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Ich denk an dich
© Iris Lehnert
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Er war ein alter Mann, von seltener Schönheit, drahtig und sehr groß. Bekleidet war er mit einem dunkelblauen Wintermantel. Dazu trug er einen passenden Hut, unter dem eine scheinbar üppige grauhaarige Pracht gelockt hervorschaute. Die wasserblauen Augen blickten wehmütig auf die mittlerweile still daliegenden Gleise. Er wusste, er hätte einsteigen können. Er wusste auch, er hätte mit diesem Zug zur Familie seiner Tochter fahren können. Erst im letzten Moment hatte ihn der Mut endgültig verlassen. Er war einfach
stehen geblieben, nicht eingestiegen.
Der Zug war längst nicht mehr sichtbar, als ein wenig Bewegung in die Gestalt von Georg Sander kam. Die Zigarette, aufgeraucht, lag jetzt in ihren verbliebenen Resten auf dem Bahnsteig, gedankenlos ausgetreten. Sander hörte von irgendwo Kirchengeläut. Es war Heiligabend, zwanzig Uhr. In zwei Stunden, so besann er sich, begann die alljährliche Christmette. Sie hatten bisher nie eine versäumt. Sie, seine Frau und er.
Immer waren sie gemeinsam hingegangen, saßen gewohnheitsmäßig in der zweiten Reihe von vorne, möglichst weit links im Kirchenschiff. Von hier aus konnten sie auf die Krippe sehen, sie auf sich wirken lassen. Aller Alltag war dann abgefallen. Nur die Ruhe, die von dieser hölzernen Krippe ausging, zählte noch und rief alte Zeiten hervor. Die mitgebrachten Sorgen um Geld und Gesundheit rückten weit in den Hintergrund. Auch dass die Tochter mittlerweile hundert Kilometer weit weg wohnte und sie die Enkelkinder nicht
mehr so oft sehen konnten, wie sie es gerne gehabt hätten. Georg Sander dachte gerne an seine Enkelkinder. Sie waren so offen, so fröhlich, einfach voller Leben.
Der Gedanke an seine Enkelkinder brachte Sander zurück in die Gegenwart. Er stand immer noch auf dem Bahnsteig. Langsam drehte er sich um, hob die Reisetasche auf, die neben ihm stand, und ging zum Bahnhofsausgang. Für diesen Tag gab es keine Zugverbindung mehr zu seiner Tochter. Zwei weitere Züge davor waren ohne ihn abgefahren, hatten andere als ihn mitgenommen und wiederum andere in seiner Stadt dagelassen.
Renate war vor drei Monaten gestorben, nach einer recht kurzen Leidenszeit. Sie wollte eines Tages einfach nicht mehr aufstehen, war müde geworden, des Lebens müde. Und er selber hatte sich nur noch machtlos gefühlt, weil er sie nicht zum Aufstehen hatte bewegen können. Nun war sie gegangen. Außer den irdischen Gütern, einem Rückblick auf eine ausgewogene und harmonische zweiundfünfzigjährige Ehe und vielen bewegenden Erinnerungen daran, waren ihm nur noch ihre letzten Worte geblieben.
Sander konnte sich gut an den Moment erinnern. Sie hatte ihn länger als gewöhnlich wortlos angeschaut, mit einem Mal zärtlich gelächelt und leise, fast feierlich, gesagt: "Ich denk an dich." Seit drei Monaten grübelte Georg Sander jetzt über diese Worte. Was sie wohl damit gemeint hatte? Welche Gedanken hatten sie bewogen, genau diese Worte zu wählen? Und bei all den Grübeleien und Überlegungen war er keinen Schritt weitergekommen.
Der alte Mann hatte den Bahnhofsausgang erreicht und trat auf die Straße. Ihn fröstelte. Es hatte angefangen zu schneien. Noch waren es kleine zarte Flocken, doch während er unschlüssig dem Treiben zuschaute, wurden sie größer und schwerer. Schon brachten es einige von ihnen fertig, auf dem Bürgersteig liegen zu bleiben, bildeten die Grundlage für eine weiße Weihnacht.
Äußerst abrupt schlug Sander den Mantelkragen hoch und zog sich den Hut tiefer ins Gesicht. Unwichtig mit einem Mal, dass er sich seit geraumer Zeit vor Weihnachten gefürchtet hatte, dass er hatte flüchten wollen vor Orten, die ihn an den Verlust seiner Frau erinnerten. Vergessen war der Wunsch, Weihnachten bei seiner Tochter zu feiern und dass zuhause lediglich eine leere Wohnung auf ihn wartete. Ja, Georg Sander wusste plötzlich sehr genau, wohin er gehen wollte.
Mit der nächsten Straßenbahn fuhr er heim, setzte sein Handgepäck im Flur ab, ohne erst Licht zu machen. Dann schloss er seine Wohnungstür von außen zu. Festen Schrittes nahm er den Weg Richtung Kirche. Für die Christmette war er sicherlich eine gute Stunde zu früh, doch das war ihm nur recht. Er nahm den Platz ein, den er mit seiner Frau die Jahre zuvor belegt hatte und berührte kurzfristig und scheu die abgesessene Sitzfläche neben sich. Dann wanderte sein Blick zur fast mannshohen hölzernen Krippe. Er ließ
die Figuren auf sich wirken und versuchte, soweit er sich dazu imstande fühlte, sie auch mit den Augen seiner verstorbenen Frau zu sehen.
Die Worte "ich denk an dich" kamen ihm in den Sinn. Und während er Maria in der Krippe genauer ansah, wusste er mit einem Mal, was Renate auf dem Sterbebett ihm hatte sagen wollen. "Gleichgültig, wo ich bin, du bist nie allein. Denke immer daran. Denn ich liebe dich." Das war es, was sie hatte ausdrücken wollen mit dem Satz "ich denk an dich". Das war es, was ihn die letzten drei Monate zutiefst beschäftigt hatte.
All die Jahre hatte er gewusst, dass sie ihn liebte. Doch wie sehr, erfuhr er erst jetzt. Es war eine Liebeserklärung gewesen, über den Tod hinaus, lebenslang. Und gleichzeitig eine Aussöhnung mit dem Tod, mit ihrem Tod. Anstelle der zuvor lastenden Einsamkeit durch das plötzliche Alleinsein stellte sich nun eine wohltuende Erleichterung ein. Nun wusste er mit Gewissheit, dass seine Frau Zeit seines Lebens in seinem Herzen weiter leben würde.
Nach der Christmette ging Sander beschwingt, fast fröhlich, nach Hause. Er wusste, er hatte seine Frau vor Monaten äußerlich verloren, doch in seinem Herzen hatte er sie jetzt wieder gefunden. Nach einem knapp gehaltenen Telefonat mit seiner Tochter - noch mochte er nicht über seine Gefühle reden - ging er zu Bett und schlief zum ersten Mal seit langer Zeit die ganze Nacht durch - mit dem Kopf auf dem Kissen von Renate.
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