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Schnee im Herzen
© Dolores Pieschke
Am Heiligen Vormittag packte der Weihnachtsmann den Schlitten fertig und band den Weihnachtsbaum fest. Er setzte sich auf den Kutschbock, holte tief Luft und sagte: "So. Nur noch verschnaufen, die Rentiere anspannen, und es kann losgehen."
Und weil die Zeit über die Erde wandert, blieben ihm fast vierundzwanzig Stunden, um die Geschenke zu verteilen.
Er probierte schon einmal sein "Hoh! Hoh!"
Hatte er zu laut probiert? Plötzlich grollte es, und ehe der Weihnachtsmann sich versah, schob ihn der Nordwind mitsamt dem Schlitten über die verschneite Erde bis in die Wolken und brauste mit ihm davon. Der Weihnachtsmann sah weit unter sich die Rentiere, die verwundert zu ihm hinaufblickten. Er klammerte sich am Schlitten fest. Er konnte weder Mond noch Sterne sehen und auch nicht, wohin der Wind ihn trieb. Vor Erschöpfung schlief er schließlich ein.
Der Nordwind erstarb, und die Wolken rissen auf. Unter dem blausamtenen Sternenhimmel sank der Schlitten immer tiefer und setzte so sanft auf, dass der Weihnachtsmann nur einen tiefen Schnarcher machte, sich bequemer zurechtrückte und weiterschlief.
Der Weihnachtsmann blinzelte. Er sah die Sonne aus dem Meer aufsteigen. Sein Schlitten stand auf gelbem Sand, Wellen umspielten die Kufen. Hinter dem Strand begann ein grünes Dickicht, aus dem hohe Bäume mit grünen Puscheln ragten. Der Weihnachtsmann sagte: "Das sind Palmen. Das ist die Südsee."
Eine warme Brise vom Meer plusterte seinen Bart auf. Er wischte sich mit dem Fäustling den Schweiß von der Stirn, legte den Mantel ab, zog die Stiefel und die Wollsocken aus, den Pullover mit dem Norwegermuster und alle anderen Sachen gleich mit. Der Sand kribbelte zwischen den Zehen.
Er rief in alle Richtungen "Hoh! Hoh!"
Niemand antwortete. Die Wellen kitzelten seine Waden.
"Sehr warm", sagte er, "sehr angenehm."
Er balancierte über die Steine ins Wasser, planschte, tauchte unter, er juchzte und spritzte, bis er völlig außer Puste war.
"Na, tobst wie ein Renkalb im ersten Schnee", sagte er zu sich, "ein Glück, dass dich keiner gesehen hat."
Er setzte sich in den Sand und schüttelte heftig den Kopf. Die Tropfen stoben nur so aus seinem Bart. Weit und breit war nichts als das Wasser und der Himmel. Er streckte sich im warmen Sand aus und schloss die Augen.
"Und die Sonne und die Wärme, hier bleibst du."
Als er die Augen wieder öffnete, war die Sonne bis zu den Palmen gewandert.
"Oh", sagte er, "oho! Hoh!" und stand auf.
"Würdest du bitte nur auf die Steine treten?"
Der Weihnachtsmann blickte nach unten. Neben seinem Zeh klapperte eine große, ovale Muschel heftig mit ihren zerklüfteten Schalen.
"Oh, entschuldige bitte. Bist du auch gerade kommen?"
"Ich bin die alte Auster. Ich habe ich mich hier zur Ruhe gesetzt."
"Ich bin der Weihnachtsmann. Ich komme aus Lappland. Das ist ganz im Norden."
"Ich weiß, wo Norden ist", entgegnete die Muschel. "Da ist es bitterkalt. Ich bin da mal vorbeigekommen. Es ist unfreundlich. Und was machst du hier?"
"Ich weiß nicht. Ich müsste den Menschen die Geschenke bringen, alles, was auf dem Schlitten ist."
"Warum?", fragte die Muschel.
"Das mache ich jedes Jahr. Sie warten auf mich, wenn es Winter wird. Sie freuen sich und singen mir etwas vor."
"Und deswegen machst du das?"
"Ja. Das ganze Jahr über denken die Menschen an ihre Wünsche, und wenn im Herbst die Blätter rot und gelb werden und von den Bäumen fallen, werden sie unruhig und sprechen dauernd davon."
"Bäume ohne Blätter?"
"Fast alle."
Der Weihnachtsmann sah zum Schlitten. Der Tannenbaum, den er mit goldenen Kugeln und roten Kerzen geschmückt hatte, hob sich dunkel ab gegen das grüne Dickicht. Die goldenen Kugeln schwangen im Wind. Die roten Kerzen bogen sich unter der Wärme.
"Er lässt die Nadeln hängen. Kein Wunder, bei dieser Hitze!", sagte er.
Die Muschel ließ sich von einer Welle auf einen flachen, besonnten Stein tragen.
Der Wind blies feine Wassertropfen herüber. In der Sonne funkelten sie in tausend Farben.
‚Wie zu Hause, wenn die Sonne über dem Horizont erscheint', dachte der Weihnachtsmann. Er überlegte laut: "Den Schlitten habe ich bis zum Mittag gepackt. Ehe ich die Rentiere anspannen konnte, blies der Nordwind. Es wurde dunkel. Hier ging die Sonne auf. Und jetzt steht sie hoch am Himmel."
Die Muschel schwieg, ihre obere Schale hob und senkte sich, so angestrengt dachte sie nach. Und als der Weihnachtsmann gerade seufzen wollte, sagte sie: "Du hast ... am 24. mittags ... die Nacht … jetzt ist der … ja, du bist von gestern, von jenseits der Datumsgrenze."
"Jetzt ist gestern?" fragte der Weihnachtsmann und seufzte nun doch.
"Gestern, nicht gestern. Jetzt ist jedenfalls der 23."
Der Weihnachtsmann stutzte und sagte dann: "Ich werde noch eine Weile baden und dann kann mich der Nordwind zurückbringen. Ich schaffe es dann noch gut mit der Bescherung."
"Der Nordwind?" Die Muschel klapperte mit den Schalen, als ob sie lachte. "Hier ist die Südsee. Da kannst du lange warten!"
Sie schob sich in einen kleinen Strudel. "Bleibst doch hier. Deine Geschenke kannst du auch von hier verteilen."
Warum eigentlich nicht? Immer Sommer. Keine dicken Pullover mehr, keine Wollsocken und Stiefel. Nie mehr vor Kälte zittern, nie mehr die rote Nase mit Schnee einreiben.
"Hier gibt es gar keinen Schnee!", sagte er entschieden und ein bisschen verwundert. Und er seufzte ganz tief: "Selbst wenn, meine Rentiere stehen in Lappland im Schnee."
"Im Schnee?", fragte die Muschel.
"Stell dir vor, alles, das ganze Ufer und alle Palmen sind bedeckt wie von Gischt, nur ganz kalt, wunderbar erfrischend, und es bleibt ganz lange liegen. Und er glitzert, wenn Mondlicht darauf fällt. Und er ist weich, er fällt aus großen, dicken Wolken."
Der Weihnachtsmann sah die Palmen und das grüne Dickicht weiß bedeckt, und er sah Schneeflocken vom blauen Himmel fallen. Er blinzelte, und der Himmel war wieder blau und die Palmen wieder grün.
"Ich kenne dieses kalte nasse Zeug." Die Muschel schüttelte sich.
"Ja, Schnee, ganz zarte Kristalle, wie Sternchen und Blumen. Soll ich dir meinen Pullover zeigen? Da sind welche eingestickt."
"Heißt das, die Sonne scheint gar nicht?" Die Muschel schnob verächtlich einen Wasserstrahl hervor.
"Du müsstest die Mittsommersonne sehen! Sie überschüttet die Welt mit einem Hauch von Melancholie." Er betrachtete das Grün hinter dem Strand. "Solche Farben gibt es sonst nirgends."
Konnte die Muschel sich überhaupt so etwas vorstellen in ihrem strudelnden, ewig unruhigen Wasser?
"Und den Spätsommer, wenn die Rentiere nach den Moosbeeren suchen. Sie lieben die bittersüßen Früchte. Leider kann ich dir keinen Moosbeerenlikör anbieten."
Die Muschel schien das nicht zu bedauern.
"Und das Nordlicht erst!" Der Weihnachtsmann breitete die Arme aus. "Gelbe und grüne Lichtbänder ziehen über den schwarzen Himmel und lila Wolken, die gehen ins Rosa über. Es ist ganz still. Wie Diamanten funkelt der Schnee."
Mit der Weisheit einer alten Auster betrachtete ihn die Muschel und sagte: "Weihnachtsmann, du hast Schnee im Herzen!" Sie schwieg einen Moment und pfiff dann durchdringend durch die Schalen. "Ich hole die Seepferdchen. Sie werden deinen Schlitten bis zum Südwind ziehen."
Von weit draußen im Meer lief eine Schaumspur heran, und ehe sich der Weihnachtsmann wundern konnte, reihten sich unzählige Seepferdchen vor dem Schlitten auf. Er sprang in seine Sachen und setzte sich auf den Kutschbock.
"Gute Reise!", rief die Muschel, "Nehmt die Ostroute! Die Seepferdchen wissen Bescheid. Ihr dürft der Datumsgrenze nicht zu nahe kommen."
Er warf den Seepferdchen die Zügel zu, rief "Hoh! Hoh!" und winkte. "Vielleicht komme ich ja wieder, irgendwann."
Die Muschel klapperte mit den Schalen und glitt in die Wellen.
Der Schlitten flog nur so durch das Meer. Links und rechts rollten die Wellen zurück und der Weihnachtsmann wischte sich die Gischt aus dem Gesicht. Schließlich verlangsamte sich die Fahrt. Die Seepferdchen sagten ganz außer Atem: "Du musst etwas warten. Der Südwind kommt in ein paar Minuten." Sie winkten mit den Schwänzen, und ehe er sich bedankten konnte, waren sie abgetaucht.
Kurz darauf zog der Südwind heran, ergriff den Schlitten mitsamt dem Weihnachtsmann und trug sie nach Norden. Das Meer und der blaue Himmel verschwanden, die Sonne wurde von Nebel eingehüllt, und bald war der Schlitten in Grau getaucht. Der Weihnachtsmann rutschte ungeduldig auf dem Kutschbock herum. Der Südwind verlangsamte die Fahrt, und als der Schlitten nach unten flog, gab er ihm einen Schubs, bog ab und verschwand. Denn eigentlich hatte er in Lappland nichts zu suchen.
Der Schlitten landete ganz sanft und glitt durch den Schnee. Der Weihnachtsmann winkte dem Polarstern. Der Frost biss ihn in die Wangen und die Nase. Er zwickte sich und rief: "He, du alter Frost, da bin ich! Versuch es ruhig mit mir! Ich habe einen Sommer gesehen! Einen Sommer, sage ich dir!"
Der Schlitten kam endlich hinter den Rentieren zu stehen. Die schliefen im Schnee. Eilig sprang der Weihnachtsmann vom Schlitten, machte ein paar Schneebälle und weckte damit die Tiere: "Auf, ihr Faulpelze! Beeilt euch! Wir sind spät dran." Schnell spannte er an und, als hätten die Rentiere nur auf sein "Hoh! Hoh!" gewartet, liefen sie los. Ihre Hufe flogen nur so dahin, der Schnee stiebte auf und bedeckte Mantel und Handschuhe und den Bart des Weihnachtsmannes und bestäubte die Zweige des
Weihnachtsbaumes.
Nachdem er mit der Bescherung fertig und nach Lappland zurückgekehrt war, machte der Weihnachtsmann ein Lagerfeuer. Er aß die restlichen Pfefferkuchen und erzählte den Rentieren von der Südsee. "Die Sonne, müsst ihr euch vorstellen, ist viel wärmer als bei uns. Man kann es fast nicht aushalten."
Die Tiere scharrten derweil im Schnee nach Rentierflechte.
Von der Muschel erzählte er ihnen nicht.
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