Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

Schlachtfest in Heringsdorf

© Karl-Heinz Franzen

Es ist Oktober und Weihnachten naht in Böhmen. Der Fernsehbericht ist gelungen gefilmt und lässt die Düfte von Land und Leuten zu mir ins Wohnzimmer strömen aus einem kleinen Dorf in Böhmen. Den Namen des Dorfes habe ich mir nicht notiert. Ich nenne es Gitschin. Das kleine böhmische Dorf liegt am Rande der nächsten größeren Stadt, genau wie mein Heringsdorf, damals in 1957.

Hier picken die Hühner ihr Korn und ein stolzer Hahn hält aufmerksam Wache auf dem kleinen Hinterhof. Hier wackeln auch ein paar Gänse herum, hoppeln Kaninchen umher und an dem gefüllten Futtertrog schmatzt wohl gemästet das Weihnachtsschwein. Natürlich stinkend, gleich um die Ecke, vor dem Garten der aus allen Bewohnern des Hauses und des Stalles angehäufte Haufen Mist. Er wird im Frühjahr gute Dienste leisten und über die ganze Fläche verteilt in die Erde des kleinen Gartens als Dünger eingegraben. Dieser Stinker wird verbuddelt, damit die Kartoffeln, die Wurzeln, die Petersilie, der Rhabarber und was auch immer essbar ist, im eigenen Kreislauf gut gedeiht. Von Zeit zu Zeit wird Pferde- oder Taubenmist hinzugekauft. Der peppt die eigene Hinterlassenschaft so richtig auf. So die kleinbäuerliche Gartenerfahrung,

Im Oktober eines jeden Jahres erreicht ein Fridolin, ein Moritz oder ein Opa Ottos Schweinchen das Weihnachtsgewicht von zwei Zentnern und manchmal auch mehr. Und nun ist es so weit. Fridolin hat sich dick und rund gefüttert.

Es ist früher Morgen und das Schlachtfest startet in Böhmen. Schlachter Mrozcek ist gekommen. Er erzählt von seinem bevorstehenden, anstrengenden Tag. Er lobt die Altbäuerin, ihm gefällt der Fridolin, sein Bolzen liegt präpariert in seiner rechten Hand. Die Altbäuerin, mit gefurchtem Gesicht sieht aus wie meine Oma, krault dem Fridolin noch einmal den Kopf. Auf und ab zwischen den Ohren, die sich steil aufrichten, weil er es kennt, der böhmische Fridolin. Wie Omas zärtliche Hand und auch so zwischen den blauen Augen, da krault sie ihn, die Altbäuerin. Zwischen den blauen Augen, wo ihm gleich Mrozceks geübte Hand den kühlen Bolzen ansetzen wird.

Der böhmische Fridolin ist zutraulich und friedlicher Natur. Er kommt alleine aus dem Stall, schaut sich die kleine Gruppe Menschen vor dem Stall, insbesondere den Fremdling Mrozceks, neugierig an. Er streckt sich noch einmal richtig lang, wie durchatmend an der frischen Luft. Ein Puff aus Mrozceks Hand lässt ihn zuerst auf die Vorderpfoten sinken. Dann liegen seine glatten zwei Zentner auf der Seite. Dann, gleich, Bruchteile von Sekunden danach, kippen wie in Zeitlupe die Hinterpfoten mit dem Purzel hinterher. Mrozceks schneller Schnitt in Fridolins Kehle lässt sein heißes Blut hervor spritzen. Einige Fontänen aus Rot treffen die Schürze der Altbäuerin. Jetzt aber, mit geübter Hand, fängt sie den warmen Lebenssaft in einer alten Blechschüssel auf. Kräftig umgerührt für die Wurst, die am späteren Abend aus Fridolins mit dem Fleischwolf durchgedrehtem Fleisch abgeschmeckt und geknetet wird. Sorgfältig portioniert mit Salz, Pfeffer und geheimen Gewürzen in der Holzwanne gewalkt, worin gestern Morgen noch die altbäuerlichen Unterhosen gewaschen und ausgespült wurden. Der Fleischwolf, dieser Vielzweckdurchdreher, hat bereits vorgestern mit seinen unterschiedlichen Vorsätzen süße Arbeit verrichtet. Gedreht, gedreht, gedreht, für die lieben Verwandten und Bekannten, die zum Schlachtfest das zarte frische Fleisch genießen wollen aber auch das leckere Spritzgebäck zum Kaffee am späteren Nachmittag, so nach der ersten Runde Schlachtfest.

Nun, nach dem Puff aus Mrozceks Hand und der anschließenden Blutabnahme, hinein in die große Wanne mit dem Fleischklops Fridolin. Kochendheißes Wasser wird über ihn gegossen, nachdem er vorher noch mit Birkenharz eine Haarentfernerhilfe eingerieben bekam. So wird Fridolin abgebrüht, mit den dosenförmigen Blech-Hütchen geschabt und geschabt und geschabt und weg sind seine Borsten. Glatt rasiert.

Kein Heringsdorfer Fridolin ist je so friedlich gewesen wie der Böhmer Kollege. Wenn der Heringsdorfer Fridolin es roch, dass Schlachter Schulz im Nachbardorf sein Haus verließ, noch einmal seine Ledertasche öffnete, um Bolzen und Messer zu kontrollieren, dann warf er sich schon in die äußerste Ecke seines Stalles und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Auch Omas zärtliche Hand, die er gestern noch so liebte, auf die er sehnsüchtig wartete, half ihm nicht heraus. Er stemmte die vier Pfoten gegen den Boden und ließ seine zwei Zentner von vier kräftigen Männern vor die Stalltür zerren. Diese Vier hatten alle Mühe damit. Unser Fridolin stimmte dazu ein gewaltiges, dröhnendes, endliches Quietschkonzert an. Eine Arie, wie noch nie in seinem Leben. Er warnte alle Kollegen in der gesamten Dorfumgebung, dass der bereits von allen Fridolins gerochene Schulz seinen ersten Tatort soeben erreicht hat.

Meister Schulz forderte er zum Ringkampf mit seinem Schweineschädel auf. Fridolin ließ durch heftiges Hin und Her den Bolzen nicht zwischen die Augen auf die Stirne kommen. Schulzens starker und geübter Arm umklammerte ihn um den Hals. Er nahm ihm ein wenig die Luft zum Atmen und Schulzens drei Helfershelfer versuchten sich mit hohem körperlichen Einsatz am seinem schweinischen Rest in Richtung Brust und Schwanz. Nur die salzigen Schweißtropfen, die dem Meisterschlachter Schulz vom Wasser treibenden Ringkampf direkt von der Stirne unserem Fridolin in die Augen fielen, irritierten ihn einen kurzen Augenblick.

Den Puff hörte Fridolin noch. Dass ihm die Vorderpfoten einknickten, spürte er wie den täglichen Knicks zum Fressen zum Schweinetrog gebeugt. Nur, als das scharfe Schulz-Messer gleich nach dem Puff seine Kehle an der Hauptschlagader schlitzte, war seine Seele schon fernab im Schweinehimmel.

Ich bin wieder acht Jahre alt und stehe drinnen, an den Butzenscheiben des Küchenfensters, und schaue durch ein Quadrat auf den Hof. Die Herbstsonne scheint auf die vier Männer. Meinen Vater, meinen Opa, meinen Onkel Friedrich und den Schlachtermeister Schulz. Die Sonne scheint auch auf Fridolin, der alle Pfoten voll zu tun hat. Er kämpft wie mit vier Verrätern um sein Ende als Hausschwein. Er zeigt alle seine Kräfte und Tricks. Mutter und Oma stehen im Schatten an der Stallwand. Oma hat ihre alte Blechschüssel in der Hand und wartet auf den Startschuss, Fridolins Ende.

Fridolin fällt nach vorn, zur Seite und auf den Rücken. Er schlägt mit der rechten Hinterpfote heftig aus, dem Vater zwischen die Beine, zerfetzt die Hose unter der intimen Stelle. Der Vater nimmt keine Notiz von dem Tritt. Offensichtlich hat es keine Verletzung oberhalb des Stoffes gegeben, oder er, mein Vater, spürt es noch nicht. Mutter und Oma schreien in ängstlicher Überraschung und mitfühlender Sorge auf.

Beim Griebenschmaus, am späteren Abend, ist Fridolins Tritt das zweite Hauptthema. Jetzt geben auch die weitere Familie und die helfenden Nachbarn ihren Kommentar. Jeder hat nach dem dritten Korn für diesen Abend eine mehr oder minder scherzhafte Geschichte parat. Gekommen sind sie aber zum Schmaus und zur Hilfe am Fleisch. Zum Kneten für die Wurst, die in Fridolins reichlich vorhandenen, nun wurstgerecht geschnittene, Därme gepresst wird. Die Därme, die Oma und Mutter vorher mit viel in der Tonne vorgesorgtem Regenwasser gereinigt und anschließend in dem glühend rot beheizten Waschkessel ausgekocht haben.

Fridolins Schlag mit der Hinterpfote flackert zwischendurch zu den Themen des Abends immer wieder auf. Mutter sah sich nun wohl doch dringend veranlasst, nächtens die Unversehrtheit von Vaters fleischlicher Unterseite ausführlich zu prüfen. Das wiederum wurde als rhythmisches Quietschen und kräftiges Ein- und Ausatmen durch die dünnen Decken und Wände des Hauses gehört. Die Folgen belebten den Frühstückstisch mit reichlich Gesprächsstoff über die vermuteten, gehörten und die eigenen Erfahrungen mit dieser fleischlichen Materie.

Ich war froh, dass sich die gesamte Frühstücksrunde mit Mutter und Vater freuten über das frohe Ergebnis der nächtlichen Erforschung. Ich verstand die Aufregung sowieso noch nicht. Nur so viel ist erinnert, dass das mir in Aussicht gestellte Geschwisterchen auch durch intensives weiteres Quietschen nicht zum Leben erweckt wurde. Ich muss daher heute vermuten, dass dieser Schlag mit der rechten Hinterpfote, den Fridolin, so als letzte Zuckung, einem seiner Peiniger versetzte, eine Wirkung gehabt hat.

Die Böhmen hängen ihren Fridolin nach vollendeter Bluttat nicht an eine Leiter. Sie hieven den Fleischklotz nach dem Enthaarungsbad mit einer Seilwinde, die an einem dicken Balken im Dachvorbau des Stalles angebracht ist, an den Hinterbeinen in schnitt- und hackgerechte Höhe. Hand wird angelegt an das geschabte Fleisch mit den von Generation zu Generation vererbten scharfen Werkzeugen. Dann ist wieder alles wie in Heringsdorf. Geübte Altbauer- wie Opahände öffnen Fridolin am Bauch. Oma und Mutter warten bereits die Därme, die Hüllen für die Wurst. Herz, Lunge, Magen, Leber und Nieren folgen. Opas Hände lösen die Rippen zu Koteletts, trennen den Rücken auf, Kopf ab, zwei Hälften hängen herab, Vorderschinken ab, Läufe ab und geteilt für die Erbsensuppe, Mittelstück in zwei, drei Teile, für die Wurst. Hinterschinken ab für den Rauch. Läufe ab und auch für die Erbsensuppe.

Hirn für die Bratpfanne heute Abend. Schnauze, Ohren, Augen vom Schädel getrennt für die leckere Sülze. So geht es voran mit flinken, erfahrenen und helfenden Händen in Böhmen an der Seilwinde und in Heringsdorf an der Leiter.

Ich vergaß, nach Mroczek und Schulz noch zwei stille Teilhaber an dem Schlachtfest zu erwähnen. Das sind die Fleischbeschauer Seferóvicová aus der kleinen Stadt, nahe dem Böhmer Gitschin und Robien, der auch aus Heringsdorf kommt. Hier wie dort kennen sie sich alle seit Jahren. Waren auch Kameraden in den Zeiten der heimlichen Rituale um das Schweinefest. Nach kurzer Fleischprobe am ganzen Schwein, nach geübter Suche an verdächtigen Stellen und feinen Schnitten wird das eine oder andere Stückchen unter einem Jenaer Mikroskop begutachtet. Mit ihren Stempeln auf die beiden, inzwischen abgekühlten Backen Fridolins, auf wohl wichtige Stellen auf das geöffnete Innere, wird die Freigabe zum Schmaus an den Fridolins mit blauer Stempeltinte besiegelt.

Jede, ja jede hilfreiche Hand bekommt ihren Teil vom gestückelten Fridolin. Die Nachbarn beim Schlachtfest auf den Teller, die lieben Verwandten, so wie wir, gleich und später. Später zum Weihnachtsfest von der geräucherten Wurst oder dem zarten braunen Schinken. Eine lustige Gesellschaft findet sich in jedem Oktober in Böhmen und Heringsdorf zusammen und bereitet so das Weihnachtsfest vor.

Opa ist mit Vater und Onkel Friedrich nach dem morgendlichen Frühstück ins Dorf gegangen. Am Leibe die viel belachte, bereits geflickte, Hose mit zweiter Naht. Bauer Krüger hat einen neuen Wurf Ferkel für das nächste Oktoberfest zum Verkauf bereit. Er hat sich seit Jahren auf den Rhythmus eingestellt.

Vielleicht werden sie ihn wieder Fridolin nennen, den neuen Haus- und Stallgenossen. Vielleicht wird er aber auch Moritz gerufen. Oma wird ihn wieder füttern und pflegen. Sie wird ihn liebevoll mit zärtlicher Hand kraulen, dass sich die Ohren steil in die Höhe richten. Seine blauen Augen werden leuchten, wenn er Oma nebenan in der Vorratsküche mit dem Futtereimer hantieren hört. Sehr wahrscheinlich wird er dabei immer größer, kräftiger, fetter. Er wird sich mit seinen rund zwei Zentnern im nächsten Oktober in die Stallecke stürzen. Unser böhmischer Fridolin wird sich neugierig vor den Stall schnüffeln. Schlachter Schulz startet im Nachbardorf seinen traditionellen Rundgang, nach dem prüfenden Blick in die Ledertasche. Mrozcek hat leichte Arbeit.

Alle lieben Verwandten und Bekannten werden schon lange vor dem nächsten schweinischen Ringkampf frotzelnd und lachend mit einem Augenzwinkern Hannes warnen, dass Opas Fridolin eine starke Linke oder Rechte treten kann.

Es wird der Tag kommen, an dem auch ich das alles verstehen lerne. Ich werde dann nicht mehr hinter den Gläsern des Küchenfensters stehen, sondern selbst mit Hand an einen Fridolin legen.

Heute Abend, viele Jahre danach, denke ich gerne an diese lustigen Abende im Herbst zurück. Danke Fernsehen für deinen böhmischen Bericht.

*****

© Dr. Ronald Henss Verlag