Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
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Unfall am Weihnachtsabend

© Sabine Trinkaus

Ein gewaltiger Knall hallte durch die Stille der nächtlichen Berge. Als Herlind Breitenschlag in den Garten der einsamen Berghütte eilte, um der Sache auf den Grund zu gehen, glaubte sie, ihren Augen nicht trauen zu können. Acht Rentiere, hilflos verwickelt in Zaumzeug, zuckten verzweifelt mit Beinen und Geweihen. Der Schlitten, vor den sie gespannt waren, lag auf der Seite.

Herlind war eine Frau der Tat und so hielt sie alles Erstaunen nicht davon ab, umgehend etwas zu unternehmen. Sie näherte sich den Tieren, beruhigte sie mit leisen Worten und zurrte hier und dort. Während sie Schnallen und Verschlüsse öffnete, tauchte an ihrer Seite eine Gestalt auf, die, ohne große Worte zu machen, mit ihr gemeinsam tat, was getan werden musste, bis das letzte Tier befreit war.

"Tausend Dank!" Eine schlanke Hand streckte sich Herlind entgegen. "Sinter ist mein Name, Isabell Sinter!"

Herlind schüttelte die Hand und stellte sich ihrerseits vor.

"Verdammt!", dröhnte eine Stimme hinter ihr. "Wieso sind die blöden Viecher ausgeschirrt?"

Herlind fuhr herum. Vor ihr stand ein großer, dicker Mann in rotem Mantel. Er trug einen weißen Bart in der Hand. Er war nass und schmutzig und sein Ton missfiel Herlind.

"Ich war so frei!", versetzte sie säuerlich. "Sie hätten sich sonst womöglich stranguliert!"

"Oho! Stranguliert, wie? Na, da habe ich es ja mit einer echten Tierfreundin zu tun!"

"Klaus!" Die Dame neben Herlind schüttelte den Kopf. "Bitte benimm dich!"

"Ich benehme mich, wie es mir passt, du dusselige Kuh! Die blöde Schnepfe weiß scheinbar nicht, wen sie vor sich hat!"

"Nein, das weiß ich nicht! Sie haben nämlich vergessen, sich vorzustellen!" Herlind war nicht in der Stimmung, sich beleidigen zu lassen.

"Na!", polterte ihr Gesprächspartner. "Dann will ich mal der Form genüge tun. Ich bin's! Der Osterhase!" Er brach in dröhnendes Gelächter aus.

Herlind holte Luft, um den ungehobelten Menschen des Grundstücks zu verweisen, als sie hörte, dass die Dame neben ihr leise schluchzte.

"Sie müssen entschuldigen ...", schniefte Isabell. "Mein Mann ist ... er ist etwas missgestimmt. Und der Unfall hat ihn sehr aufgeregt!"

"Das kann man wohl sagen! Da lässt man dich einmal ans Steuer! Ein einziges Mal ... Herrgott!"

Herlind schluckte ihre Gereiztheit hinunter und besann sich auf ihre gute Erziehung.

"Wie wäre es, wenn wir uns alle beruhigen und erst mal hinein gehen!", schlug sie versöhnlich vor. "Ich mache einen schönen Tee. Dann sieht die Welt gleich anders aus!"

Im Inneren der Hütte hielt Klaus sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf. Er zog den roten Mantel aus, legte ihn nebst Bart über einen Stuhl und ließ sich den Weg zur Dusche weisen. Die Damen nahmen mit dampfenden Bechern auf dem Sofa vor dem Kamin Platz. Eine Weile blickten sie schweigend in die Flammen.

"Sie sind also seine ...", Herlind zögerte.

"Seine Frau, ja!", Isabell lächelte. "Gattin und Geschäftspartnerin. Das überrascht Sie, nicht wahr? Die meisten Menschen kommen gar nicht auf die Idee, dass er verheiratet sein könnte. Er hängt es auch nicht gerade an die große Glocke. Das könnte ja Aufmerksamkeit von ihm ablenken ..."

"Ach ja, Männer", seufzte Herlind voller Verständnis.

"Dabei wäre er nichts ohne mich! Als ich damals da angefangen habe ... das hätten Sie sehen sollen! Eine Katastrophe! Besoffene Elfen, desorientierte und ungepflegte Rentiere. Geschenke aus dem Versandhauskatalog. Jedes Jahr Socken, wollene Unterhosen und Bügeleisen! Kundenorientierung - ein Fremdwort! Und als ich die Bücher das erste Mal gesehen habe - ich wäre am liebsten davongelaufen ... Aber ich bin geblieben ..."

"Seinetwegen?"

Isabell kicherte. "Oh nein, Gott bewahre! Das kam viel später. Ich war einfach jung. Voller Enthusiasmus. Es hat mich irgendwie gepackt. Ich habe die Herausforderung gesehen! Mir ist allerdings schnell klar geworden, dass wir in der Form als Unternehmen nicht lange überleben können. Die Weltwirtschaft verändert sich ..."

"Als Mittelständler hat man keine Chance!" Herlind dachte an 'Wolkenburg Kurzwaren' und fühlte eine angenehme Woge der Erregung.

"Ja, ohne die Global-Player geht nichts mehr! Er fand das lächerlich. Aber nur, bis ich dann den Vertrag mit Coca-Cola in der Tasche hatte. Da war er auf einmal ganz meiner Meinung! Hat sich feiern lassen als innovativer Unternehmer. Wenn es um die Arbeit ging, fehlte es ihm allerdings an Enthusiasmus ..."

Herlind nickte versonnen. "Ja, ich weiß, was Sie meinen. Als würde sich so ein Workflow von alleine machen ..."

"Sie sagen es. Es war eine Herausforderung. Vor allem, wenn man nach wie vor auf einer lächerlichen Assistentinnenstelle hockt!"

"Er hat sich nicht mal zur Geschäftsführerin gemacht? Lassen Sie mich raten - er hat ihr Gehalt erhöht!"

"Um drei Komma fünf Prozent!" Isabell seufzte.

"Als ginge es darum! Geld und Macht! Dabei ist alles, was man will, ein winziges bisschen Anerkennung!"

"Tatsächlich?" Isabell schien aufzuhorchen. Dann lächelte sie. "Ja. Man ist schon sehr naiv ..."

"Ja, und wenn dann die Blumen kommen, die Komplimente, Pralinen ..." Der Gedanke an Hugo Erwin Wolkenburg, der just in diesem Moment ein harmonisches Weihnachtsfest mit seiner Gattin feierte, den Kindern zuliebe, schnürte Herlind die Kehle zu. Sicher gab es Champagner, immerhin lief der Laden seit der Fusion mit Interstrumpf wie geschmiert. "Immerhin hat er sie geheiratet ..." Sie schluckte.

In diesem Moment betrat Klaus die Szene. Herlind war nicht sicher, was ihr mehr missfiel - der Umstand, dass er ihren geliebten hellgrünen Flauschbademantel trug oder die Flasche Rum, die er in der Hand hielt und bereits halb geleert hatte.

"Klaus! Musst du schon wieder trinken?"

"Ja! Ja, und ob ich trinken muss!" Er grinste schief. "Unterhaltet ihr euch gut? Verschmelzt ihr gerade in total positiven femininen social Skills?" Er prustete los.

"Sie sind ja betrunken!" Herlind rümpfte die Nase.

"Richtig! Und das ist auch gut so. Anders könnte ich die Vorträge dieses betriebswirtschaftlichen Erbsenhirns nicht die ganze Nacht ertragen! Glauben Sie mir, das ist nüchtern nicht machbar!"

"Klaus!" Isabells Stimme zitterte gefährlich. "Überspann den Bogen nicht!"

Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu. "Es ist Weihnachten, du blöde Schnepfe. Du verstehst überhaupt nicht, worum es eigentlich geht!"

"Ich glaube, das verstehe ich weit besser als du!"

"Nein, das tust du eben nicht! Für dich ist alles nur business. Profit. Das ist so erbärmlich!" Er zog die Nase hoch. "Ich mach da nicht mehr mit!"

Isabell holte tief Luft. "So! Du machst da nicht mehr mit?"

Klaus rülpste laut und schüttelte den Kopf.

Isabell stampfte mit dem Fuß auf. "Gut! Bitte! Keiner zwingt dich. Im Gegenteil! Du bist raus. Raus, mein Lieber. Gefeuert!"

Klaus lachte hämisch. "Schwachsinn!"

"Das ist kein Schwachsinn! Ich bin sicher, dass der Aufsichtsrat meine Entscheidung voll unterstützt!"

"Oh, ja, natürlich!", brüllte Klaus, nun doch außer Fassung. "Du schläfst ja nicht umsonst mit den Herren!"

"Das gehört nun wirklich nicht hierher!", fauchte Isabell.

"Damit kommst du nicht durch!" Klaus schien auf einmal den Tränen nahe. "Das geht so nicht! Weihnachten, meine Liebe, Weihnachten bin immer noch ich!"

"Ach ja?" Isabell griff nach Mantel und Bart. Sie wandte sich Herlind zu. Diese verstand sofort. Der Mantel war etwas weit und der Bart fusselte in ihren Mund, aber es fühlte sich nicht übel an.

"Ziehen Sie das sofort aus!", heulte Klaus. "Das sind meine Sachen!"

"Das ist Firmeneigentum!", korrigierte Isabell hämisch.

"Es ist meine Firma! Ich bin Weihnachten!"

"Das hättest du dir vor dem Börsengang überlegen sollen!"

"Du miese, kleine Schlampe! Dir werde ich's zeigen ..." Klaus stürzte sich auf Isabell, packte sie am Arm und hob drohend die Faust. Herlind reagierte blitzschnell. Mit einem hässlichen Geräusch landete die Kaminschaufel auf seinem Schädel und er ging zu Boden.

"Oh mein Gott! Ist er ..." Herlind wurde übel.

Isabell, die neben Klaus kauerte, schüttelte den Kopf. "Er ist in Ordnung. Danke, das war Rettung in letzter Sekunde. Ich habe so etwas kommen sehen ..."

"Es tut mir so leid!" Herlind versuchte, das Zittern unter Kontrolle zu bringen.

"Es ist ja nicht Ihre Schuld!" Isabell erhob sich. "Und es spielt ohnehin keine Rolle!" Sie warf einen Blick auf ihre goldene Uhr. "Das schaffe ich nie. Schon gar nicht alleine. Jetzt hat er doch gewonnen. Ich bin erledigt ..." Sie ließ sich aufs Sofa fallen.

"Oh Gott!" Herlind kämpfte mit den Tränen.

"Es sei denn ..." Isabell warf ihr einen prüfenden Blick zu. "Sie können das ganz gut tragen, wissen Sie?"

Herlind sah an sich hinunter. "Sie meinen ...?"

"Nein!", Isabell winkte ab. "Das könnte ich nie von Ihnen verlangen. So kurzfristig ..."

"Aber... wenn es hilft, ich meine ..." Herlind straffte sich. "Es geht immerhin um Weihnachten ..."

Isabell sprang auf. "Ist das Ihr Ernst? Oh mein Gott, das ist ... Sie sind eine Frau nach meinem Herzen!"

"Aber was machen wir mit ihm?" Herlind deutete auf die Gestalt am Boden.

"Er kann seinen Rausch ausschlafen. Genug zu essen ist ja sicher in der Hütte. Und wenn er gefunden wird, dann kann er allen erklären, was passiert ist. Ich bin sicher, wenn die Leute hören, dass er der Weihnachtsmann ist, wird sich alles fügen. Ein paar Jahre in einem guten Sanatorium haben noch niemandem geschadet!"

Etwa eine halbe Stunde später erhob sich ein von Rentieren gezogener Schlitten in die Lüfte und verschwand in den buttergelben Nachtwolken.


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