Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
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Alle sollen doch glücklich sein

© Laura Mäder

1. Kapitel

"Nein, nein und nochmals nein. Ein solches Gesindel kommt mir nicht ins Haus. Nur über meine Leiche." "Ich bitte Sie, Sir, wir reden hier schliesslich über Ihre Enkelin. Nun hören Sie sich meinen Vorschlag doch mal zu Ende an. "Sparen Sie sich Ihre Worte, Monsieur Dupont. Meine Antwort kennen Sie bereits und damit basta. Ich bin doch hier nicht der Babysitter. Soll sich doch ihr Vater um sie kümmern, dieser hirnlose Nichtsnutz. Oder warum schickt man sie nicht einfach in ein Waisenhaus, dort wäre sie wenigstens gut aufgehoben." "Sie wollen ihre Enkelin doch nicht ernsthaft in ein Waisenhaus schicken? Sir, ich bitte Sie, was sollen den die Leute von Ihnen denken?" Josèphe wandte sich ab. Sein streng gestutzter Schnurrbart hatte sich leicht gekräuselt und Schweissperlen glänzten auf seiner Stirn. "Nun, ich denke wir wissen beide, dass Ihnen keine andere Wahl bleibt." Mit langsamen Schritten näherte sich Monsieur Dupont. "Es sei denn, sie wollen Ihre letzte Ehre noch aufs Spiel setzen." "Was wollen Sie damit sagen?" Ruckartig drehte sich Josèphe um und funkelte den kleinen zierlichen Herrn in grauem Anzug böse an. "Ach, Sie wissen doch genau, was das Volk von Ihnen hält. Sie sind ein alter mürrischer Geizkragen. Es wäre ein gefundenes Fressen für die Presse, wenn sie erfahren würde, dass Sie das Kind Ihrer eigenen Tochter in ein Waisenhaus stecken. Und das, nach dem der Vater kurz zuvor als drogenabhängiger Schwerverbrecher in den Schlagzeilen war." "Und was sollte ich Ihrer Meinung nach tun? Ich habe keine Zeit, mich um kleine Kinder zu kümmern. Ich habe schliesslich noch andere Dinge zu tun und ausserdem … ich hätte gar keinen Platz für sie." "Nun machen Sie sich doch nicht lächerlich. Sie wohnen ganz alleine in diesem grossen Schloss. Es wären doch bloss ein paar Jahre. Sehen Sie es doch mal positiv. Die Kleine ist erst sechs Jahre alt, noch leicht erziehbar und ehe man sich versieht, ist sie schon volljährig. Sie verheiraten sie mit einem adligen jungen Mann und erhalten einen rentablen Brautpreis und Ehre dazu. Ausserdem wird Sie das Volk dank Ihrer guten Tat anerkennen."

*

Endlich war er diesen durchaus lästigen Mann losgeworden. Wie er seinen Berater doch verabscheute. Schon seit längerem spielte er mit dem Gedanken ihn zu entlassen, doch Josèphe musste, wenn auch ungern zugeben, dass er einfach genial war. Seine Denkweisen waren stets logisch und durchaus einleuchtend. Ausserdem machte er seine Arbeit exakt und zuverlässig, und war dazu auch noch billig. Aus manch blöden Situationen hatte er ihn schon befreit und er wusste immer eine passende Antwort. Trotzdem verabscheute er diesen Mann zutiefst. Er war ein kleiner arroganter Besserwisser, der immer das letzte Wort haben musste. Wieder einmal hatte er es geschafft, ihn zu überreden. Nun hatte er bald diese kleine Göre am Hals. Josèphe seufzte. Warum immer er? Hatte er in seinem Leben nicht schon genug Probleme gehabt? Schon von klein auf musste er um sein Überleben kämpfen und war immer allein. Vielleicht war das der Grund, weshalb er nie mit anderen Menschen umgehen konnte. Geboren wurde er in einer armen Bauernfamilie. Seine Eltern hatten kein Geld um ihn grosszuziehen und so wurde er an Sir Louis Raymond verkauft, dem einst dieses Schloss gehörte. Er wurde behandelt wie ein Sklave. Von morgens bis abends wurde er herumkommandiert, schikaniert und hatte dies und jenes zu tun. Meist waren es Arbeiten, welche anstrengend und riskant waren, welche sein Leben gefährdeten. Essen bekam er wenig, ebenso Lohn und Anerkennung. Doch er beklagte sich nie, sondern tat seine Arbeit schnell und präzise. Am Abend zog er sich dann in den Stall zurück, wo sich sein Schlafplatz befand. Natürlich war es ihm nicht erlaubt, im Schloss zu schlafen, geschweige denn, es auch nur zu betreten. Doch das war ihm egal, es war ihm überhaupt alles egal. Meist war er so erschöpft, dass er ohnehin gleich einschlief. Manchmal aber dachte er über sein Leben nach, was wohl aus ihm werden wird. Ob er sein ganzes Leben hier verbringen würde oder ob er einmal seinen Traum verwirklichen könne. Er träumte nämlich von einem eigenen Schloss, wo er mit seiner Frau und seinen Kindern wohnte. Er stellt sich vor, wie es wäre Geld zu besitzen, überhaupt etwas zu besitzen. Josèphe liebte diese Art von Träumen, er liebte es endlich einmal ein Jemand zu sein, ein Jemand, auf den alle andern zu hören hatten, dem alle gehorchen mussten. Damals hätte er nie gedacht, dass er einmal so weit kommen würde. Doch alles geschah mehr durch einen dummen Zufall, oder war es Schicksal? Jener Tag war ein herrlicher Maitag. Die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Auf dem Hof herrschte das alltägliche Treiben, überall eilten Dienstmägde umher, die Knechte kümmerten sich um das Vieh und jene die gerade nichts zu tun hatten, zogen sich in den kühlen Schatten zurück. Auch Josèphe war schon längst auf den Beinen und arbeitete schon seit Stunden. Mühsam beförderte er die schweren Wassereimer zum Stall. Seine Arme fühlten sich bereits wie Blei an und Schweiss rann im übers Gesicht. Keuchend schleppte er sie vorwärts, Zentimeter um Zentimeter. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er die Welt rundherum vergass, bis er plötzlich gegen etwas stiess. " Hey, pass doch auf, du Idiot. Hast du keine Augen im Kopf?" Ein kleiner dicker Mann drehte sich genervt um und fixierte ihn mit seinen kleinen Augen. Er hatte ein massiges Gesicht, das rot verfärbt und mit dutzend kleinen Narben übersät war. Auf dem Kopf hatte er an manchen Stellen noch einige graue Haare, die kahlen, welche überwiegten, glänzten vor Schweiss. "Ich hab ja wohl keine Schuld, wenn manche Leute hier das Gefühl haben, sie können hier einfach so im Weg rumstehen", gab Josèphe genervt zurück. "Ah, nun wollen wir also auch noch frech werden, Kleiner." Seine Nasenflügel bebten vor Wut. "Du hast wohl nicht kapiert, wer hier der Boss ist." Es hatte sich bereits eine Menschentraube um sie gebildet. Zwar war es nicht selten, dass sich zwei in die Haare gerieten, doch hatte sich bis jetzt noch niemand getraut dem Metzger (das war der dicke Mann von Beruf) zu widersprechen. Die Anspannung der Beobachter war förmlich zu spüren. Doch Josèphe liess sich nicht beirren. "Ha, viel grösser sind Sie nun auch nicht. Vielleicht etwas breiter ja. Deshalb macht Sie das noch lange nicht zum Boss. Entschuldigen Sie mich, aber im Gegensatz zu Ihnen, habe ich noch zu arbeiten." Die Augen des Mannes waren zu schmalen Schlitzen zusammen gezogen und an seiner Stirn traten Adern hervor. "Ich werde dir noch Anstand lehren, du Flegel. Du rücksichtsloser….." "HALT, HAALT, auseinander ihr zwei." Ein stämmiger Mann in einem gestreiften Anzug kam auf sie zu. "Was fällt dir eigentlich ein, dich hier prügeln zu wollen?" schrie er den dicken Mann an, worauf der unmerklich zusammenzuckte. Zu Josèphe sagte er: " Und was Sie betrifft, junger Mann, Sie kommen mit mir." "Ich.. aber Sir, ich….." "Keine Widerrede, marsch!" Josèphe folgte ihm beschämt, den Kopf zur Erde gebeugt. Er wurde ins Schloss geführt, viele Treppen hinauf. Staunend betrachtete er alles. Die kostbaren Gemälde an den Wänden, die handgefertigten Teppiche auf dem Boden und die vergoldeten Statuen. Noch nie in seinem Leben hatte er solch wertvolle Schätze gesehen und er genoss ihren Anblick in vollen Zügen. Bald standen sie vor einer breiten Tür, welche mit herrlich glänzenden Diamanten verziert war. Der Mann klopfte kurz an und trat ein, Josèphe mit sich schleifend. "Entschuldigen Sie vielmals meine Störung, Monsieur Raymond, aber ich habe gute Nachrichten." "Das hoffe ich, mein Lieber, das hoffe ich", antwortete er genüsslich. Dann bemerkte er Josèphe und schaute ihn irritiert an. "Nun das hoffe ich." " Aber gewiss, mein Herr. Nun, wie soll ich beginnen? Also ich machte wie jeden Morgen meinen Rundgang durch den Hof. Sie wissen ja, das ist meine Aufgabe, und ich, Sie kennen mich ja, ich erledige stets zuverlässig und ohne Ausnahme meine Aufgabe. Nun, ich machte also meine Arbeit, wie ich sie jeden Morgen machte, gleich exakt und zuverlässig wie immer. Ich ging über den Hof, schaute ob alle arbeiteten und ob alles in Ordnung ist. Sie wissen ja wie es ist, wenn die Sonne scheint. Nur wenige strengen sich wirklich an, die meisten sitzen faul herum oder dösen im Schatten vor sich hin. Aber ich gewiss nicht, Sir, nein, ich nicht. Ich tat meine Arbeit wie jeden Tag. Wissen Sie, ich sag mir stets: Albert, mach deine Arbeit, sowie es verlangt wird, egal ob du müde oder hungrig bist. Irgendwann wirst du dafür belohnt werden, irgendwann wird sich dein täglicher Fleiss auszahlen. Und deshalb verrichtete ich meine Aufgabe, wie ich sie jeden Tag machte, obwohl es heute ja besonders heiss war und es ist nicht leicht, sich bei der Hitze zu konzentrieren. Aber Sie wissen, Sir, Sie wissen, ich…" "Sie tun ihre Arbeit stets exakt und zuverlässig, ich glaube, ich weiss es langsam." Sein Blick hatte sich endlich von Josèphe gelöst und er sah nun Albert mit einem leichten Lächeln auf den Lippen an. Er kannte seinen Aufseher nur allzu gut. Hatte er einmal begonnen etwas zu erzählen, konnte er nicht mehr aufhören. Andauernd wiederholte er sich und schweifte während dem Reden ständig vom Thema ab. Und irgendwann begann er davon zu erzählen wie exakt und zuverlässig er seine Arbeit mache. Es war immer das Gleiche. Eigentlich konnte man sich während seinen Schilderungen mit etwas ganz anderem beschäftigen und man bekam trotzdem alles mit, wenn man die letzten Sätze aufmerksam mit anhörte. Im Grunde genommen war er ja ein lieber Kerl, der Albert und es war amüsant im zuzuhören, doch hatte man es eilig, konnte es einen in den Wahnsinn treiben. "Ich bitte Sie, Albert, kommen Sie endlich auf den Punkt." "Aber gewiss, Sir. Entschuldigen Sie mich, aber Sie wissen ja, wie wichtig es für mich ist, dass man seine Arbeiten stets zu Ihrer vollen Zufriedenheit erledigt. Das tue ich doch, nicht wahr? Ich meine, ich mache meine Arbeit jeden Tag, und damit meine ich jeden Tag, ohne irgendeine Ausnahme, also immer mache ich…" "Albert ich bitte Sie… Erzählen Sie mir endlich warum Sie diesen Burschen mitgenommen haben. Ich kann mich nicht entsinnen, Ihnen erlaubt zu haben, einen Arbeiter mitzubringen." "Ja, Sir. Nun, bitte erschrecken Sie nicht gleich, denn es mag in Ihren Ohren wahrscheinlich seltsam klingen, aber dieser junge Mann hier, ist als Ihr Nachfolger durchaus sehr qualifiziert." "Wie bitte?" Raymond schaute entgeistert den Aufseher an, der nun komplett durchgeknallt zu sein scheint. Auch Josèphe hatte überrascht aufgeblickt. "Ich, entschuldigen Sie Albert, ich glaube, ich habe mich verhört. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass dieser, nennen wir ihn mal Arbeiter mich, Sir Louis Raymond, geborener Wallace vertreten kann. Sind Sie jetzt komplett übergeschnappt?" "Aber nein, Sir. Selbstverständlich könnte er Sie nicht ersetzen. Dies durchaus nicht. Aber ich denke, er wäre ein potenzieller Anwärter. Sie hätten sehen sollen, wie er es mit dem Metzger aufgenommen hat, Sie wissen, der dicke hässliche Mann. Ein ekelhafter Typ. Also wenn Sie mich fragen, ganz und gar nicht mein Geschmack, aber….." "Soso, mit dem Monsieur Grasse ?" Leicht beeindruckt blickte er den kleinen schmutzigen Jungen an. Dann schaute er wieder zu Albert. " Und aus diesem Grund soll er gleich dazu in der Lage sein, mein Amt zu übernehmen? Was denken Sie sich eigentlich, Sie…" "Nun, ich bin mir natürlich längst darüber im Klaren, dass er es nie so weit bringen wird, wie Sie, aber dennoch bleibe ich bei meiner Meinung. Sie wissen selbst, dass ihre Amtszeit bald vorbei ist. Immerhin sind Sie bald achtzig. Sie haben keine Kinder oder Verwandte, die als Nachfolger in Erscheinung treten könnten. Schauen Sie sich ihn an. Er hat Mut, Disziplin und er ist in einem Alter, wo er noch alles erlernen kann. Ich sage nicht, dass er gleich morgen Ihren Platz übernehmen muss, nein, dies durchaus nicht, aber wenn Sie einen, nur ansatzweise potenzieller Nachfolger wollen, müssen Sie sich langsam auf die Suche begeben." "Das heisst aber noch lange nicht, das man gleich den erstbesten nimmt, der einem über den Weg läuft. Warum sollte ich einen nehmen, der für mich arbeitet? Was sollen den die Leute denken?" "Wie ich schon sagte, ist er gut geeignet und ist darüber hinaus sehr fleissig und diszipliniert. Was mich zu dieser Wahl treibt, ist die Tatsache, dass ihn niemand kennt. Selbst unter dem Personal ist er unbekannt, niemand erinnert sich wirklich an ihn. Sie können einem nicht sagen, wer er ist. So könnte man vorgeben, er sei ein Bursche aus gutem Hause. Niemand würde gross etwas merken, vor allem die Bürger nicht. Ein Junge aus dem Dorf wäre viel bekannter, das gäbe nur dummes Geschwätz." "Nun, ich muss gestehen, ihr Vorschlag hört sich nicht übel an, Albert. Trotzdem muss ich mir die Sache noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen. Es handelt sich schliesslich um meinen Nachfolger. Bitte, Sie können gehen." "Gewiss Sir, es ist eine schwere Entscheidung, aber bedenken Sie.." "Ich weiss, ich weiss. Wie gesagt werde ich es mir überlegen. Bitte gehen Sie jetzt." "Aber wenn ich Ihnen noch eine Sache sagen dürfte,…." "Hinaus hab ich gesagt. Und zwar alle beide." So kam es schliesslich, dass Josèphe ins Schloss einzog. Er wurde mit prunkvollen Kleidern beschenkt, bekam kostbaren Schmuck und ein riesiges Schlafzimmer mit einem gigantischen Bett. Auch erhielt er Unterricht. Er lernte sich in englisch, deutsch und lateinisch auszudrücken, wurde in die Kunst der Mathematik eingewiesen und er vertiefte seine Kenntnisse in der französischen Sprache. Er lernte, wie man ein Volk regierte, wurde aber auch in Geschichte und Philosophie unterrichtet. Die Jahre vergingen und aus dem einstigen Sklaven wurde ein gutaussehender junger Mann, der sich wohlerzogen benahm. Bereits zwei Wochen nach dem Tod von Sir Louis Raymond, wurde er zum neuen Herrscher über das kleine Dorf Tairue. Durch verschiedene Handelszüge und Kämpfe erweiterte er sein Grundstück und neue Ländereien gelangten in seinen Besitz. Dann, im Sommer 1856 lernte er Carmen kennen und lieben. Bereits ein Jahr später heirate er sie und gleich darauf wurde sie schwanger. Bald darauf wurde die kleine Geneviève geboren. Doch dann, fünf Jahr nach der Geburt kam seine Frau bei einem tragischen Unfall ums Leben. Josèphes Leben änderte sich schlagartig und er zog sich immer mehr von der Öffentlichkeit zurück. Mit zwanzig Jahren lernte Geneviève einen jungen Bauernsohn kennen und verliebte sich in ihn. Josèphe mochte diesen Mann schon von Anfang an nicht leiden. Er war ein hinterhältiger arroganter Fiesling, der es nur auf das Geld abgesehen hatte. Doch Geneviève schien von all dem nichts zu bemerken und heiratete ihn ein Jahr später heimlich hinter seinem Rücken. Josèphe wurde daraufhin so zornig, dass er seine Tochter aus dem Schloss verbannte und jegliche Kontakte zu ihr abbrach. So lebte er, einsam und verlassen in seinem Schloss, bis vorhin, als man ihm mitteilte, dass seine Enkelin bald bei ihm leben würde.

*

Josèphe blickte stumm zum Fenster hinaus. Draussen hatte es begonnen zu schneien und eine feine weisse Decke lag über dem noch grünen Gras. Die Bäume hatten längst alle Blätter verloren. Eine leichte Brise wehte über den Hof und die Sonne war bereits untergegangen. Etwas düsteres, etwas melancholisches hatte dieser Anblick. Josèphe fröstelte. Kapitel 2 Es klopfte. "Ja bitte?" Ein älterer Mann in Dienstkleidung öffnete die Tür. "Entschuldigen Sie vielmals meine Störung, Sir, aber ich wurde beauftragt, Sie zu benachtrichtigen, dass Ihre Enkeltochter in Kürze eintreten wird." "Na und? Was schert mich diese ungezogene Göre? Zum Teufel mit ihr." "Aber Sir, wollen Sie sie denn nicht begrüssen?" "Sehe ich etwa so aus? Und nun schauen Sie, dass Sie hier verschwinden, aber schleunigst." Beschämt schloss der Mann die Tür und Josèphe sah ihm ärgerlich nach. Dann schritt er langsam zum Fenster. Er sah hinaus auf die nun weissen Wiesen. Auch die Bäume hatten nun eine weisse Haube bekommen und der Schnee glitzerte in der frühen Morgensonne. Es herrschte eine friedliche Atmosphäre. Plötzlich hörte Josèphe ein leises Geräusch. Noch weit entfernt sah man eine Kutsche, die sich langsam näherte. Josèphe schauderte. Nun war der Augenblick gekommen, wogegen er sich solange gewehrt hatte. Jetzt war er nicht mehr allein. Es war ihm, als hole ihn ein Stück seiner Vergangenheit, ein Stück Vergangenheit, dass nun seine Zukunft bestimmen wird. Er hatte sich damit abgefunden alleine zu sein, immerhin war es ja sein Entscheid gewesen. Seit dem Tod seiner Frau fing er an, sich immer mehr von der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Er besuchte keine Hochzeiten mehr, ging nicht mehr zum gemeinsamen Kartenspielen und gab auch keine Feste mehr in seinem Schloss. Mit der Zeit lebte er völlig isoliert vor sich hin. Wenn ein alter Kollege anrief, gab er vor, viel Arbeit zu haben. So zogen sich auch immer mehr seine Freunde von ihm zurück und sein Freundeskreis begann allmählich kleiner zu werden. Das Einzige, was er in dieser Zeit noch hatte, war seine geliebte Tochter Geneviève. Stundenlang konnte er mit ihr spielen. Sie war so ein liebes Kind gewesen. Nie hatte sie irgendwas angestellt, hatte immer brav mit ihren Puppen gespielt oder fleissig lesen geübt. Jeden Abend musste Josèphe ihr etwas aus einem Buch vorlesen und ihr die Buchstaben beibringen, die sie noch nicht kannte. Es wurde jeweils sehr spät, bis sie endlich Ruhe gab und schlief. Aber er liebte es. Er verwöhnte sie wie eine kleine Prinzessin, Geneviève bekam alles, was sie sich wünschte. Josèphe wollte ihr eine schöne Kindheit ermöglichen, schöner als er es gehabt hatte. Mit sechs Jahren erhielt sie dann Privatunterricht. Geneviève war ein sehr pflichtbewusstes Mädchen gewesen, das jeden Abend brav ihre Hausaufgaben erledigte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie abends oft Stunden damit verbringen konnte, vor dem Kamin zu sitzen und in einem Buch zu lesen. Sie war auch sehr neugierig. Josèphe lächelte. Ja, in der Tat, das war sie. Er wusste nicht wie viel Mal er ihr von den alten Römern und Griechen erzählte, von all den Mythen und Sagen. Er erzählte ihr von den vielen Göttern, die sie verehrten, von Zeus, dem Obergott, von Poseidon, dem Gott des Meeres und von Aphrodite, der Göttin der Schönheit. Auch berichtete er von der Sage Troja, von Napoleon Bonapartes und vielen weitern wichtigen historischen Geschehnisse. Geneviève liebte aber auch die Kunst, zeichnete für ihr Leben gern und spielt hervorragend Harfe. Er liebte seine Tochter, verehrte sie und war sehr stolz auf sie. Mit etwa zehn Jahren begann sie sich für die französische Geschichte, später auch für die englische Literatur zu interessieren. Einmal England zu besuchen, das war immer ihr grösster Traum gewesen. Josèphe wusste nicht, ob sie es jemals gemacht hatte. Doch dann kam Marcel. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass seine Tochter so einen Kerl heiraten würde. Marcel war ein einfacher Bauernjunge gewesen, der es liebte, den ganzen Tag faul rum zu liegen und andere herumzukommandieren. Ständig musste man hinter ihm herräumen, denn dort wo gewesen war, herrschte stets ein Riesendurcheinander und der gute Mann dachte keine Sekunde daran auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Doch das war nicht alles. Er war ein frecher und arroganter Fiesling, der ständig das letzte Wort haben musste. Josèphe versuchte oft Geneviève zur Vernunft zu bringen, ihr Marcel zu verbieten, doch vergebens. Als die beiden schliesslich hinter seinem Rücken heirateten, wurde er unglaublich wütend. Er schrie seine Tochter an, beschimpfte sie und warf sie darauf aus seinem Schloss. Nie wieder hatte er sie sehen wollen, so wütend war er gewesen. Geneviève hatte geweint und gebettelt, doch er blieb hart. Zu enttäuscht war er von ihr gewesen. Von diesem Augenblick an, sah er seine Tochter nie wieder und er wusste, dass es auch nie wieder passieren wird.

*

"So kleines Fräulein, bitte aussteigen. Wir sind da." Ein kleines Mädchen, mit blond gelocktem Haar stieg aus der Kutsche. Es blickte sich neugierig um. Dann sah sie den Butler an, der ihr aus der Kutsche geholfen hatte. "Bist du mein Opa?", fragte sie mit leiser Stimme. "Oh nein, mein Fräulein, ich bedaure. Ihr Grossvater ist noch in seinem Büro. Er wird Sie aber sicher bald begrüssen." "Warum ist er denn in seinem Büro. Ich dachte, er wird hier sein." "Nicht traurig sein, ich bin sicher, dass er noch ganz viel zu tun hat. Ja genau, er hat ziemlich viel zu arbeiten. Kommen Sie, ich bringe Sie erst einmal hoch." "Aber nein, ich will doch zuerst Opa begrüssen. Kann ich zu Opa gehen?" "Ich befürchte nein. Nun blicken Sie doch nicht so traurig, nein nicht weinen. Sie würden ihn nur stören. Aber bald gibt es Abendessen, dann sehen Sie ihn. Ganz bestimmt. Und nun kommen Sie, kleine Lady, Sie sind sicher erschöpft von der langen Reise. Ich schlage vor, wir gehen auf Ihr Zimmer und Sie können sich ein wenig erholen. Ich werde dann Anna vorbei schicken, sie wird Ihnen beim Umziehen helfen." "Das kann ich alleine, ich bin doch schon gross. Siehst du?" Sie streckte ihre kleinen Armen in die Luft. "Oh ja, das muss ich übersehen haben." Jean schmunzelte. Sie war ein so entzückendes kleines Ding, man musste sie einfach lieb haben. Er konnte nicht begreifen, warum Josèphe so ein Theater machte. Er wird ihm gut tun, mal wieder etwas frischen Wind um ihn zu haben. Irgendwann wäre er noch in seinem Büro versauert. Jean blickte auf das kleine Mädchen, das nun artig seine Hand genommen hatte und neben ihm herlief. Sie sah zwar aus wie ein Engel, doch Jean wusste, dass die Kleine alle ziemlich auf Trab halten wird, da war er sich sicher.

*

Josèphe hatte alles vom Fenster aus beobachtet. Nun war sie da, nun gab es kein zurück mehr. Verdammt, warum musste er das noch miterleben. Auf jeden Fall würde er jetzt nicht runtergehen und sie begrüssen. O nein, das machte er auf keinen Fall. So weit käme es noch. Es würde sie noch früh genug kennen lernen, leider viel zu früh. Er seufzte, setze sich in an seinen Pult und stütze seinen Kopf auf seine Hände. Sein Blick fiel auf ein Foto. Geneviève war darauf zu sehen. Sie hatte blonde Locken und ein umwerfendes Lächeln. Josèphe schluchzte. Warum musste sie sterben? Er hatte sie doch so sehr geliebt.

*

"Darf ich Sie zu Tisch geleiten, kleine Lady?" Jean nahm den Arm der Kleinen. In diesem Moment ging die Türe auf und Josèphe trat ein. "Oh, Sie hier? Ich habe Sie erst in fünf Minuten erwartet, Sir." "Nun, ich verspürte plötzlich ein wenig Appetit. Was gibt es den heute?" "Also, zur Vorspeise erwartet Sie eine feine Kräutercrèmesuppe mit ein wenig Schlagsahne. Zur Hauptspeise werden wir Ihnen ein zartes Lahmfilet mit köstlichem Reis und einer leichten Sauce servieren und zum Nachtisch gibt es ein vortreffliches Himbeer-Zitronen Mouse mit einem Hauch von Zimt überdeckt. Ich hoffe, er wird Ihnen munden. Übrigens, diese reizende kleine Lady hier, ist ihre Enkelin, Sir." Mit einer kleinen Handbewegung zeigte er aus Marie. "Das dachte ich mir schon", erwiderte Josèphe kühl und nahm Platz. "Opa." Die Kleine kam mit grossen Augen auf ihn zu und umarmte ihn. "Bitte lass das und setz dich hin. Wir wollen essen." "Endlich sehe ich dich. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen, aber das hast du nicht, oder? Nein ganz bestimmt nicht. Du glaubst nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen. Mama hat mir schon so viel von dir erzählt. Ich wollte dich ja immer mal besuchen kommen, aber sie wollte nicht. Sie sagte, du wollest sie nicht sehen. Ich habe ihr immer gesagt, du würdest dich bestimmt freuen, aber sie wollte trotzdem nicht. Aber nun bin ich hier und kann dich endlich einmal kennen lernen. Ach, ich freue mich ja so." Wieder umarmte sie Josèphe. "Jetzt lass das und setz dich endlich einmal hin." Seine Stimme war ärgerlich und hatte einen leicht ungeduldigen Ton. "Das macht mir nichts aus, wenn du mürrisch bist, " plapperte sie fröhlich weiter, "Es ist ja verständlich. Schliesslich musstest du ja arbeiten und du bist ja auch schon alt. Alte Menschen sind häufig mürrisch, hat Mama immer gesagt. Unser Nachbar, der Herr Rendain war auch immer mürrisch. Du musst dir nichts draus machen, Opa, ich bin es mir gewohnt. Mama hat immer gesagt, ich solle…." "Du setz dich jetzt augenblicklich auf diesen verdammten Stuhl und hältst endlich einmal die Klappe. Dein Geplauder ist ja nicht auszuhalten. JEAN..., Jean, bitte seien Sie so nett und sorgen Sie dafür das sich Marie endlich einmal an den Tisch setzt. Und bitte bringen Sie mir etwas gegen meine Kopfschmerzen." "Aber gewiss, Sir." Er nahm das Mädchen an der Hand und führte es an Ihren Platz. Stumm setzte sie sich hin, kleine Tränen kullerten über ihre Wangen. Das Essen wurde serviert. Schweigend assen sie, niemand sagte ein Wort. Die Kleine blickte stumm auf ihren Teller und stocherte lustlos darin herum. Josèphe blickte sie an. Es war ihm, als sitze Geneviève ihm gegenüber. Diese grossen blauen Augen, die blonden Engelslocken, die süsse kleine Stupsnase, Marie war das Ebenbild ihrer Mutter. Auch ihre redselige, aufgeschlossene Art hatte sie von ihr, nur das Aufdringlich, das war vom Vater. Aber sonst war sie perfekt. Sie sah aus wie ein kleiner Engel, wie Geneviève. "Armen gehören nicht auf den Tisch gestützt, merk dir das. Und wenn du nichts mehr essen willst, dann leg gefälligst die Gabel zur Seite und stochere nicht immer darin herum. Hast du denn noch nie etwas von Manieren gehört?" Josèphe sah sie ärgerlich an. Dann sagte er zu Jean gewandt: "Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe noch zu tun." Ohne ein weiteres Wort verliess er den Saal. "Opa mag mich nicht, hab ich recht?" Marie begann zu weinen, dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Eilends lieg Jean zu ihr hin und legte tröstend seinen Arm um ihre Schultern. "Aber nein, so etwas dürfen Sie nicht sagen. Er hasst Sie ganz bestimmt nicht, er ist nur….. er ist nur ein wenig überarbeitet, das ist alles. Er muss sich erst ein wenig an Sie gewöhnen, er war vorher doch ganz allein. Da ist es schon ungewohnt, wenn plötzlich jemand einfach da ist. Und jetzt hören Sie bitte auf zu weinen, das kann ich mir nicht ansehen. Sie haben doch so ein entzückendes Lächeln. Kommen Sie kleine Lady, kommen Sie, wir gehen zusammen in die Küche, der Küchenchef weiss bestimmt was gegen Tränen hilft. Ich könnte schwören, ich habe Plätzchen gerochen, als ich vorher hineinging. Kommen Sie, wir werden schauen, ob wir nicht ein paar bekommen."

Die Tage vergingen, ohne dass sich grossartig etwas änderte. Josèphe war immer noch schlecht auf seine Enkelin zu sprechen und er versuchte, ihr so wenig wie möglich zu begegnen. Einzig beim Essen traf er sie. Marie hatte es nach ein paar vergebenen Versuchen, mit dem Opa zu plaudern aufgegeben und hatte sich stattdessen mit Jean angefreundet. Oft leistet sie ihm beim Erledigen seiner Aufgaben Gesellschaft und halt ihm ein wenig. Stundenlang lachten und plauderten sie zusammen. Aber auch mit dem Küchenchef schloss sie Freundschaft. Wann immer sie ihn besuchte, bekam sie selbstgebackene Plätzchen oder Kuchen. Für seinen kleinen Gast hatte er immer eine Schüssel mit leckeren Sachen bereitgestellt. Oft half sie ihm auch beim Gemüse waschen oder kochen. Er lernte ihr, wie man mit einem Messer Kartoffeln in Stäbchen schnitt, wie man einen Kuchen backte oder Torten verzierte. Auch Anna, das Zimmermädchen, mochte die Kleine und hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen. Alle hatten Marie gern, alle, ausser Josèphe. Eines Tages aber, es war ein stürmischer Novemberabend, änderte sich die Situation ein wenig. Es war längst Abend und Marie schon brav im Bett. Josèphe hatte gerade spontan beschlossen, einmal bei ihr vorbei zu schauen. Leise klopfte er an ihre Zimmertüre. Natürlich nahm er an, dass sie längst schläft, umso überraschter war er, als er ein leises "Ja?" vernahm. Vorsichtig trat er ein. Die Kleine lag zusammengekauert auf dem Bett, mit grossen, tränengefüllten Augen blickte sie ihn an. Da war es um ihn geschehen. Er lief zu ihr hin und setzte sich neben sie. "Aber was hast du denn? Tut dir etwas weh?" "Ich vermisse meine Mama so. Wann kommt sie denn endlich wieder?" Josèphe sah sie an. Hatte man den ihr noch nicht erzählt, dass ihre Mutter tot war? Ihm blieb einfach auch nichts erspart. "Weißt du, die Mama ist jetzt an einem ganz schönen Ort. Der liebe Gott hat sie zu sich in den Himmel genommen. Sie sitzt jetzt bestimmt auf einer Wolke, und schaut auf dich herunter. Aber sie kann nicht glücklich sein, wenn du weinst." "Aber warum ist sie denn im Himmel?" "Weißt du, jeder Mensch muss einmal sterben, auch du und ich. Die einen früher, die anderen später, so ist es nun einmal. Aber das heisst noch lange nicht, dass die Mama jetzt für immer weg ist. Solang du immer an sie denkst, wird sie weiterleben und zwar genau hier, hier, in deinem Herzen." "Bist du sicher?" "Ganz sicher. Deine Mama wird jetzt zwar nicht mehr bei dir sein, aber sie wird dich nie alleine lassen, glaube mir, sie wird dich jetzt durch ein Loch im Himmel beobachten und immer bei dir sein, auch wenn du sieh nicht sehen kannst." Schweigend sah er sie an. Sie hatte noch immer Tränen in den Augen. Behutsam nahm er ihre Hand in die Seine. "Du Opa, wann ist eigentlich Weihnachten?" Weihachten, das hatte er total vergessen. Ihn schauderte. Seit dem Tod seiner Frau hasste er es. Eigentlich hatte er es ja noch nie wirklich gemocht, in seiner Kindheit hatte es für ihn keine Bedeutung. Seine Frau aber sah das ganz anders und bestand jedes Jahr auf ein riesiges Fest. Doch seit Carmen an jenem 24. Dezember ums Leben kam, hasste er es. Er feierte es nur noch seiner Tochter zuliebe. Seit ihrem Fortgang hatte er jedoch nie wieder einen Gedanken an dieses heilige Fest verschwendet und er hatte es auch nicht vor. Zu viele Gefühle und Erinnerungen würden damit hoch kommen und er war nicht stark genug sie zuzulassen. Er konnte kaum den Anblick Maries ertragen, den Anblick Genevièves. "Nun, ich denke, da musst du noch ein wenig Geduld haben müssen. Es ist erst der 25. November." "Ich freue mich schon darauf. Wir werden doch ein riesiges Fest feiern oder?" "Nein, ich denke nicht. Aber mach dir keine Gedanken darüber. Also schlaf jetzt, es ist schon spät. Gute Nacht und träum was Schönes." Ohne sich noch einmal umzudrehen verliess er das Zimmer und schloss behutsam die Türe. Was war sie doch für ein Engel.

3. Kapitel

Seit diesem Tag änderte sich Josèphes Verhalten Marie gegenüber schlagartig. Immer häufiger plauderte er mit ihr, führte sie durch das Schloss oder lehrte ihr wichtige Dinge. Er wusste nicht, warum er diesen kleinen Lockenkopf so in sein Herz geschlossen hatte, wahrscheinlich weil sie Geneviève so unglaublich ähnlich sah. Er konnte stundenlang einfach nur dasitzen und sie anschauen. Es war ihm, als sei seine geliebte Tochter zurückgekehrt. Vielleicht änderte sich sein Verhalten auch deshalb, weil er Schuldgefühle Geneviève gegenüber hatte. In den letzen Tagen hatte er oft darüber nachgedacht. Wie dumm er eigentlich gewesen war, seine Tochter aus dem Schloss zu jagen. Wie konnte er das jemals zulassen? Wie tief kann ein Mensch eigentlich noch sinken? Josèphe machte sich grosse Vorwürfe diesbezüglich. Wie gerne wäre er zu Geneviève gegangen und sie um Verzeihung gebeten, doch es war alles zu spät. Hätte er sich doch nur früher einen Ruck gegeben. Warum war er bloss so stur gewesen? Was hatte er eigentlich erwartet? Dass sie zu ihm kommt und sagt: "Ja Vater, du hattest Recht. Marcel ist nichts für mich, er ist genau so wie du gesagt hattest. Warum war ich bloss so blöd? Hätte ich doch auf dich gehört, du hast immer Recht. Nie wieder werde ich gehen." Er begriff jetzt, welch grossen Fehler er damals gemacht hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ihr den Mann zu verbieten? Er hätte sich seine Frau doch auch von niemand verbieten lassen. Hatte er nicht immer alles dafür getan, dass sie glücklich war? Es war doch schliesslich ihr Leben und Fehler machen gehört einmal dazu, daran kann man nichts ändern. Es tat ihm alles so Leid, doch es ist zu spät. Er hoffte, seine Tochter hatte ihm verziehen, ihm selber verzeiht es nie. "Opa, was machen wir heute?" Die Kleine blickte ihn fragend an. Josèphe lächelte. "Was hältst du davon, wenn ich dir mal das kleine Dörfchen zeige. Ich bin sicher, es wird dir gefallen." Marie nickte begeistert und wollte nun keine Sekunde mehr warten. Drängend zog sie Josèphe hinter sich her. "Hey, nicht so stürmisch, Prinzessin. Ich gebe noch kurz Jean Bescheid und lasse die Kutsche richten. Geh dich bitte noch umziehen, Anna wird dir was Passendes geben. "Och, muss das sein?" "Du willst doch nicht im Nachthemd erscheinen, oder? Das gehört sich nicht für eine feine Dame. Also geh jetzt. Je schneller du bist, desto eher können wir gehen." Das liess sich die Kleine nicht zweimal sagen und flitze sofort los. Der Gedanke wieder einmal das Dörfchen zu besuchen, war ihm ganz spontan eingefallen. Schon länger hatte er es eigentlich mal vorgehabt, doch irgendwie hatte er dann doch keine Lust. Josèphe hatte es schon lange nicht mehr besucht, so dass es allmählich mal an der Zeit war.

*

Marie kam keuchend bei ihrem Zimmer an und öffnete rasch die schwere Holztür. Anna war gerade dabei das Bett zu machen. "Opa hat gesagt ich soll mich umziehen." Anna drehte sich um und blickte auf das kleine Mädchen herunter, dass es ziemlich eilig zu haben schien. "Soso, hat er gesagt. Wohin geht ihr zwei denn?" "Er hat gesagt, er will mir das Dörfchen zeigen." "Das ist ja schön. Na dann kommen Sie mal her, kleine Lady. Wir wollen doch mal schauen, ob wir nicht was Hübsches für Sie haben." Sie nahm die Kleine bei der Hand und ging zu den Schränken hinüber. "So, was möchten Sie denn gerne anziehen?" "Den rosaroten Rock mit dem goldigen Schleifchen am Rücken", antworte sie eifrig. Lächelnd nahm Anna das gewünschte Kleidungsstück aus dem Schrank und gab es ihr. "Können Sie sich alleine anziehen oder soll ich Ihnen helfen?" "Helfen bitte, dann bin ich schneller fertig." Eilig reichte sie Anna das Kleid, die sofort begann, es ihr über den Kopf zu ziehen. " Du Anna, wie ist das Dörfchen so?" "Nun, es ist ein kleines hübsches Dorf nicht weit entfernt von hier. Es hat eine kleine Bäckerei, einen Lebensmittelladen, ein kleines Schmuckgeschäft, eine wundervolle Kapelle, ein Waisenhaus und ein hübsches Schwimmbad. Einmal wöchentlich, immer mittwochs findet ein grosser Markt statt. Sogar Händler aus den umgebenen Städten kommen vorbei, um ihre Ware an die Leute zu verkaufen. Ich sage Ihnen, auf dem Markt bekommt man alles, Lebensmittel, Schallplatten, Schuhe, Kleidungsstücke, Holzschnitzereien und dies und jenes. Es wird Ihnen ganz bestimmt gefallen." Anna zog den Reisverschluss hoch. "So, kleines Fräulein, wir sind soweit. Gehen Sie jetzt, Ihr Grossvater wartet bestimmt schon ganz ungeduldig auf Sie. Ich wünsche Ihnen viel Spass."

*

"Nun beeilen Sie sich doch ein wenig, meine Herren. Ich habe nicht vor, erst bei Dämmerung loszufahren. Was dauert denn hier so lange?" Ungeduldig kramte Josèphe seine goldene Taschenuhr aus dem Jackensack. "Man könnte meinen, Sie hätten noch nie Pferde vorgespannt. Ich bitte Sie, meine Herren, jetzt beeilen Sie sich doch ein wenig." "Wir tun unser Bestes, Sir. Die Pferde scheinen heute ziemlich kribblig zu sein." "Jetzt schieben Sie die Schuld doch nicht auf die armen Tiere. Hey Sie dort hinten, ja genau Sie, stehen Sie hier nicht so rum, sondern helfen Sie. Tout de Suite." Verständnislos schüttelte der Mann den Kopf und machte sich seufzend an die Arbeit. "Hier bin ich Opa. Können wir endlich gehen?" Josèphe blickte seine Enkelin an. Ihre blonden krausen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten worden, ihre blauen Augen glänzten im Sonnenlicht und ihre Wangen hatten sich vor Aufregung rot gefärbt. Er lächelte. Wie Geneviève, dachte er. Nach einer endlosen Viertelstunde waren sie endlich unterwegs. Die Kutsche fuhr eine schmale Strasse entlang, die ziemlich uneben war und so wurden Josèphe und Marie kräftig durchgeschüttelt. Links und rechts zogen weisse Wiesen vorüber und hie und da sah man einen einsamen Baum. Bald kamen sie in ein kleines Waldstück. Nur noch wenige Sonnenstrahlen fanden den Weg durch die Baumkronen, es wurde düster in der kleinen Kutsche. "Schau mal Opa, dort drüben ist ein Hirsch" Josèphe folgte ihrem Blick, doch er konnte nichts erkennen. "Wo denn?" "Jetzt ist es gerade verschwunden", antwortete Marie enttäuscht. Bald kamen sie aus dem Wald heraus, wo die Strasse schon wesentlich besser und breiter war. "Schau mal dort drüben, Marie. Siehst du den Kirchturm? Wir sind schon bald da." Die Kleine streckte sich, um ein wenig mehr sehen zu können. Josèphe nahm sie auf seinen Schoss und sie presste ihr Gesicht ans Fenster. Die Kutsche war in Tairue angekommen. Vorsichtig kletterte Marie dem Wagen und sah sich neugierig um. Auch Josèphe war ausgestiegen. "Also komm. Sehen wir uns hier einmal um. Ich möchte dir unbedingt die Kirche zeigen." Er nahm ihre Hand und schritt voran. Marie hatte Mühe seinem schnellen Schritt nachzukommen und so war sie, als sie ankamen, schon völlig ausser Atem. Josèphe öffnete die schwere Kirchentüre. Leise traten sie ein. "Schau mal dort drüben Marie, siehst du diese wundervollen Bilder? Komm, lass uns etwas näher heran gehen." Aufmerksam betrachteten sie das Bild. "Opa, warum ist dieser Mann an einem Kreuz?" "Das ist Jesus, kennst du ihn nicht? Man sagt, er sei der Sohn Gottes. Gott habe ihn auf die Erde geschickt, um Friede zu schaffen. Jesus zog von Ort zu Ort und predigte über den Herrn und heilte Kranke. Er konnte Blinde sehend machen und Taube hörend. Doch nicht alle Leute mochten ihn. Sie behaupteten er erzähle Lügen und stellten ihn als bösen Menschen dar. So kam es, dass er gekreuzigt wurde." "Aber tut denn das weh?" "Oh ja. Schau hier. Sie haben ihm die Nägel durch die Hände geschlagen. Siehst du? Und hier, schau, auch durch die Füsse haben sie welche getan." "Hat er geweint, der Jesus?" "Ich denke nicht. Er war ein starker Mann, er hatte den Tod nicht gefürchtet." "Aber warum haben sie so etwas getan? Das darf man doch nicht." "Weißt du, früher, da machte man noch ganz andere Dinge. Im Mittelalter hatte man Verbrechern zum Beispiel die Hände abgehackt, sie mit Steinen beworfen oder lebendig begraben. Früher, da waren eben solche Sachen noch erlaubt. Erst mit der Zeit wurden sie verboten. Doch die Menschen sind und werden immer grausam bleiben. Auch heute noch Leute auf die grausamste Weise umgebracht. So ist die Menschheit leider einmal. Hinterhältig, egoistisch und grausam. Komm wir gehen wieder." Das Sonnenlicht blendete sie und Marie musste blinzeln. Eine Weile liefen sie schweigen nebeneinander her. Im Dorf war nichts los. Nur hie und da hörte man eine Männerstimme oder das Geschrei eines Kindes. Sie bogen in eine kleine Seitengasse ab. Plötzlich kamen sie an einem ziemlich alten und grossen Haus vorbei. Einige Kinder sassen vor dem Eingang auf den Treppenstufen. Ihre Kleidung war schmutzig und hatte überall Löcher. "Wer sind die, Opa?", fragte Marie neugierig. "Das sind Waisenkinder, sie wohnen in diesem Haus." "Was sind Waisenkinder?" "Das sind Kinder, deren Mutter und Vater gestorben ist und bei niemandem wohnen können. Man nimmt sie im Waisenhaus auf, gibt ihnen einen Platz zum schlafen und essen, und man ermöglicht ihnen eine Schulbildung, damit sie später arbeiten können." "Bin ich auch ein Waisenkind?" "Nein eigentlich nicht, denn dein Vater lebt noch. Und ausserdem wohnst du ja bei mir. Sei froh, dass du nicht hier leben musst." Er verschwieg, dass er sie am Anfang genau hierhin schicken wollte. Langsam gingen sie die Strasse entlang. Es stank nach Kot, Schweiss und Erbrochenem. Die Häuser waren schmutzig, überall war Dreck. Einige Hühner suchten nach Körner und ein Hund sprang herum. Weiter hinten sass eine ältere Frau unter einem Baum. Ihr Rock war ganz zerrissen und schmutzig. Sie lächelte höflich, als die beiden vorbei liefen. Sie hatte nicht mehr alle Zähne, und die, die sie noch besass waren gelb. "Und wer ist das?" "Komm lass uns gehen. Das ist nichts für dich." Doch Marie war schneller. Sie riss sich von Josèphe los und lief zu der Frau hin. Vorsichtig gab sie ihr die Hand. "Ich bin Marie und wer bist du?" "Das freut mich Marie. Nenn mich einfach Schura, mein Kind", antwortete die Frau kaum hörbar. "Das ist aber ein komischer Name." "Nun ja, er kommt aus dem russischen. Weißt du, ich wohnte früher dort." "Und warum bist du jetzt hier in Frankreich?" "Geboren bin ich in Achangelsk, einer grossen Stadt im Norden. Meine Familie war sehr arm. Nie hätten wir ein so schönes Kleid kaufen können, wie du eines trägst, dafür fehlte uns das Geld. Wir hatten kaum welches um jeden Tag etwas Essen zu kaufen. Meine Schwester und ich hatten immer fürchterlich Hunger, und so sind wir den weiten Weg in die Stadt gelaufen, um zu betteln. Oft bekamen wir nur sehr wenig, doch wir waren glücklich überhaupt etwas zu haben. Wenn uns jemand etwas gab, war das für uns wie Weihnachten. Wir haben uns ab einem Stückchen Brot so gefreut, so etwas kann man sich heute schon gar nicht mehr vorstellen. In die Schule konnten wir nicht, wir mussten zu Hause auf dem Feld helfen. Bei schönem und schlechtem Wetter mussten wir draussen arbeiten, sogar wenn wir krank waren. Trotzdem war unserem Vater ein wenig Schuldbildung sehr wichtig, und so kam es, dass er uns Abend für Abend lesen und viele andere Dinge lehrte. Ja, unser Vater war nicht dumm. Als ich fünfzehn Jahre alt wurde, beschlossen meine Eltern mich wegzuschicken. Sie fanden, es wäre an der Zeit, dass ich eigenes Geld verdiene. Ich wurde ihnen zu teuer, sie konnten sich meinen Unterhalt nicht länger leisten. So wurde ich nach Frankreich zu einer reichen Familie gebracht, wo ich als Hausmädchen arbeiten konnte. Ich wurde sehr schlecht behandelt, doch ich gab nicht auf, denn ich wusste, dass meine Familie auf mich angewiesen ist. Jeden Monat schickte ich ihr die Hälfte meines Lohnes, obwohl es sehr wenig war. Nach zwanzig Jahren wurde ich entlassen, fand dann aber rasch als Näherin wieder eine Arbeit. Doch es wurde immer schwieriger zu leben. Mit dem niedrigen Lohn, musste ich mir nicht nur ein Dach über dem Kopf finanzieren, sondern auch Kleidung und Nahrungsmittel. Oft gab es Tage, da habe ich nichts gegessen, weil ich einfach nichts kaufen konnte. Wie jeder Mensch, wurde auch ich einmal älter. Doch mein Geld reichte immer noch hinten und vorne nicht. Ich musste mein Häuschen verkaufen. Etwa vier Jahre lang lebte ich unter einer Brücke, noch heute befindet sich dort mein Schlafplatz. Schau mich nicht so entsetzt an. Im Sommer ist es ganz gemütlich dort, aber jetzt im Winter ist es schon ziemlich kalt. Doch was soll ich machen? Ich bin schon froh, wenn ich am Tag überhaupt was essen kann. "Marie kommst du endlich, wir wollen weitergehen." Ungeduldig zückte Josèphe die Taschenuhr. "Schon bald sechs. Nun wird es aber Zeit. Man wartet bestimmt schon mit dem Abendessen auf uns. Komm, es gibt Hähnchen, dein Lieblingsessen." "Ja gleich", antwortete sie und wandte sich wieder der Frau zu. "Was wirst du heute zu Abend essen?" "Ich weiss es noch nicht. Bei Dämmerung werde ich durch die Gassen ziehen. In den Mülltonnen findet sich oft noch was Brauchbares. Du weißt gar nicht, wie verschwenderisch manche Leute sind. Ganze Brote werfen sie manchmal fort. Aber mir soll's ja Recht sein." "Aber was machst du, wenn du nichts findest?" "Dann werde ich Gott bitten, mich morgen etwas Essbares finden zu lassen." Marie sah sie entsetzt an. "Weißt du was?", sagte sie dann," komm doch mit uns. Wir haben doch immer viel zu viel. Und der Küchenchef kocht ganz hervorragend." Sie schaute zu Josèphe, der mahnend auf seine Taschenuhr zeigte. "Opa, heute haben wir einen Gast." "So haben wir?". Josèphe zog seine Augenbrauen hoch. "Ja ich habe Schura eingeladen. Sie hat nichts zu essen, weißt du. Ausserdem ist doch bald Weihnachten." "So Weihnachten? Nun ja, ich weiss nicht… ich mag keine…." "Ach bitte." Mit grossen Augen sah sie ihn an. Josèphe kam langsam auf die beiden zu. Nach einer Weile sagte er: " Also, meine Damen. Das Essen wird nicht besser, wenn wir noch lange warten. Kommen Sie, ich helfe Ihnen."

Kapitel 4

"Sind sie ganz sicher?" Nervös lief Josèphe in seinem Büro auf und ab. "Nun, ich fürchte schon, Sir." "Aber das kann doch nicht sein, sicher haben Sie nicht richtig geschaut." "Ich bedauere, doch das Geld ist spurlos verschwunden." " Wie kann so etwas denn sein? Ich habe es doch eigenhändig hier, hier auf diesen Tisch gelegt. Wie kann soviel Geld einfach verschwinden?" "Wir vermuten, dass es Diebstahl war." "Diebstahl? Hier in meinem Schloss? Das darf doch nicht wahr sein. Durchsuchen Sie sofort das Personal." Josèphes sonst streng gestutzter Schnurrbart hatte sich leicht gekräuselt. Der rundliche Mann sah ihn durch seine Brille an. "Das haben wir bereits, doch es wurde nichts gefunden." "Ja, Herrgott noch mal. Wer soll es denn sonst haben. Sie wollen doch nicht noch behaupten, ich hätte es am Ende noch verlegt?" "Oh nein, auf keinen Fall, Sir. Wir haben in der Tat einen Verdächtigen." "Ja dann sagen Sie schon. Wer?" "Nun, wir glauben, dass diese alte Dame dahinter steckt. Sie wissen, die, die letztens hier war." "Sie meinen Schura?" "Äh, ja genau. Doch bisher sind wir noch nicht dazu gekommen, sie zu durchsuchen. Doch, ich verspreche Ihnen, Sir, wir werden uns noch heute darum…" "Gar nichts werdet ihr." Josèphe sah ihn böse an. " Ich erlaube mir, selbst mit ihr zu sprechen." Der Mann sah ihn verwundert an. "Aber selbstverständlich, Sir", antwortete er leicht irritiert, "Wenn Ihr meint, aber…" "Nichts aber. Bitte geht jetzt." "Wie Sie wünschen." Eine Weile sah es Josèphe noch verwundert an, als erwarte er, dass er es sich doch noch anders überlegen würde. "Auf was warten Sie? Ich habe gesagt Sie können gehen. Der Türe ist dort." Eilig ging der Mann hinaus. Erschöpft liess sich Josèphe auf den Stuhl fallen. Er seufzte. Nicht wegen des Geldes, nein. Klar war es viel, was ihm gestohlen worden war, doch das war ihm egal. Er besass ja ohnehin genug davon. Nein, es ging ihm viel mehr um Schura. Er wusste nicht, was mit ihm los war, doch irgendwie hatte er sie ins Herz geschlossen. Josèphe musste zugeben, dass er ihre Gesellschaft als höchst angenehm empfunden hatte. Sie war zwar einsam und allein, hatte weder Freunde noch Geld, aber dennoch war sie eine höchst amüsante Frau. Sie war nicht besonders intelligent und gebildet, dennoch verstand sie es, den Zuhörer in ihren Bann zu ziehen. Schura war eine sehr herzliche und temperamentvolle Frau, man musste sie einfach gern haben. Als er sie zum ersten Mal sah, war er wenig begeistert. Er konnte sich noch genau erinnern, wie sie am Boden sass, inmitten von Dreck. Wäre Marie nicht gewesen, wäre er nie auf die Idee gekommen diese Frau anzusprechen, ihr zu helfen, geschweige denn, sie einzuladen. Er musste zugeben, dass er Menschen nach ihrem Äusseren beurteilte. Schon immer hatte er dies gemacht. Vielleicht deshalb, weil er es selber auch immer wurde. Selten hatte jemand mit ihm gesprochen, nur dann, wenn er ihn herumkommandieren konnte. Und das war sehr oft der Fall. Josèphe dachte oft an die alte Zeit zurück. Er war stolz auf das, was er in seinem Leben erreicht hatte. Er hatte zwar oft von einem eigen Schloss geträumt, doch nie hätte er gedacht, dass es einmal so weit kommen würde. Eigentlich hatte er Menschen schon immer verabscheut, immer, bis er seine Frau kennengelernt hatte. Dank ihr hatte er gelernt mir Menschen umzugehen, mit ihnen zu reden und sie zu schätzen. Als er damals erfuhr, dass sie schwanger war, war er der glücklichste Mann auf Erden. Josèphe liebt seine Tochter von Anfang an, sie war das grösste Geschenk für ihn. Doch als seine Frau starb, änderte sich sein Leben schlagartig. Er war bis jetzt noch nicht über den Tod hinweg und als auch noch seine Tochter ging, brach für ihn die Welt zusammen. Oft dachte Josèphe in dieser Zeit, wie es wäre, nicht mehr zu leben, im Himmel bei seiner geliebten Frau zu sein. Doch irgendetwas hielt ihn zurück, der Wille sich an den Menschen zu rächen, zu rächen für das, was sie seiner Familie angetan hatte. Für ihn war es schon von Anfang an klar gewesen, dass die Menschen hinter dem Schicksal standen. Bei seiner Frau war es der Kutscher, der sie nicht sah, bei seiner Tochter, war es Marcel, der sie aus seinem Leben riss. Es begann sich Hass und Wut in ihm zu bilden und er schwor sich, sich irgendwann zu rächen. Doch dann kam Marie, ganz unerwartet, ganz plötzlich. Er nahm sich vor, sie zu demütigen und zu hassen, damit man sie wieder fortschickte, doch die Kleine machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er entwickelte Gefühle für sie, er wollte sie beschützen, immer für sie da sein. Er liebte sie, genau wie Schura. Josèphe stand auf. Er musste es heute noch hinter sich bringen, er musste einfach Gewissheit haben.

*

"Hier Schura, für dich." Marie streckte der Frau einen Umschlag entgegen. "Was, für mich? Das ist aber lieb von dir." Sie lächelte die Kleine an. Neugierig kuckte sie hinein. "Aber …das ist ja…..Mein liebes Kind, woher hast du denn soviel Geld?" "Ach weißt du…das ist…äh…das ist von Opa." Schura sah sie ungläubig an. Nie hatte ihr jemand etwas geschenkt, alles hat sie sich immer selber erarbeitet. Weshalb sollte so ein hoher Mann, ihr, einer schmutzigen und ungebildeten Frau soviel Geld schenken. Sie musste zugeben, dass sie jenen Abend als sehr angenehm empfunden hatte. Sie hatte es genossen, einmal in ihrem Leben so verwöhnt zu werden. Noch nie hatte Schura soviel und so leckeres Essen bekommen. Und Josèphe war wirklich ein ausgezeichneter Gastgeber gewesen. Er hatte ihr das Schoss gezeigt und ihr Kunstwerke erklärt. Sie kam sich wie etwas Besonderes vor, zum ersten Mal hatte sie sich wie eine ganz normale Frau gefühlt. Selten hatte sie soviel gelacht. Josèphe erwies sich als ein sehr humorvoller Mann mit weitem Horizont. Sie wusste, dass er sich nie für sie interessieren würde, doch sie musste zugeben, dass sie es sich so sehr wünschte. "Von Josèphe? Aber ich verstehe nicht…weshalb sollte er mir soviel Geld geben?" "Na, heute ist doch Weihnachten. Es ist ihm eine Freude, dich glücklich zu machen." "Übrigens, wenn wir gerade von Josèphe sprechen, ist nicht er das, dort hinten?" "Was?" Entsetzt schaute sich Marie um. "Oh nein, ich muss mich verstecken, er darf mich hier nicht sehen. Sag ihm nicht, dass ich hier bin. Bitte." Eilig lief sie hinter einen Stapel Holz. Schura schaut ihr irritiert nach. Doch sie hatte keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen, denn schon war Josèphe da. "Guten Tag Schura. Wie geht es Ihnen?" "Den Umständen entsprechend gut, vielen Dank. Und Ihnen?" "Nun es könnte besser…Was haben Sie denn da auf ihrem Schoss? Ist das…das ist doch nicht etwa…. Vorher haben Sie dieses Geld, wenn ich fragen darf?" Schura blickte ihn an. Was zum Teufel war hier eigentlich los? "Ich…. Aber …Sie…Sie haben es mir doch gegeben." "Aha. Und wann soll das gewesen sein? Sind Sie sicher, dass Sie es nicht einfach genommen haben?" "Ich bitte Sie. So etwas würde ich nie tun. Was erlauben Sie sich eigentlich? Ich bin zwar arm, aber stehlen würde ich nie." "Und woher kommt dann dieses Geld?" Schura begriff langsam. Marie hatte sie angelogen. Das Geld war gar nicht von Josèphe, dass hatte sie nur erfunden. "Nun, meine Liebe, schweigen Sie ruhig. Das bringt Sie jetzt auch nicht mehr weiter. Wie konnten Sie mir das antun, nach all dem, was ich für Sie getan habe. Sie haben von mir Essen bekommen, ich habe Ihnen neue Kleidung geschenkt, sie bei mir übernachten lassen und das ist jetzt also der Dank dafür? Das hätte ich nie von Ihnen geglaubt. Vielleicht haben Sie es ja nicht gemerkt, aber ich habe Sie gemocht, mehr als gemocht. Ich bin enttäuscht von Ihnen, masslos enttäuscht." Scheu blickte Schura ihn an. "Sie….Sie haben mich gemocht?" "Ja, sehr sogar, bis ich festgestellt habe, dass Sie eine Diebin sind. Sie kommen dafür ins Gefängnis, meine Liebe. Darum werde ich mich eigenhändig kümmern." "Nein, Opa, Schura kann nichts dafür, dass war doch alles meine Schuld." Weinend kam Marie hinter dem Holzstapel hervor. Josèphe starrt sie an. "Ja was zum Teufel machst denn du hier? Ich dachte, du wärst auf deinem Zimmer." "Ich habe das Geld gestohlen, ich war es." "Du hast das Geld genommen? Aber warum? Warum, Marie? Habe ich dir nicht alles gegeben was du wolltest?" "Immer geht es nur um uns, Opa. Warum kannst du nicht auch mal an andere Menschen denken? Warum können wir das Geld nicht Schura geben? Wir haben doch soviel und sie hat nichts. Letztens hast du mir doch von Jesus erzählt. Er hat auch immer alles geteilt. Ausserdem ist doch heute Weihnachten. Mama hat mir immer gesagt, Weihnachten sei dann am Schönsten, wenn alle glücklich sind. Weihnachten sei nicht nur ein Fest, wo man Geschenke bekommt, sondern es ist ein Fest der Freude und Fröhlichkeit. Niemand sollte an Heiligabend alleine sein. Ich habe ihr das Geld gegeben um ihr eine Freude zu machen. Ich weiss ich hätte dich fragen sollen, doch ich hatte Angst, dass du mir es nicht erlauben würdest. Ich habe nichts Böses gewollt, ganz bestimmt nicht. Aber sie ist doch immer so einsam und allein. Sie hat nichts, keine Freunde und keine Familie." "Aber…aber sie hat doch….uns." Josèphe ging langsam auf die Frau zu. "Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Wir wollen doch schliesslich nicht das Weihnachtsessen verpassen." "Sie feiern Weihnachten?" Schura schaute ihn überrascht an. "Ich muss zugeben, ich habe mich wie ein Volltrottel benommen. Doch ich glaube, ich habe den Sinn von Weihnachten kapiert." Zärtlich legte er seine Hand auf Maries Kopf. "Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass diese kleine Dame hier mein Leben so auf den Kopf stellt." Er lachte. "Warum willst du jetzt plötzlich doch Weihnachten feiern?" Neugierig schaute Marie ihn an. "Du hast ja gesagt, dass an Weihnachten alle glücklich sein sollten. Und ich kann nicht glücklich sein, wenn ihr jetzt nicht kommt." Zu Schura gewandt sagte er: "Ich hoffe, Sie verzeihen mir. Bitte machen Sie mir die Freude und leisten Sie uns Gesellschaft." "Aber mit Vergnügen."

Eingereicht am
15. April 2007

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