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Der Herzenswunsch
© Ana Maria Garcia
Es war ein kalter Novembertag und vom Himmel fielen sanft die ersten Schneeflocken. Paul sah aus dem großen Fenster seines Schulzimmers und konnte den Gong nicht länger erwarten, der das lang ersehnte Wochenende einläutete. Noch fünf Minuten, dann würde er nach Hause rennen, den Schulranzen abstreifen und mit seinen Freunden spielen. "So Kinder, da in vier Wochen Heiligabend ist", die Stimme der Lehrerin holte Paul von seinen Träumereien in die Wirklichkeit zurück, "möchte ich, dass ihr mir bis
Montag euren Wunschzettel für den Weihnachtsmann auflistet." Durch das Klassenzimmer ging ein Raunen. Wer glaubt denn heutzutage noch an den Weihnachtsmann? "Überlegt gut, was ihr euch wünscht, was ihr wirklich braucht und vergesst die Mitmenschen nicht. Nun könnt ihr zusammenpacken und nach Hause gehen." Das ließen sich die 24 Kinder der 2. Klasse nicht zweimal sagen. In Rekordzeit waren die Schulsachen verstaut und lärmend stürzten die Schüler ins Freie.
Paul raste nicht wie gewohnt den kurzen Weg zu seinem Haus. Nachdenklich setzte er einen Fuß vor den anderen und dachte an den Wunschzettel. Er hatte die Daumen lässig unter die Riemen der Schultasche geklemmt, denn das galt als cool. Andere Kinder stürmten an ihm vorbei und riefen Unverständliches.
An der Haustüre erwartete ihn seine Mutter. "Du bist heute spät dran, ist was passiert?" fragte sie Paul.
"Ach nee, Michael hat mich nur aufgehalten." erwiderte er.
"Heute gibt's Pfannkuchen. Geh und wasch dir die Hände. Und lass die Schultasche nicht wieder liegen."
Artig schleppte Paul die Tasche in sein Zimmer und schleuderte sie auf das Bett. Sein Zimmer war jungenhaft eingerichtet. Die Wände waren in einem hellen Blau gestrichen. Die Möbel waren aus hellem Holz. Harry Potter schmückte eine Wand, auf der anderen waren Poster von Fußballspielern. Vor dem Fenster stand sein Schreibtisch, der ordentlich aufgeräumt war, so wie auch das restliche Zimmer. Paul war mit seinen acht Jahren ein ordentlicher Junge. Für sein Alter war er eher klein, jedoch kräftig gebaut, was er
dem Sport zu verdanken hatte. Er trainierte regelmäßig im Schwimmverein und war begeisterter Fußballspieler, wie die meisten Jungen in seinem Alter.
Das Mittagessen verlief eher ruhig, worüber sich seine Mutter Sorgen machte. Normalerweise plapperte Paul ununterbrochen und sprach sogar mit vollem Mund, wofür sie ihn stets tadelte. Heute war er zu still und entgegnete auf die gestellten Fragen nur mit kurzen Antworten. "Paul, was ist mit dir los?", fragte ihn seine Mutter, die schon ahnte, was ihren Sohn bedrückte. Weihnachten rückte näher, was für die beiden die schlimmste Zeit des Jahres war.
"Es ist nichts, mir geht es gut", antwortete Paul. "Darf ich jetzt raus zum Spielen?"
"Ja, geh, aber komm nicht so spät, du musst noch deine Hausaufgaben machen."
Paul stand auf, trug seinen Teller zur Spüle, zog eilig seine Winterjacke an, schnappte sich seinen Ball, der im Gang lag, und sauste hinaus zu seinen Freunden.
Gegen 16 Uhr kehrte Paul mit roten Backen zurück. Er wärmte sich an einer heißen Tasse Kakao, die ihm seine Mutter zubereitet hatte, auf und knabberte einige Kekse. "Wir haben 5:2 gewonnen", jubelte Paul. Wir, das waren Michael, Tobias, Georg und Paul, die besten Freunde. Die gegnerische Mannschaft wurde immer aus anderen Jungs zusammengestellt, die gerade Lust zum Bolzen hatten.
Nach der warmen Stärkung ging Paul in sein Zimmer um sich um seine Hausaufgaben zu kümmern. Er machte sie immer am Freitag, so konnte er das ganze Wochenende ungestört toben und spielen.
Er hatte diesmal nicht viel auf und gerade das bisschen bereitete ihm großen Kummer. Eine Weihnachts-Wunschliste zusammenstellen. Da hatte sich die Lehrerin ja was ganz Tolles einfallen lassen. Paul setzte sich missmutig auf seinen bunten Drehstuhl und holte seinen Schreibblock aus der oberen Schublade. Danach holte er aus dem Federmäppchen seinen blauen Füller hervor schrieb als Titel: "Lieber Weihnachtsmann" Pause. Er kaute auf dem Hinterteil des Füllers, während er aus dem Fenster schaute und überlegte.
Es war bereits dunkel und man konnte im Lichtkegel der Straßenlaterne sehen, dass es noch schneite. "Wenn das so weiterschneit", dachte Paul, "wird das morgen nichts mit dem Fußballspiel." Erneut widmete er sich dem Blatt, dessen weiße Reinheit ihn entmutigte. Langsam schrieb er die zweite Zeile: "Ich wünsche mir zu Weihnachten ..." Pause. Er wünschte sich eine Videokonsole, wie Georg sie hatte. Also schrieb er: "Eine Videokonsole" Und dann sprudelten seine Wünsche nur
so auf das Papier. Neue Farbstifte, das Fußballspiel für die Videokonsole, ein Harry Potter Puzzle, den tollen Fußball, den er vor kurzem im Sportgeschäft gesehen hatte, Fußballschuhe, das Trikot von Bayern München, ein Teleskop, ein Kickerspiel. Die Liste nahm auf einmal kein Ende. Jäh hielt er jedoch inne. Hatte die Lehrerin nicht gesagt, man sollte Dinge auflisten, die man braucht und auch an die Mitmenschen denken? Und da erinnerte er sich wieder an seinen Herzenswunsch. Aber konnte er diesen Wunsch hier
notieren? Zweifel kamen in ihm auf. Der Weihnachtsmann, den es ja eh nicht gab, konnte ihm diesen Wunsch doch nie erfüllen. Aber was hatte er zu verlieren. Er holte aus dem Schubfach sein Lineal, zog fein säuberlich unter seinen Wünschen einen Strich und führte seine Liste weiter. "Lieber Weihnachtsmann, also die Fußballschuhe und die Farbstifte könnte ich schon gebrauchen, den Rest kannst du unter meinen Freunden aufteilen. Mein größter Wunsch ist, dass Mama und Papa sich wieder vertragen und wir wieder
eine richtige Familie sind. Vielen Dank, Paul." Tränen kullerten über seine Wangen und tropften auf das Papier. Er vermisste seinen Vater sehr. Traurig faltete er seinen Wunschzettel zusammen und steckte ihn in seine Lesefibel. Dort blieb die Liste vergessen, bis am Montag die Lehrerin danach verlangte. Pauls Eltern hatten sich vor zwei Jahren nach einem Riesenstreit getrennt. Einmal im Monat verbrachte Paul ein Wochenende mit seinem Vater. Dabei brauchte er seinen Vater jeden Tag, um ihm seine Erfolge zu
erzählen. Und außerdem konnte er mit seiner Mutter nicht über Fußball reden.
Flugs kam der Montag. Am Ende der Schulstunde sprach die Lehrerin: "Kinder, bevor ihr zur Pause geht, legt bitte eure Wunschlisten auf meinem Pult und vergesst nicht, oben euren Namen drauf zu schreiben." Nacheinander gaben die Kinder ihre Listen ab. Noch während der Pause überflog Frau Huber die Listen. Bei einigen musste sie schmunzeln, doch bei einer blieb sie hängen. Oben stand auf der linken Seite der Name Paul Harmer.
Sie legte die Listen in ihre Mappe ab und verräumte diese in ihre Aktentasche. Nachdenklich verließ sie das Klassenzimmer und schritt zum Lehrerzimmer. Im Zimmer saßen noch andere Lehrer. Sie tranken Kaffee und unterhielten sich. Sie goss sich ebenfalls eine Tasse ein und setzte sich neben Herrn Traurig, dem Sachkundelehrer von Paul.
"Hans, wie macht sich Paul in letzter Zeit bei dir?", fragte sie ihren Kollegen.
"Paul? Jetzt wo du ihn erwähnst, fällt mir ein, dass sich seine Noten verschlechtern. Ich wollte schon mit dir darüber reden. Vielleicht sollten wir seine Eltern benachrichtigen."
"Pauls Eltern haben sich vor langer Zeit getrennt", fügte Frau Huber hinzu.
"Das könnte der Grund sein." stellte Hans Traurig fest. "Am besten rufst du seine Mutter heute noch an."
"Ja, ich mache das gleich", murmelte seine Kollegin.
Am nächsten Tag saßen sich Pauls Mutter und seine Lehrerin im Lehrerzimmer gegenüber. Das Zimmer war diesmal leer. Die Kollegen hielten ihre Schulstunden ab, nur Frau Huber hatte diese Stunde frei und wollte diese Angelegenheit hinter sich bringen.
"Frau Harmer, hat Ihnen Paul von den letzten Hausaufgaben erzählt?", begann die Klassenlehrerin.
"Nun, er hat was von einer Liste erzählt, ist aber nicht näher darauf eingegangen und wollte sie mir auch nicht zeigen. Hat er sie nicht gemacht?", entgegnete Pauls Mutter.
"Doch, Paul ist ein fleißiger und eifriger Schüler. In den letzten Monaten haben sich seine Noten allerdings etwas verschlechtert. Ich wüsste eventuell den Grund."
Frau Huber holte die Mappe mit den Wunschlisten hervor. Pauls Liste lag noch immer obenauf. Sie nahm diese und reichte sie wortlos Frau Harmer. Sie las still die Zeilen und als sie an das Ende kam, rollten auch bei ihr Tränen über die Wangen. "Mein armer Paul", brachte sie schluchzend heraus.
Eine Woche später trafen sich Cornelia und Alex Harmer im nahe gelegenen Park. Der Schnee hatte die grüne Anlage mit einer weißen Decke bedeckt. Vereinzelte Jogger und Hundebesitzer kreuzten ihren Weg. Die ersten Meter schwiegen die beiden. Dann brach Cornelia die eisige Stille. "Alex, mir ist nun bewusst, dass Paul dich braucht. Frau Huber, seine Lehrerin, rief mich zu ihr." Alex blieb stehen und schaute seine Frau fragend an. Sie griff in ihre Tasche, holte eine Kopie der Wunschliste raus und reichte
sie ihm. Alex las sie aufmerksam durch und als er am Ende der Zeilen ankam, wischte er sich eine Träne aus dem Auge. "Wir müssen es für ihn neu versuchen", sagte Alex mit bedrückter Stimme. "Ich muss zugeben, dass du mir sehr gefehlt hast", fügte er noch mit gesenktem Kopf hinzu. "Du mir auch", murmelte Cornelia. Sie umarmten sich lange Zeit.
Die Tage verstrichen, Heiligabend rückte immer näher und Pauls Stimmung wurde immer trüber. Seine Mutter hatte die Vorbereitungen für diesen besonderen Abend schon seit einiger Zeit mit Pauls Vater besprochen und war schon auf die Reaktion ihres Sohnes gespannt. Dann war es so weit. Paul stand auf und rannte zum Fenster. In der Nacht hatte es erneut kräftig geschneit und die Welt mit einer dicken weißen Hülle belegt. Die Spuren der Kinderstiefel und der Autoreifen waren vollkommen verschwunden, so als hätte nie
jemand die Gehwege und Straßen betreten. Paul raste in die Küche, wo seine Mutter das Frühstück zubereitete. "Mama, Mama, hast du das gesehen?", er lief weiter zum Fenster und zeigte hinaus. "Bei dem vielen Schnee hat der Weihnachtsmann keine Probleme mit dem Schlitten voranzukommen", meinte scherzend seine Mutter. Paul lachte. "Den gibt es doch gar nicht!" Und schon war er im Badezimmer verschwunden. Nach dem Frühstück zog Paul mit dem Schlitten los, um sich mit seinen Freunden
zu treffen. Seine Mutter holte in der Zwischenzeit die Geschenke aus dem Schrank und stellte sie vorsichtig unter den Weihnachtsbaum, den sie vor einer Woche zusammen mit Paul geschmückt hatte. In den Jahren zuvor war das die Aufgabe von Alex gewesen. Sie hoffte, dass die kommenden Jahre wieder die beiden Männer vor dem Christbaum standen und sich stritten, welche Kugel wohin kam. Sie schmunzelte bei dem Gedanken. Diese liebevolle Streiterei war schon Tradition, die sie schmerzlich vermisste.
Zum Mittagessen tauchte Paul hungrig und verschwitzt auf. "Ich habe einen Bärenhunger", schrie Paul von der Wohnungstür aus. "Das Essen ist gleich fertig", antwortete seine Mutter. "Du kannst schon mal in die Wanne springen." Nach dem Essen verbrachten sie den Nachmittag im Wohnzimmer und spielten Mensch ärgere dich nicht. "… drei, vier ...", zählte Paul, als es an der Haustür klingelte. "Machst du auf?", fragte seine Mutter und schon sprang er auf und lief zur
Tür. Als er öffnete, staunte Paul nicht schlecht. Vor ihm stand ein Mann mit einem langen weißen Bart, in einem roten mit weißem Pelz besetzten Mantel gekleidet. Auf seinem Kopf hatte er eine rote Mütze. Über seiner rechten Schulter hing ein Jutesack. "Der Weihnachtsmann!", rief Paul entsetzt.
"Ho, ho, ho! Meine Elfen haben mir gesagt, dass hier ein kleiner Junge wohnt, der einen besonderen Wunsch hat. Bist du der Paul?" Der Weihnachtsmann hatte eine brummige Stimme und irgendwie kam sie Paul bekannt vor.
Trotzdem konnte Paul vor Aufregung nur stottern. "J.. ja, d...der bin i...ich."
"Dann lass mich doch rein", brummelte es freundlich hinter dem weißen Bart.
Paul trat wortlos zur Seite und ließ den rot gekleideten Mann herein, der direkt ins Wohnzimmer ging. Paul schloss die Tür und schritt hinter ihm her. Seine Mutter wartete im Wohnzimmer. Mitten im Zimmer blieb der Weihnachtsmann stehen. "Nun, dann wollen wir mal sehen, was sich der junge Mann gewünscht hat." Er öffnete den Sack und holte eine kleine Schachtel heraus, die in blauem Geschenkpapier eingewickelt war. Paul nahm das Geschenk entgegen und murmelte ein "Danke." Er wickelte es aus
und darin befanden sich genau die Fußballschuhe, die er sich so sehr gewünscht hatte. Das war doch unmöglich ... Er hatte es nicht einmal seiner Mutter gesagt. Es stand nur auf dieser Wunschliste. Dann kniete sich der Weihnachtsmann hin und zog den weißen Bart herunter.
"Papa!", rief Paul und fiel seinem Vater um den Hals. "Bleibst du jetzt für immer?"
"Ja", sagte sein Vater mit stockender Stimme.
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