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Schach den Weihnachtstraditionen
© Gabriele Schech
"Mama, mir gefällt der Gedanke nicht, dich über Weihnachten allein zu lassen. Aber wir können hier nicht weg. Roberts Eltern kommen dieses Jahr und ich dachte, du besuchst uns auch."
Waltraud seufzte. Sie wusste, dass ihre Tochter so reagieren würde, aber sie hatte eine Entscheidung für sich getroffen. "Kathrin, bitte, ich möchte Weihnachten diesmal nicht im herkömmlichen Sinn feiern. Die Erinnerung an letztes Jahr, als dein Vater nicht mehr dabei war, hat mir die Freude genommen."
"Gut. Wie du möchtest. Aber überlege es dir noch einmal in Ruhe. Robert arbeitet bei der Fluggesellschaft und kann auch kurzfristig stornieren. Wir wollten dir die Flüge zu Weihnachten schenken, dich aber nicht unter Druck setzen. Du darfst dir gern etwas Anderes wünschen. Sag es mir, wenn du dich entschieden hast."
Waltraud wusste, dass Kathrin enttäuscht war und sie rechnete es ihr hoch an, dass sie so gelassen reagierte. "Danke, Kathrin, ich melde mich bei dir. Bis bald, meine Kleine."
"Ja, bis bald, Mama, mach's gut."
Waltraud legte den Hörer auf. Sie konnte einfach nicht nach New York fliegen und dann fröhliche Weihnachtsstimmung vortäuschen. Es war ihr sehr schwer gefallen, ihrer Tochter das mitzuteilen, aber nun hatte sie es endlich hinter sich gebracht. Doch jetzt wollte sie nicht allein sein, sie musste raus aus der Wohnung und unter Menschen gehen.
Kurz darauf betrat sie ihr Lieblingscafé in der Altstadt. Es war sehr voll, doch in einer Nische fand sie einen unbesetzten Tisch und bestellte sich ein Kännchen Kaffee und ein Stück Käsekuchen. Dann blickte sie sich um. Es schienen sehr viele Frauen zu einem Plausch verabredet zu sein. Zwei Pärchen waren auch da, aber die fielen kaum ins Gewicht. Da sah sie im Eingang eine kleine zierliche Dame stehen, die sich suchend umsah und so wirkte, als wolle sie gleich wieder gehen. Waltraud winkte ihr lächelnd zu und
machte eine einladende Geste mit der Hand. Die Dame zögerte kurz, kam aber näher. "Bitte setzen Sie sich, die anderen Stühle sind alle frei", sagte Waltraud.
"Danke schön, das ist sehr freundlich", sagte die Frau. Sie machte einen erschöpften Eindruck.
"Sie hatten aber heute schon viel zu erledigen", stellte Waltraud mit einem Blick auf die vielen Taschen fest, welche die Dame bei sich hatte.
"Ja, und das in sehr kurzer Zeit", sagte diese. "Ich lebe mit meiner Mutter zusammen. Sie ist 86 Jahre alt und stark gehbehindert. Jetzt ist gerade jemand vom Pflegedienst bei ihr. In der Zeit kann ich immer ein paar Besorgungen machen. Das habe ich heute schnell erledigt, deshalb ist noch eine kleine Kaffeepause drin."
"Das stelle ich mir sehr anstrengend vor. Haben Sie denn nicht ab und zu jemanden, der sie ablöst, damit Sie auch mal etwas für sich tun können?"
"Ja, aber recht selten. Eine Freundin meiner Mutter kommt einmal im Monat, manchmal auch meine Cousine. Mein Sohn lebt mit seiner Familie in Boston. Mehr Verwandte haben wir nicht."
"Ihr Sohn lebt in den USA? Meine Tochter ist vor drei Jahren nach New York gezogen, sie hat dort geheiratet. Sie führt ihr eigenes Leben und es geht ihr sehr gut. Aber es ist für uns beide hart, wenn wir uns lange nicht sehen können."
"Ja, das geht mir auch so", sagte die nette Dame. "Boston ist so furchtbar weit weg. Inzwischen habe ich zwei Enkelkinder, Tim und Lisa, vier Jahre und 15 Monate alt. Die Kleine habe ich bisher nur auf Fotos gesehen."
"Haben Sie welche dabei?", fragte Waltraud, "oh, entschuldigen Sie, ich möchte nicht aufdringlich sein. Mein Name ist Waltraud Wagner. Nach einem Telefonat mit meiner Tochter habe ich den Wunsch verspürt, unter Leute zu gehen. Normalerweise erzähle ich nicht jedem gleich meine Lebensgeschichte. Aber Sie waren mir auf den ersten Blick sympathisch."
"Ich finde Sie überhaupt nicht aufdringlich, eher erfrischend", sagte die Tischnachbarin. "Ich heiße Gertrud Friedheim und ich freue mich immer, wenn ich von meinen Enkeln erzählen kann."
Sie holte einige Fotos aus der Tasche und die beiden ungleichen Frauen - Waltraud wirkte neben Gertrud noch korpulenter als sie eigentlich war - steckten über dem Tisch die Köpfe zusammen.
"Ach, Ihre Freundin ist auch gekommen, guten Tag", sagte die Serviererin und stellte das Tablett mit Waltrauds Bestellung ab. "Was darf ich Ihnen bringen?"
Waltraud lachte und sagte zu Gertrud: "Was nicht ist, kann durchaus noch werden."
"Bringen Sie mir bitte das gleiche", sagte Gertrud.
Sie saßen eine knappe Stunde im Café. Dann kannte jede die aktuelle Lebenssituation der anderen. Waltraud war seit einem Jahr verwitwet und konnte von ihrer Witwenrente und gelegentlicher Arbeit als Aushilfe in einer Geschenkboutique gut leben. Gertruds finanzielle Situation war angespannt. Sie war seit über zwanzig Jahren geschieden und hatte ihren Sohn allein großgezogen. Seinen Verpflichtungen war sein Vater nur spärlich nachgekommen und er war auch bald nach der Scheidung gestorben. Sie bezog eine kleine
Rente und bekam etwas Pflegegeld, aber auch mit der Rente ihrer Mutter kamen sie gerade so über die Runden. Ihr Sohn schickte monatlich etwas Geld, aber seitdem das zweite Kind da war, fiel es ihm sehr schwer. Sie litten sehr darunter, zu wissen, dass sie sich auf lange Zeit nicht sehen würden.
Gertrud erschrak, als sie auf die Uhr sah. "Ich muss los, bin schon zu spät dran." Sie sprang hastig auf.
"Wollen wir uns hier wieder treffen?", fragte Waltraud.
"Ja, gern." Gertrud überlegte einen Augenblick. "Übermorgen um 15 Uhr?"
"Abgemacht!"
Sie gaben sich die Hand und beide Frauen hatten das belebende Gefühl, dass sich heute etwas verändert hatte.
"Ich habe schon viel von Ihnen gehört, sagte die zerbrechlich wirkende alte Dame mit einem zufriedenem Gesichtsausdruck", als sie Waltraud begrüßte. "Mein Name ist Hedwig, darf ich Sie Waltraud nennen?"
"Gern", sagte Waltraud, "ich habe nichts …"
"Spielen Sie Schach?", kam schon die nächste Frage.
Gertrud warf Waltraud einen entschuldigenden Blick zu. "Mutti, Waltraud ist zum Kaffeetrinken gekommen und nicht zum Schachspielen."
Aber Waltraud lachte und sagte: "Schach? Ich habe seit Jahren nicht gespielt, aber ich konnte es mal recht gut."
Die alte Dame lächelte ihrer Tochter triumphierend zu.
Gertrud zog eine Augenbraue hoch. "Waltraud, sieh dich vor, sie spielt jeden an die Wand."
In den nächsten Wochen trafen sie sich abwechselnd in einer ihrer Wohnungen oder im Café und einmal in der Woche kam Waltraud zum Schachspielen.
Dann hatte Gertrud frei. Sie ging zum Friseur, ins Museum oder nur spazieren, wozu sie gerade Lust verspürte.
Inzwischen nahte die Adventszeit.
Waltraud war gerade zur Schachpartie gekommen.
"Hast du Lust, am Wochenende auf einen Weihnachtsmarkt zu gehen? Muttis Freundin kommt", sagte Gertrud, als sie ihren Mantel anzog.
"Ehrlich gesagt, habe ich im Moment mit Weihnachten nichts am Hut", sagte Waltraud und erzählte, dass sie sogar die Einladung ihrer Tochter ausgeschlagen hatte.
"Mein Gott, Waltraud!" Gertrud schlug sich beide Hände vor den Mund. "Das gibt es doch nicht. Warum?"
"Ich möchte meinen Kindern nicht das Fest verderben, wenn ich nicht in Stimmung bin. Ich denke dann nur an früher. Ich bin einfach noch nicht so weit, dass ich daran wieder Freude habe. Ich muss Weihnachten einmal anders verbringen, ich weiß nur noch nicht wie."
"Ich hoffe, du bereust es nicht", sagte Gertrud leise und nahm ihren Hut. Sie schien in Gedanken woanders zu sein. "Ich bin in zwei Stunden zurück", sagte sie, als sie ging.
"Lass dir Zeit!", rief ihre Mutter und stellte eifrig die Schachfiguren auf.
"Du sollst dich wirklich nicht hetzen", sagte Waltraud mit einem liebevollen Blick auf Hedwig, die es schon nicht mehr erwarten konnte anzufangen. "Ich bringe Hedwig auch ins Bett, wenn sie müde wird. Du weißt, dass das keine Anstrengung für mich ist, weniger als für dich. Ich habe das im Griff."
Waltraud ging inzwischen darin auf, ihrer Freundin behilflich zu sein, damit diese wieder zu sich selbst fand. Gleichzeitig hatte sie Freude an Hedwigs Gesellschaft. Diese hatte ihr schon viele Finessen des Schachspiels verraten und schien es zu genießen.
Einmal hatte Waltraud sogar gewonnen. "Ich möchte nicht, dass Sie mich gewinnen lassen, Hedwig", hatte sie gesagt, als sie sich plötzlich als Siegerin sah.
"Ich pflege nicht freiwillig zu verlieren, Kindchen, so gut müsstest du mich allmählich kennen", sagte Hedwig. "Endlich habe ich mal eine Partnerin, bei der ich mich anstrengen muss. Wir sind ein gutes Gespann." Hedwig rutschte wie ein kleines Mädchen auf ihrem Sessel hin und her. "Revanche?"
"Ja, sofort, aber vorher möchte ich Sie gern etwas fragen", sagte Waltraud.
"Einverstanden, Kindchen, aber nur, wenn du ab heute Du zu mir sagst."
Waltraud rief ihre Tochter an. "Kathrin, ich weiß euer Geschenk wirklich sehr zu schätzen und ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber ich würde es gern anders verwenden."
"Das ist in Ordnung, Mama. Was ist es denn? Soll ich es besorgen oder möchtest du es selbst tun?"
"Danke, aber ich meinte das ganz anders. Ich hoffe, dass ihr einverstanden seid und dass es machbar ist. Ich werde es dir erklären …"
Gertrud kam aufgeregt ins Wohnzimmer. Als es klingelte, hatte sie gedacht, Waltraud sei etwas früher gekommen, aber es wurde ein Einschreiben abgegeben.
"Sieh dir das an", sagte sie und reichte ihrer Mutter einen dicken Briefumschlag.
"Flugscheine", sagte Hedwig. "Du musst nur noch mit deinem Pass ins Reisebüro. Wo liegt dein Problem?"
"Mutti, du tust so, als wäre das ganz normal. Wer hat die gebucht? Ich habe heute mit Martin telefoniert. Sie müssen das Auto reparieren lassen. Er war es bestimmt nicht."
Hedwig konnte ein Schmunzeln nicht mehr zurückhalten. "Kannst du dir wirklich nicht denken, wer das war?"
Gertrud überlegte kurz. "Oh nein", sagte sie, "das kann nicht wahr sein. Du wusstest es? Hast du dir das etwa ausgedacht? Mutter!!!"
"Wir haben uns unterhalten und ich habe ihr gesagt, dass ich mich nicht wohl dabei fühle, dass du durch mich immer so angebunden bist und dass ich dir gern mal einen Urlaub gönnen würde. Aber die Idee hatte sie schon selbst. Sie wollte wissen, ob ich es zwei Wochen mit ihr aushalten würde und ob dein Pass noch gültig ist. Die erste Frage konnte ich sofort beantworten, bei der zweiten musste ich nachdenken. Aber Waltraud wusste, wie lange ein Pass gilt und so lange hast du ihn noch nicht. Bis auf meine Beine
bin ich noch ziemlich auf Draht, mein Mädchen, oder? Und Waltraud hat große Freude an der Sache, das kann ich dir sagen."
Hedwig schien begeistert von der Idee.
Ehe Gertrud etwas erwidern konnte, läutete es an der Tür. Waltraud war gekommen.
Als sie bei Kaffee und Kuchen saßen, sagte Gertrud: " Waltraud, ich kann dein Geschenk nicht annehmen, es ist einfach zu viel."
"Ich habe mir das sehr genau überlegt, Gertrud. Ich bleibe diese zwei Wochen hier und du fliegst zu deinen Kindern. Denk doch mal, welche Freude du ihnen machen wirst. Hedwig ist bereit, auf den traditionellen Ablauf des Weihnachtsfestes zu verzichten, nur einen Baum möchte sie haben. Diesen Kompromiss sind wir beide eingegangen."
"Trotzdem, Waltraud, das ist nicht recht. Den Flug haben dir deine Kinder geschenkt. Da kann ich doch nicht fliegen."
Nun mischte sich Hedwig entschlossen ins Gespräch: "Gertrud, willst du mich im Ernst um ein 14-tägiges Schachturnier bringen?"
Nicht nur ihre Mutter, auch Waltraud sah Gertrud mit fragenden Augen an.
"Meine Tochter hat die Flüge selbst umgebucht. Sie ist einverstanden", sagte Waltraud und hielt Gertrud die Handfläche hin. "Na los, schlag ein!"
‚Platsch' - schon lag Hedwigs Hand auf Waltrauds.
"Ich habe meiner Mutter eine Verbündete ins Haus geholt, ich gebe mich geschlagen", seufzte Gertrud und legte ihre Rechte darüber. Sie lächelte.
Es war schon spät am Heiligen Abend. "Das ist das achte Spiel in Folge, das du gewinnst, Hedwig. Wirst du denn gar nicht müde?"
"Nein, Kindchen, ich habe dir ja gesagt, dass Drillinge hüten leichter ist, als sich mit mir anzulegen. Bereust du es wirklich nicht, dass du nicht zu deiner Familie gefahren bist?"
"Oh nein, ganz und gar nicht", lachte Waltraud und stellte die Figuren wieder auf. Bis vor kurzem habe ich mich vor Weihnachten gefürchtet und nun genieße ich es, hier mit dir zu sitzen und eine Partie nach der anderen zu verlieren. Gertrud war so glücklich am Telefon, dein Enkel genauso und auch seine Frau. Und Timmi erst. Meine Tochter freut sich nun, dass ich im Frühjahr komme. Das habe ich ihr heute versprochen. Ich glaube, ich habe das Wesentliche an Weihnachten für mich gefunden. Und du, wie ist
dieses Fest für dich, Hedwig?"
"Ich könnte mich daran gewöhnen", sagte Hedwig und die Lichter des Baumes spiegelten sich in ihren Augen. "Ich habe plötzlich Appetit auf einen Glühwein", sagte Waltraud.
"Möchtest du auch einen Becher? Ich mache uns schnell welchen warm."
Hedwig räkelte sich im Sessel, zog das liebenswerte Gesicht in tausend Falten und sagte verschmitzt: "Oh ja, sehr gern, aber bilde dir nicht ein, du könntest dann leichter gegen mich gewinnen."
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