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Der zehnte Geburtstag© Karl-Heinz FranzenIch schreibe diese Geschichte aus dem Jahre 1959, weil ich sie selbst in diesem Jahr erlebt habe. Es gibt keinen anderen Grund, sie in dieses Jahr zu legen. Ich erzähle sie aus dem Jahre 2007 heraus als älterer Herr mit Blick zurück. Nicht die damalige Einfachheit, Genügsamkeit oder Freude über die kleinen Dinge ist das Thema für mich. Es ist mein Geburtstag als Junge in einer kleinen Stadt. Und ich hatte für die damalige Zeit schon große Wünsche. Ernst August auf...ste...hen. Ernst August auf...ste...hen. So schlängelt sich jeden Morgen von Montag bis Samstag, somit außer am Sonntag und in den Schulferien, das energische Rufen der Frau Mama um pünktlich 6:45h von unten hoch herauf über die Treppe an der halb geöffneten Flurtür vorbei durch das Schlüsselloch meines Burgverließes an mein schläfriges Ohr. Die Federdecke ist so kuschelig warm und es prickelt so angenehm auf der Haut und ich drehe mich noch einmal herum, um den kühlen Luftzug, der dabei unter die Decke gelangt, zu genießen. Zweimal wird gerufen. Kein einziges Mal mehr. Der Rest des Tages befindet sich in meiner Verantwortung. Ich kann im süßen Schlummer im Bette liegen bleiben und in den Morgen, in den Mittag, den Nachmittag und den Abend und wieder bis zum nächsten Morgen Löcher in die Luft starren oder mit Robin Hood die Armen retten oder gemeinsam mit Tarzan alle Tiere des Dschungels vor den Wilderern beschützen oder Daniel Düsentrieb überzeugen, mir eine Zeitmaschine zu bauen, die mich zurück bringt bis an den Tag, an dem Jesus in Bethlehem in einem Stall geboren wurde. Wenn ich den Ruf nicht erhöre, werde ich tapfer in meinem Zimmer ausharren müssen und was ich auf keinen Fall mit meinen Kameraden hinbekomme ist, dass ich was zum Frühstück erhalte, an Mittagessen ist ebenso gar nicht zu denken wie an das Abendbrot. Vielleicht wird meine Frau Mama in einer halben Stunde kurz vorbeischauen, mir über die geschlossenen Augen an die Stirne fassen, um sich zu überzeugen, dass ich noch lebe und ebenso nicht in höchsten Fieberträumen vor mich hin phantasiere. Dann ist Schluss. Die Freunde, die mich nach der Schule besuchen möchten, um zu fragen, wo ich heute Morgen geblieben bin oder ob ich die Windpocken, die Masern oder irgendeine dicke Erkältung oder Grippe verteilen könnte, werden an der Haustür mit netten Worten auf Morgen früh vertagt. Was ich auch auf keinen Fall hinbekomme, ist die Entschuldigung für die verträumten Schulstunden. Da stehe ich dann wie ein dummer Tropf mit gesenktem Haupt vor Frau Hahn, die mit ihren 64 Jahren kurz vor ihrer Pension steht und die uns Schüler bisher jedes Jahr am dritten Advent zu sich nach Hause eingeladen hat, um Weihnachtslieder zu singen und Bratäpfel zu essen. Sie wird mich über ihre bebrillte Nase hinweg mit ihren großen Kulleraugen ansehen, wenn ich vor der ganzen Klasse bekennen muss, dass ich mit Robin Hood, Tarzan und Daniel Düsentrieb unterwegs war und meine Eltern das nicht schriftlich bestätigen wollen. Alle dreißig Weggefährten werden sich kaum einkriegen können vor Lachen, alle Muskeln werden ihnen schmerzen. Auch ich kann kaum umhin, als ich sehe, dass Frau Hahn sich ein Schmunzeln nicht verkneifen kann. Alle bewundern mich insgeheim für den gewonnenen Tag. Doch die Eintragung ins Klassenbuch, die dann im Zeugnis als "unentschuldigt gefehlt: 1 Tag" mir ein paar Wochen später noch einmal nachhängt und mir die ersehnten Weihnachtsgeschenke in so weite Ferne entführt, dass auch Daniel Düsentrieb nicht helfen kann, wird und will keiner übernehmen. Das geht mir so alles im Bruchteil von Sekunden durch den Kopf und mein rechtes Bein steht bereits auf der kleinen Matte vor meinem Bett bevor das zweite Mal Ernst August auf...ste...hen sich von unten auf den Weg macht. Ich wundere mich schon, als ich mein Zimmer verlasse, dass das Zimmer meiner Eltern noch verschlossen ist und als ich unten in der Küche ankomme, ist der Herd noch nicht geheizt, es ist noch alles kalt, die ersten Eisblumen blühen am Fenster und leer geräumt ist der Tisch noch von gestern Abend. Ich haste zurück nach oben in mein schon leicht angekühltes Bett und wälze mich in die Federn. Das ganze Geschehen lässt mich ein wenig mehr frösteln als es wohl nötig war, aber es rief so echt, wie es sonst morgens tatsächlich immer passiert. Dabei ist heute Sonntag, der erste Advent, und ich habe meinen zehnten Geburtstag. Wahrscheinlich habe ich durch mein Gepolter meine Eltern aufgeschreckt, die heute mal länger schlafen wollten. Der Herr Papa bleibt wohl an meinem Geburtstag und weil es dazu mein zehnter ist, zu Hause. Ansonsten hat er doch immer was zu arbeiten. Zurzeit zieht es ihn am Sonntagvormittag zum Elektriker Schümann, der sich in Kameradschaftshilfe einen Wintergarten ausbauen lässt. Mein Bett hat sich schnell wieder die richtige Temperatur zugelegt, und nun kann ich mich ganz in Ruhe mit meinen drei Gefährten wieder aufmachen, um die Welt retten. Dann ist es doch so weit. Heute kommen die beiden lieben Leutchen zu mir ans Bett und streicheln mir über mein blondes Haar und rufen mich so aus dem Dschungel zurück, wo ich gerade mit Daniel Düsentrieb einen Elefanten mal kurz in eine Maus verwandle, weil die Wilderer nach Elfenbein suchen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Heute zweistellig. Die erste Null. Das Geburtstagsgeschenk fällt ziemlich klein aus. So scheint es mir. Denn in der Hand meines Herrn Papa wirkt das in buntes Papier eingeschlagene Etwas genau so. Mein Gesicht sieht wohl ziemlich erstaunt aus. Die beiden Herrschaften schmunzeln sich an und sind gespannt wie ein Flitzebogen. Hastig befreie ich das Ding von seiner bunten Hülle. Es ist eine Schachtel, angeklopft klingt sie hohl von innen heraus. Was soll da wohl Tolles drin sein? Daniel Düsentrieb hat vielleicht mit den beiden zusammen gearbeitet und die Modelleisenbahn von Märklin oder ein neues Fahrrad dort hinein fabriziert. Oh, ja, ein neues Fahrrad. Mein altes war der Lohn für den Herrn Papa und vom Kettenkarussell abgeschweißt worden und hat weder Lampen noch Rücklicht. Der gestrenge Stadtpolizist Wien kennt mich gut und ist trotz Freundschaft zu meinem Herrn Papa hinter mir her. Er will mir Angst machen. Ich soll seine Nachsicht mit meinem Fahrrad meinem Herrn Papa erzählen, damit der ihm ein paar Fliesen an die Wand im neuen Bad zum Kameradschaftspreis verlegt. Denkste, lieber haue ich rechtzeitig ab, wenn ich dich in deiner grünen Uniform schon von weitem sehe. Ich öffne die Schachtel und springe vor Freude aus dem Bett und den beiden um den Hals. Nun bin ich ein kleiner Mann. Eine Armbanduhr. Ganz neu und ganz für mich. Kreisrund und metallisch Silber, schwarzes Ziffernblatt mit weißen arabischen Ziffern und unten in der Mitte auf ebenso rundem, weißem Feld ein kleiner Anzeiger für die Sekunden. Das schwarze Armband duftet nach Leder und hat auf der einen Seite viele kleine Löcher eingestanzt bekommen und auf der anderen Seite eine Schnalle. Der kleine Stöpsel wird bis zum vorletzten Loch gezogen. Meine Augen strahlen. Die Kienzle sitzt fest an meinem zehnjährigen linken Arm. Mein Kopf ist schon in den ersten Sekunden so nach links eingerastet, dass ich meine Mutter fast umrenne, als ich ihr ein erneutes Dankeschön aufschmatzten möchte. Auch der Vater bekommt seinen zweiten Kuss. Viel später erfahre ich, dass sich Uhrmacher Riedel einen kleinen Brunnenring von meinem Vater in seinem Garten ausbessern ließ und diesem die Kienzle entsprang. Meine Frau Mama, in der finanziellen Kette getroffen, ließ für das Weihnachtsfest den Friseur einen guten Mann sein und drehte sich die Lockenwickler selber ein. Nichts ist mehr wie noch vor wenigen Augenblicken. Jetzt wird alles in Sekunden, Minuten und Stunden genauestens eingeteilt. Das werde ich auch meine Freunde spüren lassen. Ich bin die erste wandelnde Uhrzeit in unserer Straße. Nach genauen zeitlichen Vorgaben und nicht nach dem Sonnenstand werden sie ihre Befehle von mir erhalten. Wyatt Earp bin auf jeden Fall jetzt immer ich. Denn nur der Gute teilt die Zeit. Morgens werde ich meine Frau Mama prüfen, ob sie mich wirklich pünktlich weckt. Frau Hahn und der Rektor werden es bald wissen, ob sie die Schulstunden nach voller Länge ausklingeln lassen und auch Tarzan wird seine Tiere etwas strenger herannehmen müssen. Der Rest des Tages ist geprägt von meinen präzisen Angaben zur nachgefragten Tageszeit. Da die gesamte Verwandtschaft und auch reichlich Freunde sich mit ihren Gratulationen, Kniestrümpfen, Unterhosen und Brausepulver einfinden, habe ich einen so regen Job, dass ich einen steifen Hals bekomme und mich am frühen Abend, genauer gesagt, um 19.35h, in meinem Verließ ermattet in die Kissen werfe. Meine drei Kameraden sind sofort zur Stelle und fest davon überzeugt, dass die Armbanduhr ein bedeutsames Zeichen ist und ihre Schatten als Bahnhofsuhr voraus wirft. Na, so ein Heiliger Abend soll kommen! Unser Buchtipp: Weihnachtsgeschichten unserer Autoren
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