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Ein Puppenhaus aus Eis© Ina PetersLotte war sechs Jahre alt und wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, reichte sie schon bis an Papas Bauchnabel. Ihre besten Freunde waren Judith und Hans, die ihr Papa voriges Jahr aus Alaska mitgebracht hatte. "Aber du kannst doch zwei Eskimokinder nicht Judith und Hans nennen", hatte sich Papa entrüstet. Mama hatte die Püppchen in Schutz genommen. "Das heißt nicht Eskimo, sondern Inuit, und da die beiden jetzt bei uns in Deutschland leben, können sie ebenso gut deutsche Namen haben", hatte sie gesagt. Das Dumme war, dass Mama, Papa, Lotte und die Inuit-Kinder inzwischen gar nicht mehr in Deutschland wohnten. Weil Papa dort eine bessere Anstellung gefunden hatte, waren sie vor einigen Wochen in ein anderes Land gezogen, nach Schweden. Mama hatte Lotte versichert, dass Judith und Hans auch in Schweden übliche Namen seien, na, und Mama, Papa und Lotte erst recht. Prima, sie alle konnten also heißen, wie bisher. Ansonsten war leider nichts wie bisher. Ward ihr schon einmal im Winter in Schweden? Oh je, kann ich nur sagen! Stockdunkel ist es da fast den ganzen Tag, und der Schnee liegt so hoch, dass man sich gehörig die Ohren daran abfrieren kann. Außerdem sprechen die Menschen dort eine ganz andere Sprache mit vielen "Ö"s. So waren die ersten Wochen in dem fremden Land eine traurige Zeit für Lotte, und das obwohl doch fast schon Weihnachten war. "Du, Papa, Judith und Hans brauchen ein Haus", erklärte Lotte eines Abends. Papa runzelte die Stirn. "Aber wir haben doch hier ein ganz großes Haus für uns alle zusammen. Wofür brauchen sie noch eins?" "Eben weil das Haus so groß ist. Überall sind dunkle Ecken, in die sie nicht reinschauen können. Da kriegen sie ganz schön Angst. Sie brauchen ein Haus in ihrer Größe." Papa trank einen Schluck Tee und blickte Lotte grübelnd über den Rand seiner Brille hinweg an. "Ist dir klar, was so ein richtiges Puppenhaus kostet?", fragte er in Erwachsenenton. Doch damit hatte Lotte gerechnet. "Ich wünsche es mir zu Weihnachten", erklärte sie schnell. Und um ihrer Forderung den nötigen Nachdruck zu verleihen, fügte sie hinzu: "Ich hab's auch schon dem Weihnachtsmann geschrieben!" Au weih, war das eine dicke Lüge. Lotte glaubte schon ein ganzes Jahr lang nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber das wusste Papa nicht. Drei Tage lang verlor Papa kein Wort über das Puppenhaus. Am vierten Tag aber, es war schon der vierte Advent, kam er mit leuchtenden Augen zu Mama und Lotte ins Wohnzimmer gesprungen. "Hört mal her, ihr beiden", rief er. "Hans und Judith bekommen ihr Haus. Und was für ein Haus! Seht euch das an!" Er schwenkte wild einen Zeitungsausschnitt vor ihren Nasen. Lotte bekam einen tollen Lachanfall. Papas Aufregung war ansteckend. Sogar Mama musste kichern. "Was ist das?", wollte Lotte wissen. Sie schauten Papa forschend an. "Das, meine Lieben, ist die Ausschreibung eines Wettbewerbs", rief Papa triumphierend. "Hä", machte Lotte, die nicht verstand. "Guck, hier steht, in unserem Ort soll zu Weihnachten der gekürt werden, der die innovativste Eisskulptur erschafft." Lotte verstand noch immer nicht, aber sie hatte sehr wohl gemerkt, dass das Wort "Puppenhaus" nicht vorgekommen war. "Ich will aber keine Kühe, sondern ein Puppenhaus", erinnerte sie Papa. "Ja, Lotte, es geht auch nicht um Kühe, sondern um einen Preis. Wir bauen den Eskimo-Inuit-Kindern ein Haus aus Eis. Und gleichzeitig können wir an dem Wettbewerb teilnehmen. Was sagst du dazu?" "Das ist blöd." "Nein", rief Papa. "Das ist ökonomisch!" Öko-was? So langsam wurde Lotte böse. "Du kannst Judith und Hans doch nicht in ein Haus aus Eis setzen", schnaubte sie. "Die werden doch frieren." "Aber nein. In Alaska wohnen die Menschen auch in Eishäusern. Die heißen da Iglus." "Judith und Hans sind aber Deutsche. Sie mögen keinen hohen Schnee und Eis mögen sie auch nicht", schrie Lotte. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und lief aus dem Zimmer. Mürrisch schaute Lotte in den folgenden Tagen zu, wie Papa einen Eisklotz nach dem anderen auf der niedrigen Gartenmauer im Vorgarten aufstellte und sich mit allerlei Werkzeugen daran zu schaffen machte. Einmal hüpfte er aufgeregt in Lottes Zimmer, Nasenspitze und Wangen dunkelrot von der Kälte draußen. "Reichen Hans und Judith zwei Stockwerke?", wollte er wissen. Lotte hatte sich vorgenommen, so lange zu schmollen, bis Papa ein richtiges Puppenhaus mit ihr baute. Jetzt war er aber so aufgeregt, dass es schwierig war, weiter gelangweilt zu tun. "Komm und sieh es dir an", schlug Papa vor. Lottes Neugier wuchs. "Wenn es unbedingt sein muss", stöhnte sie und sprang flink wie eine Katze in ihren Schneeanzug. Die schweren Stiefel musste ihr aber Papa zubinden. Stolz präsentiert er ihr, was er schon geschafft hatte: Der Eisklotz war gar kein richtiger Klotz mehr, sondern ausgehöhlt und auf einer Seite offen. Er hatte einen Boden unten und einen in der Mitte. Oben lief er spitz zu, wie ein Dach. "Und wo sind die Möbel?", wollte Lotte wissen. Papa kratzte sich bestürzt am Kopf. An die hatte er noch gar nicht gedacht. "Wo sollen die beiden den Pipi machen, wenn sie kein Klo haben?" Lotte schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und stapfte zurück ins Haus. Betrübt betrachtete Papa seinen ausgehöhlten Eisklotz. Mit einem Mal erhellte sich sein Gesicht. Er sprang ins Auto uns brauste davon. Als er zurückkam, trug er eine große Kiste im Arm. Geheimnisvoll zwinkerte er Lotte zu und verschwand in der Küche. Als Lotte abends im Bett lag, konnte sie Papa noch immer in der Küche rumoren hören. Es war schon lange nach Schlafenszeit, als sich Lotte heimlich durch den Flur schlich. Wie dunkel so ein Flur war! Lotte nahm ihren Mut zusammen und öffnete die Küchentür einen Spalt breit. Am Tisch saß Papa und feilte an etwas herum. Da knarrte unter Lottes Fuß eine Diele. Papa erschrak sich so sehr vor dem Geräusch, dass er beinahe vom Stuhl gefallen wäre. "Wieso bist du nicht im Bett?", fragte Papa. "Du machst hier so viel Lärm, dass ich nicht schlafen kann", flunkerte Lotte. Eigentlich war sie ja nur neugierig gewesen. Papa zeigte ihr, was er so spät noch trieb. Auf dem Tisch stand ein kleiner Eisklumpen, aus dem bereits ein halber Stuhl herausgefeilt war. "Wir machen die Möbel einfach nachträglich. Dann feuchten wir sie etwas an und lassen sie im Puppenhaus festfrieren. Das wird gar keiner merken." "Ist das nicht Betrug?", fragte Lotte skeptisch. Papa zog mürrisch die Augenbrauen zusammen. "Sollen Judith und Hans nun Wände haben oder nicht?", fragte er grantig zurück. Und dann durfte Lotte aufbleiben und Papa helfen. Was war das für eine Freude, als sie am nächsten Morgen in den Garten gingen, um kleine Betten, das Klo und einen Schrank in das Puppenhaus zu stellen! Mit den Möbeln sah der Eisklotz schon wie ein richtiges Puppenhaus aus. Stolz gingen sie zurück ins Haus, um auch noch Tische, Stühle und vieles mehr auszufeilen. Hätten sie geahnt, was in der Zwischenzeit im Garten vor sich ging, sie wären wohl nicht wieder hineingegangen. Am Nachmittag lief Lotte noch einmal zu dem Puppenhaus, den Arm voller neuer Möbel. Den ganzen Tag hatten sie dafür geschuftet. Doch als sie am Puppenhaus ankam - oh, nein -, da war es ja leer! "Der Fall ist klar", erklärte Papa beim Abendbrot. "Jemand hat Angst, dass sein doofer Eisengel bei dem Wettbewerb gegen unser Puppenhaus verliert. Deshalb klaut er den Inuit-Kindern das Klo, dieser gemeine Kerl!" "Was können wir denn dagegen tun?", jammerte Lotte. "Morgen ist Weihnachten und ohne Möbel können wir Judith und Hans das Haus nicht schenken." Papa nickte. "Und morgen Mittag ist auch die Preisverleihung. Ohne Möbel erkennen die Preisrichter doch nicht einmal, dass es ein Puppenhaus sein soll." "Ich habe eine Idee", meldete sich Mama zu Wort. "Heute Nacht sind wir noch einmal fleißig und machen all die Möbel neu. Morgen stellen wir sie in das Puppenhaus, kurz bevor die Preisrichter kommen, und bleiben die ganze Zeit daneben stehen. Nach dem Wettbewerb wird sie ja niemand mehr klauen." Das war ein guter Plan, fanden auch Lotte und Papa. So arbeiteten sie wieder sehr lange an diesem Abend und die halbe Nacht hindurch. Sie alle verschliefen das Weckerklingeln am nächsten Morgen. Lotte erwachte erst, als Mama den Kopf in ihr Zimmer steckte und rief: "Aufstehen, Lotte, es ist Weinachten!" Weihnachten! Lotte war sofort wach. Rasch schlüpfte sie in ihren Schneeanzug und lief in die Küche. Papa sortierte gerade all die Puppenmöbel aus der Tiefkühltruhe in einen Pappkarton. Sie mussten sich beeilen, denn die Preisrichter konnten jeden Moment auftauchen. Es war ein dicht bewölkter Tag. Hastig tunkte Papa jedes Möbelstück kurz in ein Wasserglas und reichte es Lotte, damit sie einen Platz dafür im Puppenhaus fand. Bei der Kälte würden die Möbel rasch am Puppenhaus festgefroren sein. Lotte wollte sich gerade wieder zu Papa drehen, da war ihr, als hätte sie etwas hinter das Puppenhaus huschen gesehen. Misstrauisch lief sie einmal um das Puppenhaus herum, doch da war nichts. "Nanu", sagte Papa plötzlich. "Ich dachte, ich hätte dir den Tisch schon gegeben." "Hast…", begann Lotte. "Hast du doch", hatte sie sagen wollen, doch da war ihr Blick auf die Eisküche gefallen und der Satz war ihr im Hals stecken geblieben. Der Tisch war weg! Wütend stampfte Lotte auf. Das war so gemein! Papa sah sich verstört um. "Hier war doch niemand, oder?", fragte er. Gerade als Papa zum Gartentor guckte, regte sich etwas im Puppenhaus. Es war nur ein winziger Moment, doch Lotte war sich sicher gesehen zu haben, wie ein kleiner Kopf hinter dem Eissofa aufgetaucht und blitzschnell wieder verschwunden war. "Papa", stammelte sie. "Da ist was in dem Haus." "Hm? Keine Zeit, Lotte. Die Preisrichter sind schon bei den Nachbarn. Ich guck nach, ob ich den Tisch in der Gefriertruhe vergessen habe." Und bevor Lotte etwas erwidern konnte, war Papa schon ins Haus gelaufen. Lotte hörte ein leises Knacksen im Eiswohnzimmer und sah gerade noch, wie das Eissofa durch das Wohnzimmerfenster verschwand. "Hey", rief Lotte entrüstet. "Das ist mein Sofa!" Sie sprang um das Puppenhaus herum. Dabei stolperte sie und fiel der Länge nach hin. Als sie die Augen öffnete, blickte sie direkt in ein winziges, schneeweißes Gesicht. An ihre Nase gelehnt stand ein kleiner Mann, der den Kopf schief gelegt hatte und sie aus kristallklaren Augen ansah. Er hatte weißes Haar, das ihm wirr um das runde Gesicht fiel. Das Kerlchen war splitternackt. Lotte rührte sich und da war der Winzling auch schon wieder verschwunden - mitsamt dem Sofa. Vor Wut brodelnd hob Lotte eine große Portion Schnee auf und verstopfte die Fenster an der Rückseite des Puppenhauses. Mit einem Mal brach ein aufgeregtes Durcheinander los. Überall in dem Puppenhaus sprangen kleine Körper in reinstem Weiß auf und flitzten durch die Räume, mal einen Stuhl, mal ein Bett, mal den Herd über dem Kopf tragend. "Nein", hauchte Lotte. "Nein!", schrie sie noch einmal. Sie griff nach dem neuen Klo, das gerade auf staksigen weißen Beinchen in die Küche springen wollte. Unter dem Klo erschien ein erschrockener Kopf. Mit einer Kraft, die Lotte den kleinen Geschöpfen gar nicht zugetraut hätte, zerrte der Wichtel das Klo wieder zu sich herunter und stülpte es sich erneut über den Kopf. "Das gehört mir", ächzte Lotte und entriss es dem weißen Wesen endgültig. Noch immer rasten die Möbelstücke auf ihren sonderbaren Trägern von einem Zimmer in das andere, prallten an einander, fielen in Ecken und wurden wieder aufgehoben. Anscheinend trauten sich die kleinen Diebe nicht, an Lotte vorbei aus dem Puppenhaus zu springen, und ohne die Fenster fehlte ihnen die Fluchtmöglichkeit. Während fünfzehn kleine Schneewichtel durch Lottes Eishaus wetzten, nahm sie ihnen ein Möbelstück nach dem anderen wieder ab. Und schon hatte sie auch das Regal zurückerobert und warf es hinter sich zu Boden. Dort rappelte es sich auf einmal wieder auf und flitzte davon. "Jetzt habe ich aber genug von euch", fauchte Lotte. Das regte die kleinen Kreaturen aber nur noch mehr auf und sie legten noch einen Zahn zu. Wie verrückt prallten sie gegen die Wände und gegen einander. Lotte hörte das Quietschen vom Gartentor hinter sich. Die Preisrichter kamen. Eine Zimmerwand stürzte ein, ein Sessel zerbrach. Mit Tränen in den Augen musste Lotte mit ansehen, wie die dummen Männchen alles zerstörten. Gerade kam Papa aus dem Haus und begrüßte die Preisrichter. Lotte starrte fassungslos auf das Chaos in dem Eisklotz. "Lotte, sag' Hallo", hörte sie ihren Vater rufen. Zitternd drehte sie sich zu ihm um, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, gab es ein gewaltiges Krachen. Dann war alles still. Feiner Schneestaub wirbelte durch die Luft. Langsam legte er sich und wo eben noch das Puppenhaus gestanden hatte, türmte sich nur noch ein Berg aus Eisscherben. Papa und Lotte verschlug es die Sprache. Die Preisrichter machten sich unbeirrt an die Arbeit. Sie betrachteten den Scherbenhaufen von allen Seiten und wiegten unbestimmt die Köpfe. In diesem Moment riss die Wolkendecke auf. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf die Überreste des Puppenhauses und mit einem Mal begann der Scherbenhaufen zu glitzern, als wäre er aus Diamant, und funkelte dabei in allen Farben des Regenbogens. Die Preisrichter mussten sich die Augen zuhalten und sagten dann Dinge wie: "Oho" und "Ahhh". Eine Gänsehaut lief über Lottes Arme. Etwas so Schönes hatte sie wohl noch nie gesehen. Die Preisrichter machten ein paar Notizen und verabschiedeten sich dann. "Was war denn das?", fragte Papa, als sie fort waren und er seine Stimme wieder gefunden hatte. Lotte schüttelte nur den Kopf. Sie wusste es auch nicht. Die Nachbarskinder, die das Funkeln bemerkten, kamen herüber gelaufen. Sie waren auch noch da, als Lotte ihre Geschenke auspacken durfte. Was machten die für Augen, als Lotte den großen Karton öffnete. Denn darin war ein richtiges Puppenhaus aus Holz, mit kleinen Glühbirnen, die leuchten konnten, und Teppichen und Möbeln. Rasch holte Lotte Judith und Hans und zeigte ihnen stolz ihr neues Zuhause. Da liefen auch die Nachbarskinder heim und holten ihre Puppen. Und so spielten sie, bis die Kinder gehen mussten, weil der Weihnachtsbraten auf dem Tisch stand. Doch sie wollten alle am nächsten Morgen wiederkommen. Mama, Papa und Lotte gewannen keinen Preis für ihren eingestürzten Eisklotz. Dafür hatten die Schneewichtel, die zwischen den Wurzeln der alten Kiefer in ihrem Garten wohnten, den ganzen Winter hindurch Möbel in ihrer Eishöhle. Und das, obwohl sie in diesem Jahr vergessen hatten, sich welche vom Weihnachtsmann aus der Spielzeugfabrik mitbringen zu lassen.
Weihnachtsgeschichten unserer Autoren
Ich habe schon einige Weihnachtsgeschichtensammlungen gelesen und kann mich nur an ein Buch erinnern, das ähnlich gut war! Copyright-Hinweis: Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. |