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Philosophische Bescherung
© Renate Müller
Die Geschenke lagen unter dem Christbaum, mit feinstem Geschenkpapier umwickelte Kartons in allen Größen lagen da. Sie glitzerten in Rot, Gold, Grün, Silber. Kunstvoll zusammengebundene Schleifen, breite und schmale, ebenso schillernd wie das Einpackpapier, waren darum gebunden.
Susanne war voller Vorfreude. Viele Weihnachten hatte sie schon erlebt, schöne und weniger schöne, aber dieses Jahr, das fühlte sie, dieses Jahr wird wohl eines der schönsten Feste ihres Lebens werden. Nein, nicht dass ihr so viel an Geschenken lag, nein, im Gegenteil, Susanne war nicht materiell eingestellt, ihr lag sehr viel an einer angenehmen, ehrlichen, freudvollen Atmosphäre, sie wusste, dass die wahre Freude des Weihnachtsfestes eine innere Freude ist. Und die spürte sie dieses Jahr, diese unendliche Freude,
die ihre neue große Liebe zu Heinz, den sie kurz vor Weihnachten kennengelernt hatte, in ihr aufsteigen ließ.
Noch eine halbe Stunde, dann würden alle kommen, Heinz, ihre Freundin Lore mit ihrem Mann Fritz, ihre Freundinnen Maria und Gerda, und Heinz wollte auch noch zwei Arbeitskollegen mitbringen, zwei geschiedene Männer, die sonst alleine hätten feiern müssen.
Es läutete an der Tür. Frohgelaunte Gäste erschienen, Susanne führte sie ins Wohnzimmer. Bewundernd blickten alle auf die Geschenkkartons und sie stellten noch ihre eigenen Kartons hinzu. Susanne legte eine Musikcassette in den Player, und es erklang: "Jingle Bells, Jingle Bells ..." Alle sangen mit.
Susanne ging mit Lore in die Küche. Sie machten den Punsch. Alle setzten sich zu Tisch. Nur Heinz' Freunde waren etwas zurückhaltend, auch der Punch konnte sie nicht ganz aus ihrer Reserve locken. Sie waren erst frisch geschieden und hielten ein wenig Abstand zu den anwesenden Frauen.
Gegen zwanzig Uhr läutete es an der Tür, der Catering Service brachte das Abendessen.
Endlich dann, kurz vor Mitternacht, sagte Susanne: "Jetzt kann ich es nun doch nicht mehr länger aushalten, ich möchte gerne, dass wir die Bescherung machen." Alle waren einverstanden und die Pakete wurden verteilt. Schon eigenartig, wie leicht sie alle waren. Was da wohl drin sein könnte? Susanne öffnete ihre Pakete und ihre Gesichtsmuskeln verzogen sich ein wenig zu einer schmerzhaften Grimasse. Was war das: ein Putzlumpen in einem Karton, ein Löffel im anderen, ein einzelner Handschuh im dritten.
War das ein Scherz? Dann, ein winziges Stück Schokolade im nächsten Paket. Susanne schaute sich um, alle schauten sie an, und dann brachen sie in lautes gemeinsames Lachen aus. "Ja, Susanne", sagte Heinz, "Du mit deiner Lebensphilosophie von der Unwichtigkeit materieller Werte, wir wollten dir damit nur zeigen, dass wir dich verstehen. Du sagst doch immer, wahres Glück kommt von innen und ist von äußeren Werten, von äußerem Glück oder Unglück, unabhängig". Da musste Susanne noch mehr lachen,
und auch die beiden Kollegen von Heinz, die bis jetzt sehr ruhig daneben gesessen hatten, stimmten in das Lachen ein, denn es war ehrlich und kam von innen und es war ansteckend, so ansteckend, dass auch sie das Leid ihrer kürzlichen Trennung vergaßen. Sie rückten etwas näher an Maria und Gerda heran, als diese noch weitere Geschenke aus ihren Kartons herausnahmen, ein leeres Glas, ein Fähnchen, einen Schwamm, wirklich, so eine lustige Bescherung hatten sie noch nie erlebt. Und alle waren sich mit Susannes Philosophie
nun einig, das Glück, das tragen wir in uns, und ab jetzt wird es nur noch schöne Weihnachtsfeste geben, egal, welche Umstände um uns herum oder welches Leid uns von außen von unserem inneren Glück entzweien wollen.
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