch weiter sinken zu lassen. Wie jedes Jahr hatte er mir vorhin - in einer Woche war Heiligabend - eine handschriftliche Einladung in die Hand gedrückt. Mit der Bemerkung, dass ich der einzige aus der alten Clique sei, den er dieses Jahr sehen wollte.

"Tja..." Nick grinst vielsagend. "Nachdem ihr beiden weg wart, ist irgendwie das Psychopathen-Gen ausgebrochen. Wir haben den ganzen Abend komplett aneinnander vorbei geredet, und irgendwann haben wir uns schließlich nur noch gegenseitig angemotzt und angemault, mit der Tendenz zu steigender Aggressivität. Bevor wir uns gegenseitig die Schädel eingeschlagen haben, hab ich die ganze Bande auf Nimmerwiedersehen rausgeschmissen." Nick zuckt gleichgültig die Schultern.

Wir wissen beide, dass es so am besten war. Das Stück Freundschaft, das uns früher verbunden hatte, war irgendwann im Laufe der Jahre gerissen. Verlegenes Schweigen. Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, frage ich Nick, ob er auch Kaffee haben möchte. Er nickt und fragt, ob er inzwischen kurz mein Telefon benutzen darf.

Als ich mit der vollen Kaffeekanne ins Wohnzimmer zurückkomme, grinst er mich an. Vor ihm liegt ein Stick. Grinse zurück. "Weißt du, wir sollten uns jetzt nicht gegenseitig in den Suizid labern." Ist wohl vernünftiger. Er zündet den Joint, der sich als sehr reichhaltig mit Gras bestückt erweisen sollte, an, während ich den Kaffee einschenke.

Drücke die Glut im ausnahmsweise fast leeren Aschenbecher aus und reite auf bunten Wolken in nicht minder bunte Traumnebel Die Tasse fällt mir fast aus der Hand, als ein schriller Ton durch den Nebel dringt. "Bleib sitzen, ich geh schon!" Nick legt im Vorbeigehen eine Hand auf meine Schulter. Ah, es ist nur die Klingel.

Hinter einer schlanken Frau mit langen, schwarzen Haaren schiebt sich Nick durch die Tür und strahlt. "Wir haben Besuch bekommen. Das ist Rebecca, und hinter mir ist noch wer." Strange! Keinen Peil. Doch das ist mir egal, als ein paar eisblaue Augen blitzen, Beth "Überraschung!" ruft und wir nur Lidschläge später in einer zärtlichen Umarmung versinken.

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Dr. Ronald Henss Verlag
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Ich habe schon einige Weihnachtsgeschichtensammlungen gelesen und kann mich nur an ein Buch erinnern, das ähnlich gut war!
Leserin BookCrossing

Was für ein schönes Buch! ... ich habe tatsächlich die eine oder andere Träne verdrückt. Es kommt so richtig schön weihnachtliche Stimmung auf. Und das Buch eignet sich wundervoll zum Verschenken.
Leserin BookCrossing

Ein wunderschönes Buch mit tollen Geschichen. Ich werds mir für nächstes Jahr als Geschenk für meine Kurzgeschichtenfans vormerken.
Leserin BookCrossing

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