Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
Unser Buchtipp

Weihnachtsgeschichten Band 2

Weihnachtsgeschichten
Band 2
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-03-6

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Das Weihnachtsbaby

© Achim Weiß

Die Bescherung würde in diesem Jahr ganz besonders üppig ausfallen. Schließlich hatte er einen Plan ausgeheckt, der ihm ein paar zusätzliche Euro in seine chronisch leere Kasse spülen sollte. Noch etwa zehn Minuten, dann würde das Kaufhaus, in dem er sich seit fast einer Stunde in der Spieleabteilung versteckt hielt, vorzeitig schließen, denn es war Heiligabend. Es war eng in dem Spielhaus für 4-6-Jährige, das er schon vor einer Woche als Versteck ausgespäht hatte. Hier würde er noch eine Weile warten, nachdem das Kaufhaus seine Türen geschlossen hatte, bis wirklich die letzten Angestellten das Gebäude verlassen hätten. Er war keiner, der einen Menschen mit der Knarre in der Hand bedrohen konnte. Er hatte noch nie eine in der Hand gehalten, schließlich war er nur ein Arbeitsloser, der gelegentlich mal etwas Kohle brauchte und dabei auch illegale Wege gehen musste. Deshalb wollte er es auch gar nicht erst versuchen, an die Tageseinnahmen heranzukommen, die in ein paar Minuten zweifellos von einem der Angestellten in einer Kassette zur Bank gebracht werden würden. Was, wenn der Mann das Geld nicht gleich rausrücken würde und er wirklich von einer Waffe Gebrauch machen müsste? Nein, das Risiko eines solchen Unterfangens war ihm viel zu hoch. Stattdessen hatte er es vor allem auf einige teure Laptops, Handys und Schmuck abgesehen, die sich leicht in einem der vielen Koffer aus einer anderen Abteilung unterbringen ließen und für die er auch schon einen vertrauenswürdigen Abnehmer kannte.

Eine Dreiviertelstunde lang wartete er. In dieser Zeit war es immer ruhiger geworden auf den Fluren rund um ihn, bis es schließlich ganz still geworden war. Er öffnete vorsichtig die Tür des Plastikhauses und horchte in alle Richtungen. Nichts war zu hören. Die Luft schien rein zu sein. Klar - an diesem Tag wollte natürlich jeder schnell bei seiner Familie sein. Manchmal beneidete er die anderen Männer, die mit Frau und Kindern. Aber dann sagte er sich wieder, dass er es viel besser hatte. Allein musste man nicht ständig faule Kompromisse mit jemandem schließen. Kein Streit, ob "Champions League" oder "Gilmore Girls", ob Strandurlaub oder Wandertour. Er konnte einfach tun und lassen, was er wollte. Auch mit 45 hatte sich daran für ihn nichts verändert und das war perfekt so. Natürlich hatte er es versucht, mit einer Frau zusammenzuleben, mehrmals sogar, aber so recht geklappt hatte das nie. Eigentlich wollte er sowieso niemanden so nahe an sich heranlassen. Frauen hatten ganz andere Vorstellungen von einem glücklichen Leben, außerdem konnte man es denen sowieso nie recht machen.

Er schlich zur Rolltreppe, die längst abgestellt worden war. Stufe für Stufe ging er aufwärts, um zu der Etage mit den Elektrogeräten zu gelangen. Die Bescherung konnte beginnen! Doch als er die letzte Stufe bestieg, hörte er ein Geräusch. Von weit hinten in der Etage hörte er ein Schluchzen. Da weinte ein Baby! Das war das Letzte, was er in diesem Moment gebrauchen konnte. Was sollte er tun? Sich vorsichtig zurückziehen und alles abblasen? Das Baby einfach ignorieren und die Sache durchziehen? Noch war er nicht bereit aufzugeben. Er näherte sich dem Schluchzen noch ein wenig. Dann sah er die potthässliche Krippe mit den verkitschten Maria- und Josef-Figuren. Aber in der Krippe lag nicht etwa das Jesuskind. Das lag auf dem Boden daneben. Ein Baby lag in der Krippe und es schrie sich die Seele aus dem winzigen Leib. Wer konnte nur so etwas Furchtbares tun? Ein unschuldiges Kind einfach über Weihnachten in einem Kaufhaus aussetzen. Vor Montag würde kein Mensch das Kind finden, es hatte also absolut keine Überlebenschance. Die Mutter musste es schlafend in die Krippe gelegt haben und es war wohl erst aufgewacht, als das Kaufhaus bereits menschenleer gewesen war.

Er hatte längst den ursprünglichen Zweck seines Hierseins vergessen und überlegte stattdessen fieberhaft, wie er den kleinen Balg retten und zugleich wieder loswerden konnte. Zuerst besorgte er aber Babybrei aus der Lebensmittelabteilung, damit sich das Kind beruhigte. Mit einem schreienden Baby aus dem Fenster eines Kaufhauses zu springen - das würde zuviel Aufmerksamkeit erregen. Tatsächlich schlief das Baby schon kurz nach der Nahrungszufuhr wieder dankbar in seinem Arm ein. Noch nie hatte er ein Baby im Arm gehalten. Er war selbst erstaunt, wie leicht es ihm fiel, damit umzugehen. Papa Berger, diese Vorstellung hatte ihm immer Angst gemacht. So ein Baby schien ihm eine allzu große Verantwortung zu sein, was die eine oder andere seiner Partnerinnen im Laufe der Jahre schon erheblich abgeschreckt hatte. Heute aber ging er irgendwie wie selbstverständlich mit der ungewohnten Situation um. Ja, es machte ihm sogar Freude, dem Kind das zu geben, was seine Mutter ihm offenbar bewusst verweigert hatte. Zärtlich wiegte er das Baby noch eine Weile hin und her, auch lange, nachdem es eingeschlafen war. Einige Minuten später erst machte er sich auf den Weg nach draußen.

Das Baby, das er vorsorglich in eine warme Decke gehüllt hatte, passte problemlos durch das Toilettenfenster, das er sich zum Verlassen des Gebäudes ausgesucht hatte. Dann galt es lediglich noch ein wenig an der Fassade entlang zu balancieren und auf das Dach einer Imbissbude zu springen. Das Baby war bei dieser Aktion natürlich nicht gerade eine Hilfe, weil er beide Arme um den schlafenden Körper geschlungen hatte, aber letztlich gelang es ihm, das Dach ohne Schrammen zu erreichen. Die Seitenstraße, in der er mit dem Kind im Arm landete, war zu dieser Zeit am Weihnachtsabend wie leergefegt. Alle schienen zu Hause im Kreis ihrer Lieben zu sein, das war ja das Beschissene an diesem Fest für Leute wie Berger. Seine Eltern waren vor ein paar Jahren kurz hintereinander gestorben, ansonsten stand ihm im Augenblick niemand nahe genug, um auf die Idee zu kommen, Weihnachten gemeinsam zu verbringen. Und jetzt lief er plötzlich mit einem Baby durch die weihnachtlich geschmückten Straßen der Stadt. Zur Polizei konnte er schlecht gehen. Die würde zweifellos die Hintergründe wissen wollen, wie er zu dem Kind gekommen war. Es auszusetzen, so dass sich eventuell jemand anders darum kümmern konnte, kam für ihn auch nicht in Frage. Zuerst wollte er sichergehen, dass es dem Baby weiter gut ging. Wie er das anstellen sollte, war ihm allerdings weniger klar. Daher irrte er eine Zeitlang ziellos durch die Stadt, bis er an einer Kirche vorbei kam. Berger war kein sonderlich religiöser Mensch, aber war die Kirche nicht ein Ort, an dem man in dieser vertrackten Situation irgendeine Form der Hilfe erwarten konnte? Er dachte nicht lange nach, sondern folgte spontan seiner Eingebung, dort Zuflucht zu suchen. Die Christmette würde erst in ein paar Stunden beginnen. Noch waren nur wenige Menschen in der Kirche, die weit verstreut auf den Bänken ihr individuelles Gebet an das richteten, was sich jeder von ihnen als Gott vorstellte. Vergeblich sah er sich nach einem Geistlichen um, der ihm vielleicht bei der Lösung seines Problems behilflich sein würde. Berger setzte sich in eine der hinteren Bänke und war bereit für ein Wunder, das er sich unter normalen Umständen als letztes an einem solchen Ort erhofft hätte. Er fragte sich, ob die Menschen in den Bänken vor ihm ähnlich verzweifelt in diese Kirche gekommen waren.

Er mochte 10, 15 Minuten auf der Bank gesessen haben, als das Baby von einem Moment auf den anderen mitten in die scheinbar undurchdringliche Stille zu schreien anfing. Die übrigen Kirchenbesucher drehten irritiert ihre Köpfe herum, aber bis auf eine Person wandten sie sich gleich wieder um zum Gebet. Eine junge Frau aber, die nur drei Reihen vor ihm saß, starrte ihn ungläubig an. Das heißt, eigentlich war es nicht er, den sie anstarrte, sondern sie hatte sich von ihrem Platz erhoben, um das Baby besser sehen zu können, das in seinen Armen lag. "Mein Kind!", schrie sie plötzlich so laut, dass sich die gleichen Köpfe wie eben noch etwas schneller und sichtlich neugieriger umdrehten. "Das ist mein Kind! Geben Sie es mir zurück!", rief die Frau, als habe er ihr das Kind gerade erst aus den Armen entwendet. Ihm war sofort klar, dass sich gerade vor seinen Augen das Wunder abspielte, von dem er insgeheim geträumt hatte. Die Frau, die auf ihn wirkte, als sei sie höchstens 20, musste tatsächlich die Mutter des Kindes sein, daran bestand, so wie sie sich aufführte, kein Zweifel für ihn. Aber was sollte er von dieser Frau halten, die ihre Mutterpflichten erst vor wenigen Stunden so jämmerlich verletzt hatte? Konnte er ihr wirklich vertrauen und ihr ihr Kind einfach so wiedergeben? Instinktiv zog er das Kind noch ein wenig fester an sich. Die Frau bemerkte seine Skepsis. Offenbar war auch ihr bewusst, in welche Gewissensnöte sie den Fremden gestürzt hatte. Sie verließ, jetzt deutlich gefasster, ihren Platz und setzte sich neben Berger. Dabei ließ sie eine Art Sicherheitsabstand, eher für ihn als für sich selbst. Sie sah ihn nicht an, sondern sah nach vorne zum Altar, während sie erstaunlich ruhig und vernünftig auf ihn einsprach.

"Ich weiß, ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht. Es muss unglaubhaft auf Sie wirken, dass ich jetzt plötzlich anders denke, aber glauben Sie mir, ich war verzweifelt. Ich habe dieses Kind von einem Typ bekommen, der einmal behauptet hat, mich zu lieben, dann drei- oder viermal mit mir geschlafen hat und sich anschließend wieder eine andere gesucht hat. Neun Monate später erinnert mich dieses Kind an diesen Mistkerl."

Sie wartete einen Moment, bis sie ihre Geschichte fortsetzte. Sie wollte, dass der Fremde sich in Ruhe ein Urteil über sie bilden konnte.

"Ich studiere Jura. Meine Eltern können mir nicht helfen, mein Studium zu finanzieren, also kellnere ich viermal die Woche. Ich wusste einfach nicht, was ich in so einer Situation mit einem Kind anfangen sollte. Der einzige Ausweg schien mir, es loszuwerden. Ich dachte, in dem Kaufhaus wird es bestimmt jemand finden und zusehen, dass es ihm gut geht."

"Aber haben Sie denn gar nicht daran gedacht, dass Heiligabend ist und die Kaufhäuser früher schließen?"

"Nein, daran habe ich gar nicht gedacht. Meistens schläft er ja auch nicht lange und da musste doch einfach jemand ..."

"Er hätte sterben können", warf Berger ein.

"Jetzt ist mir das auch klar. Ich sitze schon seit Stunden hier und mache mir Vorwürfe. Ich habe für ihn gebetet, dass ihn jemand wie Sie findet und an einen sicheren Ort bringt."

Eine kleine Pause entstand, in der beide ihre Gedanken sortierten.

"Wie haben Sie ihn eigentlich gefunden, wenn das Kaufhaus doch bald geschlossen hatte?"

"Das ist eine lange Geschichte. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber darf ich das als mein kleines Geheimnis behalten?"

"Wenn ich es ebenfalls als mein Geheimnis behalten kann, dass ich mein Kind allein in einem Kaufhaus zurückgelassen habe, meinetwegen."

Er dachte einen kurzen Augenblick lang nach.

"Sind Sie sicher, dass Sie das Kind jetzt behalten möchten?"

"Ja, vertrauen Sie mir. Ich werde gut für mein Kind sorgen."

Die junge Frau lächelte ihn an. Er musterte sie ein letztes Mal sorgfältig, aber spätestens ihr Lächeln hatte ihn überzeugt. Schließlich überreichte er ihr das Kind mit einer fast feierlichen wirkenden Geste. Obwohl er die junge Mutter erst seit wenigen Minuten kannte, wusste er, das Baby war bei ihr wieder in guten Händen. Rational begründen konnte er das zwar nicht, aber er wusste es einfach. Ohne noch einmal das Wort an sie zu richten, erhob er sich, nickte ihr kurz aufmunternd zu und verließ die Kirche. Berger hatte sich das mit der Bescherung sicher anders vorgestellt, aber was sich da eben in der Kirche abgespielt hatte, war mutmaßlich die schönste Bescherung, die er je an Weihnachten erlebt hatte. Ein richtig schlechter Mensch war er ja eigentlich nie gewesen, doch wer weiß - vielleicht konnte er doch noch ein etwas besserer werden.

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Weihnachtsgeschichten Band 2 Weihnachtsgeschichten
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Eingereicht am
05. April 2007

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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