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Der gelbe Notizzettel© Andreas RotherVon einer Sekunde auf die andere war es um sie herum still geworden. Sie lehnte rücklings an der Wohnungstür und nur schwach erreichte sie der Lärm der Kinder, die im Treppenhaus an den Geländern einen Wettrutschmarathon veranstalteten. Noch kurz vorher hatte sie mit leidender Mine das Tobuhowabu durchquert, wollte schnell weiter, war genervt von dem Krach. Jeden Moment würde ihr der Kopf platzen. Aber trotzdem war sie empfindsam genug, die Vorfreude der Kinder zu spüren, wie sie ausgelassen, überdreht, beinahe hysterisch tobten und lärmten: In wenigen Tagen würde es sehr weihnachten. Sie atmete tief und lange aus, kippte ihre Schultern nach hinten, der Mantel glitt zu Boden, mit dem rechten Fuß stützte sie den linken Hacken und streifte ihr Schuhwerk ab, ging dann einen Schritt und mit dem linken Fußballen beförderte sie ihren rechten Schuh direkt vom Fuß auf die Türschwelle zu ihrem Wohnzimmer, dessen Tür offen stand. Vor der Spiegelkommode blieb sie stehen, legte den schweren Schlüsselbund ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Mit ihren achtunddreißig Jahren fand sie sich noch immer sehr attraktiv. Das war schon immer so und sie wusste, dass sie sich nicht täuschte. Nur diese dicke Furche, die sich quer über ihre Stirn zog, wollte nicht verschwinden, wollte gar nicht mehr glatt werden. Sie entspannte ihre Gesichtsmuskeln, aber die Falte veränderte sich kaum, sie hatte sich wie ein ausgetrocknetes Flussbett für ewige Zeiten eingeprägt. Sie setzte ihr Brillengestell ab und rieb sich die Augen, die ohnehin schon nach dem anstrengenden Tag in der Firma gerötet waren. Jetzt sah sie im Spiegel zwei kleine, rote Lichter, die sie wie die hinteren Leuchten eines vorausfahrenden Autos in der Nacht blendeten. Allmählich stellte sich Normalität ein. Ihr Brummen im Kopf, die Grabesstille in ihrer winzigen Wohnung und der Radau im Treppenhaus assimilierten sich auf ein einheitliches Niveau. Ihr Refugium erwachte an diesem Abend wieder zum Leben. Sie war zu Hause. Feierabend und die Aussicht auf ein paar freie Tage weckten die letzten, verborgenen Energien in ihr. Sie brauchte nur zwei Schritte gehen, um vor der geschlossenen Tür zu ihrer winzigen Küche zu stehen. Sie drückte die Klinke mit der linken Hand, die rechte tastete durch den geöffneten Spalt nach dem Lichtschalter. Hier zögerte sie und hielt kurz inne, wie die Raubkatze vor dem entscheidenden Sprung. Als prangere der Schalter als Menetekel an der kalten Wand für das, was sie erwartete. Die Küche erstrahlte in hellem Licht, als sie eintrat, und ihr Blick verfing sich sofort in dem gelben Notizzettel, den dort jemand auf der roten Kühlschranktür platziert hatte: Jemand! Nur: Es gab keinen jemand. Es gab niemand. Nie! Nie! Nie! Es gab nur sie. Sie alleine. Noch nie gab es jemand. So lange sie sich erinnerte, war sie alleine. Die Bildnisse ihrer Eltern - und das sind die ersten, nach denen sie gefragt wird, wenn sie erzählt hat, dass es niemand in ihrem Leben gibt - sind verschwommen und verschwinden schnell in nebulösen Erinnerungen, zu schnell, um auch nur die Spur einer Kontur zu erkennen. Es gab nicht einmal ein jemand, der ihren zweiten Wohnungsschlüssel - den Ersatzschlüssel - für Notfälle verwahrte. Sie hatte ihn an ihrem Arbeitsplatz unter dem Boden der rechten, untersten Schublade mit Klebeband befestigt und noch nie von dort entfernen müssen. Und auch niemand wusste davon. Noch in der Schrecksekunde erkannte sie: Der kleine gelbe Notizzettel war beschrieben, handschriftlich, mit schwarzer Tinte oder einem Kugelschreiber mit schwarzer Mine oder einem schwarzen Filzstift. Ihr Gesichtsausdruck nahm wirre Züge an. Nicht so sehr wegen dieses gelben Notizzettels, der unter normalen Umständen nicht an diesem Platz sein dürfte, sondern mehr darüber, dass sie völlig ruhig blieb, ja, sie verspürte sogar eine gewisse Neugierde, eine Vorfreude darüber, dass zum ersten Mal jemand an die Tür zu ihrem Leben kratzte. Weder Angst noch Misstrauen spürte sie, das wäre auch in dieser vorweihnachtlichen Zeit - so hat sie es gelernt - nicht angebracht. Zögernd bewegte sie sich auf den Zettel zu und zog ihn vorsichtig ab, als würde er bei nicht genügender Rücksichtnahme in ihrer Hand zerbröseln. Sie strich ihn in ihrem linken Handteller glatt und konnte nun eine Botschaft lesen, geschrieben in einer akkuraten, gleichmäßigen Schreibschrift, die Vertrauen einflößte. Der Verfasser (oder die Verfasserin) kann nur in guter Absicht die Worte aufgeschrieben haben: Zum gemeinsamen Mahl am Heiligen Abend um 21:00 Uhr Sie müsste alleine entscheiden, was zu tun sei. Sie würde sich niemanden anvertrauen, sie würde niemanden um Rat fragen. Sie verließe sich wieder auf sich selbst, so wie sie es schon immer tat und sich damit in die Lage gebracht hat, vollkommen unabhängig, frei und alleine zu sein. Wie durch ein loderndes Feuer erschienen vor ihrem geistigen Auge die unklaren Gesichter ihrer Eltern, nur einen Bruchteil einer Sekunde lang, und sie fragte sich, was sie ihr raten würden, doch kaum waren die Bilder vergangen, stellte sich ihr auch diese Frage nicht mehr. Den Mann und die Frau, bei denen sie bis zu ihrer Volljährigkeit lebte, konnte sie auch nicht fragen, denn an mehr als an einen Mann und eine Frau konnte sie sich nicht erinnern. Ob dieser Mann und diese Frau ihre Eltern waren, wusste sie nicht, denn in ihrer Erinnerung an den Mann und der Frau erschienen nur die auf einer Kindertafel geschriebenen Wörter "Mann" und "Frau". Manchmal versuchte sie, die unfertigen Bilder ihrer Eltern aus der frühesten Kindheit mit dem "Mann" und der "Frau" zusammen zu fügen. Doch das misslang ihr und diesen Bruch in ihrer Vergangenheit verwischte sie mit der Meinung, keinen und niemanden zu brauchen. Jemand war unberechtigterweise in ihre Wohnung eingedrungen. Aber sie würde die Polizei nicht verständigen. Sie war sich ganz sicher. Dieser Jemand würde mit ihr am Heiligen Abend zusammen kommen. Wo? Hier? Er kann nur hier meinen. Für einen anderen Ort fehlt der Hinweis. Wer würde kommen? Würde überhaupt jemand kommen? Ein schlechter Scherz vielleicht? Sie faltete den kleinen, gelben Notizzettel bis auf die Größe eines Geldstückes und steckte ihn in ihre Geldbörse. Dieses unbedeutende Packen Papier würde ihr Schlüssel aus der Isolation sein. Den Heiligen Abend verbrachte sie so, wie sie es immer tat. Am späten Nachmittag, als es dunkel wurde, schaltete sie in ihrem sehr kleinen, gemütlichen Wohnzimmer das Licht aus und zündete einige Kerzen an, die mit ihrem flackernden Licht Bewegung in den Raum brachten und als ihre Begleiter kein Gefühl von Einsamkeit aufkommen ließen. Sie schob einen hohen Barhocker an das Fenster zur Straße und zu den gegenüberliegenden Häusern. Sie zog die Vorhänge und die Gardinen zur Seite und stellte eine gut sortierte Käseplatte auf die Fensterbank, dazu ein Glas mit Wein und einen flachen Zinnteller, auf dem der kleine, zusammengefaltete gelbe Notizzettel lag. Sie setzte sich auf ihren Platz, den sie jeden Heiligen Abend einnahm, entfachte ein Zündholz und berührte mit der Flamme das geringe Packen. Der kleine gelbe Notizzettel bäumte sich in einer kurzen, hellen Flamme auf und verendete schnell als schwarzer, bröckliger Rest. Es war kurz nach neun, als ihr Blick die Straße unter ihr entlang schweifte. Nicht, dass sie jemand suchte. Sie erwartete niemanden. Noch nie hatte sie jemanden erwartet. Auch heute würde niemand kommen, und wenn doch, sie würden keinen einlassen, denn sie hatte den Schlüssel verbrannt. Auf dem Randsteig an der Straße unter ihr hasteten mehrere Personen entlang. Sie stiegen in ein Auto und fuhren mit quietschenden Reifen davon. In ihrer winzigen Wohnung war es totenstill. Nahezu hinter jedem Fenster der Vorderfront des sechsstöckigen Wohnhauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite brannte ein Licht oder es war festlich geschmückt und erstrahlte im elektrischen Kerzenschein. Sie hob ihr Glas und prostete den Menschen zu, die sie in den Wohnungen auf der anderen Seite vermutete oder hin und wieder vorbei huschen sah. Das war ihre Art, an einem einzigen, gigantischen Fest teil zu nehmen. Es war beinahe dreiundzwanzig Uhr, als sie sich zufrieden in ihr Bett legte. Sie hatte nichts vermisst. Der zarte Anflug von Sehnsucht in den Tagen zuvor war unwiderruflich vergangen. Die Sehnsucht nach jemandem. Sie hatte diesen Heiligen Abend mit niemandem und doch mit allen verbracht. Daran wird sich auch in der Zukunft nichts ändern. Unser Buchtipp: Weihnachtsgeschichten unserer Autoren
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