Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
Unser Buchtipp

Weihnachtsgeschichten Band 2

Weihnachtsgeschichten
Band 2
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-03-6

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Bernhardts Wandlung

© Petra R. Müller

Den ganzen Tag über war frischer Schnee vom Himmel gefallen. Er hatte Häuser und Wege mit einer dicken Schicht überzogen, die sich auch auf den Straßen hartnäckig gegen den Autoverkehr behauptete. Kein schmutzig grauer Matsch verunreinigte das Gesamtbild der Landschaft. Ein Winterparadies konnte nicht schöner aussehen.

Bei jedem Schritt knirschte die weiße Pracht unter Bernhardt Volkers Füßen. Er ging in Richtung Innenstadt, wo alle Laternen der Hauptstraße mit bunten Lichterketten verziert worden waren und leuchtende Buchstaben die Worte "Frohe Weihnachten" formten.

Sein Weg führte ihn durch eine kleine Wohnanlage. Er schaute sich gerne die gepflegten, mit allerlei Zierrat versehenen Bungalows an. In fast jedem der Vorgärten brannten elektrischen Kerzen auf schneebedeckten Tannenbäumen und brachten das Glitzern der Eiskristalle erst richtig zur Geltung.

Bernhardt genoss es, den Zauber des Winterabends zu bewundern. Doch als er aus einem der Gebäude lärmend aggressive Musik vernahm und kurz danach hörte, wie Bewohner eines anderen Hauses laut miteinander stritten, war die fesselnde Magie verflogen.

Bestürzt versuchte er sich vorzustellen, welche Menschen dort leben mögen.

Sie hatten sich so viel Mühe gegeben, ihre Gärten zu schmücken und bestimmt erwarteten sie zum Fest ein heiles Familienleben. Doch mit Zank und Radau würden auch die aufwendigsten Vorbereitungen keine Harmonie herbeiführen können.

Bernhardt war froh, alleine zu leben.

Früher hatte er manchmal seinen Bruder besucht. Doch in dem Moment, als er ihn darauf aufmerksam machte, dass dessen Frau ihr Geld nutzlos verplempere, hatte er Ärger mit ihm bekommen.

"Es geht dich nichts an! Reicht es denn immer noch nicht, dass du bisher jeden, der mit dir näher in Verbindung stand, mit deinem unerträglichen Geiz verjagt hast?", wurde er barsch zurückgewiesen.

Diese Vorhaltung empfand Bernhardt als gemein und ungerechtfertigt zugleich. Sie verletzte ihn tief. Beleidigt dachte er, dass es wohl für alle das Beste sei, wenn er sich von seinen Mitmenschen weitestgehend zurückzog.

Seine Beziehung zum Geld sah er als ganz normal und vernünftig an. Jeder Betrag, den er ausgab, wurde vorher sorgfältig überprüft. Auch die raffinierteste Werbung vermochte ihn nicht dazu verleiten etwas zu kaufen, auf das er verzichten konnte.

Angewidert sah er mit an, wie die meisten Bürger ab Anfang Dezember in einen regelrechten Kaufrausch gerieten. Als ob es etwas umsonst gäbe, hetzten sie sich ab und schleppten mehrere Plastiktüten in beiden Händen haltend zu ihrem Auto.

Der Umsatz in den Läden stieg sprunghaft in die Höhe.

Bernhard fragte sich, was das mit Weihnachten zu tun hatte?

Wer kümmerte sich noch um den ursprünglichen Sinn des Festes?

Wussten die Kinder heutzutage überhaupt, was gefeiert wurde, oder war es ihnen egal, solange ihre Geschenke nur großzügig und teuer genug ausfielen?

Weil die Geschäfte in der Innenstadt schon geschlossen hatten, liefen nur noch wenige Menschen umher. Auch Autos sah man selten auf der Hauptstraße fahren. Die einkehrende Ruhe und die beleuchteten Schaufenster luden zu einem Stadtbummel ein.

Aus einer nahe gelegenen Kirche erklang leise Orgelmusik und verzauberte mit ihren Klängen die gesamte Umgebung in einen Ort der Andacht. Auch Bernhardt konnte sich der besinnlichen Atmosphäre nicht entziehen. Sie lenkte von seinen quälenden Gedanken ab und erinnerte ihn an seine Kindheit, als er noch an den Weihnachtsmann mit seinem fliegenden Schlitten geglaubt hatte.

Vor dem Fenster des Spielzeugladens stand ein kleines Mädchen. Nirgends konnte Bernhardt eine Begleitperson entdecken. Neugierig geworden, ging er zu ihm.

"Nanu, junge Dame, so spät noch unterwegs? Solltest du nicht schon längst zu Hause sein?", sprach er sie an.

Das Mädchen drehte sich um und sah ihn traurig an. Tränen rannen über sein Gesicht. Bernhard hielt für einen kurzen Augenblick den Atem an.

Dieses Kind sah aus wie ein Engel. Es erinnerte auffallend an jene Bilder von himmlischen Wesen, die vom Altar aus auf gläubige Besucher der Kirche herabblickten. Goldglänzende Locken umrahmten das ovale Gesicht der Kleinen. Dunkelbraune Augen blickten ihn mit entwaffnender Ehrlichkeit an. Die Schneeflocken, welche auf das Haar des Mädchens niederfielen, glitzerten wie Edelsteine und verliehen ihm ein märchenhaft sanftes Aussehen.

Zu Bernhardt gewandt, begann es zu erzählen.

Ihre Mutter war auf einen Betrüger hereingefallen. Alle Ersparnisse, mit denen sie zu Weihnachten Geschenke einkaufen wollte, waren verloren. Was nutzte es ihr, dass die Polizei den Betrüger gefunden und festgenommen hatte? Das erschwindelte Geld war längst ausgegeben gewesen. Bei dem Verbrecher konnte man nichts holen. Er besaß kaum mehr, als er auf dem Leibe trug.

Für sie und ihren Bruder bedeutet es aber, dass sie in diesem Jahr ohne Weihnachtsgeschenke auskommen müssen.

"Mama ist deswegen sehr traurig. Damit sie sich nicht noch mehr Vorwürfe macht, habe ich mich heimlich davongeschlichen und schaue mir nun im Schaufenster das an, was wir uns zum "Heiligen Abend" gewünscht hatten. Hier kann ich wenigsten ein bisschen davon träumen."

"Ja glaubt du denn nicht an den Weihnachtsmann?", fragte Bernhardt verwundert. "Der ist doch für die festlichen Gaben zuständig."

"Bei uns hat er sich noch nie blicken lassen", antwortete das Mädchen spontan. "Bisher musste immer Mama alles besorgen. Zwar sagt sie jedes Mal, das Christkind habe die Geschenke gebracht, doch ich weiß ganz genau, wo Mutti die Pakete versteckt, bevor diese unter dem Weihnachtsbaum liegen."

Gemeinsam mit dem Mädchen betrachtete Bernhard die Auslage des Spielzeugladens. Ganz nebenbei erfuhr er, dass es Angelika hieß. Nachdem sie sich ausgiebig über jedes einzelne Ausstellungsstück unterhaltet hatten, begleitete er das Kind nach Hause.

Die Kleine schlich sich auf dem gleichen Weg in ihr Zimmer zurück, den sie genommen hatte, als sie es heimlich verließ. So, dass ihre Mutter von dem unerlaubten Ausflug nichts bemerkte.

Am anderen Tag erkundigte sich Bernhardt etwas genauer über die Familie der kleinen Ausreißerin.

Es tat ihm leid erfahren zu müssen, dass ihr Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen war und seitdem sich die Mutter und ihre Kinder stark einschränken mussten.

Bernhardt hatte eine Idee, wie er Angelika und ihrem Bruder doch noch zu einem frohen Weihnachtsfest verhelfen konnte.

Für ihn war es ganz einfach, beiden Kindern zu helfen.

Bernhardts Herz hätte aus Stein sein müssen, wenn ihn die Geschichte des Mädchens unberührt gelassen hätte. Er war kein gefühlloser Geizkragen, auch wenn viele Leute das von ihm annahmen. Entschlossen leitete er alles in die Wege, um seine Idee zu verwirklichen.

Es war bereits der dreiundzwanzigste Dezember.

Alle Studenten, die sich gerne etwas dazu verdienten, indem sie sich als Weihnachtsmann verkleideten und Kinder von zahlungskräftigen Eltern besuchten, waren längst ausgebucht gewesen und passende Kostüme konnten auch nicht mehr ausgeliehen werden.

Weil ihm nichts anderes einfiel, schnitt Bernhardt aus starkem Karton Engelsflügel aus, beklebte diese mit goldfarbenem Bastelpapier und befestigte sie an seinen besten Anzug.

Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass er aussah, wie das weltweit komischste Christkind, das jemals auf die Menschheit losgelassen werden sollte.

Bernhardt hatte einen nicht zu übersehenden Bauchansatz, Stirnglatze und zusätzlich zierte ein dicker Schnauzbart sein Gesicht. Dies in Verbindung mit Engelsflügel zu sehen war ein Gegensatz, der unweigerlich zum Schmunzeln anregte.

Deshalb befürchtete er, dass Angelikas Mutter ihn gar nicht erst ins Haus lassen würde, wenn sie ihn so sah. Er ähnelte eher einem schlecht verkleideten Teufel als dem Christkind.

Doch er ließ es darauf ankommen. Zu sehr hatte er sich schon darauf gefreut, dieser Familie ein glückliches Fest zu bereiten.

Der Heiligabend kam.

Bernhardt spürte wie sein Herz heftig pochte, als er an der Eingangstür des Hauses stand, in dem Angelika wohnte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Lampenfieber.

Die Mutter des Mädchens öffnete und sah ihn ungläubig an. Auf keinem Fall wollte sie diesen merkwürdigen Menschen in ihr Haus lassen. Noch einmal würde sie nicht auf die Masche von fremden Leuten hereinfallen und auf so einem Witzbold schon gar nicht!

Angelika rettete die Situation.

Neugierig geworden, warum ihre Mama am Hauseingang so energisch sprach, ging sie zur Tür und fiel Bernhardt jauchzend um den Hals.

"Ich wusste es. Ich hoffte die ganze Zeit, dass du kommst. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mir das gewünscht habe!", rief sie aufgeregt.

Gleichzeitig zog sie ihren neuen Bekannten ins Wohnzimmer.

"Darf ich auch einmal erfahren, was hier los ist?", fragte Angelikas Mutter erstaunt. Sie wunderte sich, woher ihr Kind diesen Mann kannte.

"Nicht alles", antwortete Bernhardt und zwinkerte dem Mädchen zu. "Sagen wir einfach, Ihre Tochter hat das Christkind kennen gelernt. Wie und wo, bleibt unser Geheimnis."

Bei der Vorstellung, als was dieser Herr sich ausgab, verlor die Frau ihre innere Abwehr gegenüber dem fremden Menschen und musste herzhaft lachen.

"Tut mir leid, aber bis jetzt habe ich mir das Christkind immer anders vorgestellt. Irgendwie leichter, schwebender und wesentlich jünger", erwiderte sie mit breitem Grinsen.

"Ich bin ja auch nur als Ersatz eingesprungen", rechtfertigte sich Bernhardt. "Heute ist so viel zu tun, da dachte es, ich könne ihm ruhig den Dienst erweisen und seine Vertretung übernehmen. Aber es lässt euch alle recht herzlich grüßen".

Während er sprach, griff Bernhardt in den mitgebrachten Sack und zog für jedes Kind zwei hübsch eingepackte Pakete heraus. Diese sorgten augenblicklich für leuchtende Augen. Bevor die Mutter es verhindern konnte, hatten beide Kinder ihre Pakete schon aufgerissen und stießen kleine Schreie des Entzückens aus. So reichhaltig waren sie noch nie beschenkt worden. Mochte das Christkind aussehen wie es wolle, sie würden ihm immer dankbar sein Am Ende der Bescherung erhielt auch Angelikas Mutter ein kleines Schächtelchen.

"Bitte machen sie einem alten Mann die Freude und nehmen sie diese Kleinigkeiten ohne Misstrauen an, sie kommen von Herzen und verpflichten zu nichts. Viel zu lange habe ich nur darauf geachtet, dass mein Kontostand wuchs. Dabei vergaß ich ganz, dass es nur Zahlen sind, die meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchten. Man kann sie weder essen, noch kleiden sie einem gut. Erst ihre kleine Tochter zeigte mir, worauf es im wirklichen Leben ankommt. Sie können zu Recht stolz auf sie sein."

Mit diesen Worten wollte sich Bernhardt von der sprachlos gewordenen Frau verabschieden, damit ihre Familie in Ruhe ein schönes Weihnachtsfest feiern konnte. Doch sie hielt seine Hand fest umklammert.

"Ich kann sie doch nicht so einfach wieder gehen lassen", kam ihr Protest. "Erst erscheinen Sie wie ein Geist, bringen die schönsten Sachen mit und dann wollen Sie einfach wieder verschwinden. Das lasse ich nicht zu. Sie müssen mir einiges erklären!"

Bernhardt beruhigte die Dame und nahm ihre Einladung zum Mittagessen für den darauf folgenden Tag, gerne an. Dabei würden sie genügend Zeit haben, sich etwas besser kennenzulernen. Aber das Geheimnis, woher er Angelika kannte, würde er nicht preisgeben. Darauf bestand er.

Als Bernhardt zu Hause ankam, fühlte er sich zufrieden und glücklich, wie selten zuvor.

Er hatte gerade den schönsten Heiligen Abend seines Lebens verbracht.

Geben macht seliger denn Nehmen.

Die Weisheit des Satzes, offenbarte sich ihm erstmals nach diesem Zusammentreffen mit fremden Menschen.

Zur Feier der angebrochenen Nacht; holte er sich eine Flasche des besten Rotweins, den er im Keller finden konnte, goss die rubinfarbene Flüssigkeit in ein bereit gestelltes Glas, machte es sich in seinem Sessel gemütlich und schaltete das Fernsehgerät ein. Plötzlich störte ihn die Reklame zwischen den Programmen überhaupt nicht mehr. Ganz im Gegenteil. Er fand sogar, dass sie nützliche und interessante Informationen enthielt.

Bernhardt nahm sich vor, in Zukunft die Wünsche seiner Mitmenschen zu beachten und soweit es in seiner Macht stehen würde, auch zu erfüllen.

Er dachte dabei an Angelikas Mutter und freute sich riesig auf das Wiedersehen mit der ganzen Familie.

*****

© Dr. Ronald Henss Verlag