Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
eBook-Tipp
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Der Schutz der Weihnachtsengel

© Melanie Sickler

Ich ziehe meinen Schal enger um den Hals. Obwohl ich endlich im Zug sitze, denke ich nicht daran, meine Jacke auszuziehen. Ich reibe meine eiskalten Hände aneinander und versuche, meine Zehen durch permanentes Wackeln wieder aufzuwärmen.

Der Zug setzt sich in Bewegung und ich beobachte erfreut die ersten Schneeflocken dieses Tages. "Wenn es wirklich Frau Holle gibt", denke ich, "würde ich gerne mal beim Betten Ausschütteln helfen. Danach möchte ich nicht mit Gold überschüttet werden, sondern lieber eine heiße Schokolade trinken. Das wäre jetzt genau das Richtige für mich." Ich muss grinsen und sehe mich im Abteil um.

Rechts neben mir am Fenster sitzt ein junger Mann. Ihm scheint die Kälte nichts anzuhaben, er zieht seine Jacke aus und lächelt mich an. Verlegen lächle ich zurück und schaue wieder aus dem Fenster. Bestimmt fährt er auch über Weihnachten seine Familie besuchen. Nach der Größe seiner Tasche zu schließen hat er sicher viele Geschenke dabei, im Gegensatz zu mir.

Dieses Jahr ist mir wirklich nichts Sinnvolles für meine Mutter, ihren Freund und meine Schwester eingefallen. Die Kreativität hat mich einfach im Stich gelassen. Aber bei so viel Aufregung in den vergangenen Monaten ist das auch kein Wunder. Da musste ich meine Kräfte an anderen Stellen fließen lassen, wie es unser Dozent immer ausgedrückt hat.

Schon komisch wie die Dinge ihren Lauf genommen haben, überlege ich und lasse die Bilder der letzten Wochen Revue passieren. Streng genommen fing das ganze Chaos vor fünf Jahren an.

Da komm ich von einem Schulausflug aus dem Europa-Park und werde von meiner Patentante, anstelle meiner Mutter, vom Bahnhof abgeholt. Auf der Fahrt vom Bahnhof nach Hause werde ich damit konfrontiert, dass mein Vater heute Morgen bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen ist. Tja und so fing alles an. Meine Mutter und meine große Schwester erholten sich einige Jahre nicht mehr davon und ich bin sechs Monate später daheim ausgezogen, um mein Studium als Grundschullehrerin zu beginnen. Um die Wahrheit zu sagen bin ich regelrecht geflüchtet weil ich die drückende Atmosphäre nicht mehr aushielt und die Veränderungen die das ganze Geschehene hinter sich hergezogen hat. Mama und Caro (meine Schwester, die übrigens sechs Jahre älter ist als ich) haben mich natürlich in meiner Entscheidung bestärkt. So konnte ich gehen, ohne dass ich das Gefühl hatte, meine Familie im Stich zu lassen.

Dann trat plötzlich Michael in unser Leben oder besser gesagt in das Leben meiner Mutter. Vier Jahre nach dem Tod meines Vaters konnte sie sich doch wieder verlieben. Michael ist nett, höflich, witzig, charmant und tut meiner Mutter sehr gut. Er hat sogar Ähnlichkeit mit Papa. Ob dass ein Grund war, dass Mama sich in ihn verliebt hat?

Na ja, das erste Treffen mit Michael (an Mamas Geburtstag) verlief den Umständen entsprechend. Das soll heißen … es war merkwürdig. Klar freute ich mich für Mama und war froh darüber, dass sie wieder glücklich war und lachen konnte, doch an diesem Abend hinkte mein Herz meinem Verstand hinterher. Ich hätte heulen können; ihn an der Seite meiner Mutter, am Platz meines Vaters zu sehen, machte mich fast wahnsinnig. Gespräche mit ihm habe ich an diesem Abend gekonnt ignoriert. Die nächsten Treffen mit ihm und Mama machten mir die Sache nicht viel leichter. Ich wollte mich einfach nicht daran gewöhnen.

Mein gesunder Menschenverstand hatte die Beziehung meiner Mutter akzeptiert, emotional jedoch hatte ich einen mächtigen Kampf auszufechten. Viele Tränen, Wut, Enttäuschung und schlaflose Nächte waren einige Zeit meine ständigen Begleiter. Es war nicht einfach für mich, und der einzige Mensch in dieser Zeit, der mich verstanden hat und mit dem ich reden konnte, war meine Oma.

Plötzlich kam vor einer Woche ein Anruf von meiner Schwester.

Caros Stimme zitterte als sie mit mir sprach. Der Tonfall ihrer Stimme machte mir Angst. Vorsorglich setzte ich mich hin und hörte Caro mit klopfendem Herzen zu.

Mama und Michael haben letzte Woche den Weihnachtsmarkt besucht. Da die beiden die alljährliche Weihnachts-Currywurst essen wollten inklusive Glühwein trinken (das ist bei uns ein kleiner Brauch), mussten sie dazu auf die andere Seite des Weihnachtsmarkts laufen.

Dabei führt der Weg jedoch über ein Gleis in der Nähe vom Bahnhof. Das Gleis war jedoch immer schon gefährlich, weil dort keine Schranken angebracht waren und die Ampel am Übergang des Öfteren ausfiel. Jedenfalls lief Michael vor und war fast schon beim Gleis angekommen, als Mama von hinten den Zug heranfahren sah. Da Michael trotzdem weiter lief hat Mama ihn gerufen. Doch Michael hat weder Mama noch den Zug gehört, der unausweichlich näher kam. Mama schrie noch lauter und rannte ihm hinterher. Durch den Lärm der Menschen und der Musik auf dem Weihnachtsmarkt nahm Michael jedoch weiterhin weder sie noch den Zug wahr. Dann ging alles blitzschnell, der Zug fuhr heran, Michael wurde an der Schulter erfasst und einige Meter entfernt auf den Asphalt geschleudert und blieb regungslos liegen. Mama, die ihn an der Jacke noch zurückgezogen hatte, beugte sich über ihn und schrie. In diesem Moment war ihr klar, dass er tot war.

Wenn ich daran denke, wie Caro und später auch Mama es mir erzählt hatte, wird mir wieder eiskalt. Da spüre ich plötzlich wie meine Wangen feucht werden und merke, dass ich stumm vor mich hinweine. Der junge Mann aus meinem Abteil reicht mir mit einem aufmunternden Lächeln ein Taschentuch. Auf dem Taschentuch sind Cartoons und es riecht nach Zimt. Ich muss lächeln, bedanke mich mit hochrotem Kopf und wische mir schnell die Tränen aus dem Gesicht. Am Fenster rauschen weiße Tannen und verschneite Hügel vorbei. Ich hänge weiter meinen Gedanken nach.

Michael wurde mit Schürfwunden und einem Schulterbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Mama wich natürlich nicht von seiner Seite. Mittlerweile ist er wieder daheim und wird von Mama gehegt und gepflegt.

Hätte Mama ihn nicht noch an der Jacke gepackt, hätte er den Zusammenprall vermutlich nicht überlebt. So ging jedoch noch alles glimpflich aus. Na ja, der Schock sitzt bei uns allen noch tief, aber ich muss sagen, im Nachhinein hatte es auch was Gutes. Mir ist klar geworden, dass Michael eine zweite Chance bekommen hat und meine Mutter somit die zweite Chance glücklich zu werden. Für mich ist es ein sogenanntes Weihnachtswunder, auch wenn ich daran bisher nie geglaubt hatte. Mir hat es geholfen, die Beziehung meiner Mutter auch emotional zu akzeptieren und ich freue mich von ganzem Herzen, dass wir alle gemeinsam nun glücklich das Weihnachtsfest erleben können.

Mein Zug hält an. Fast hätte ich zu spät erkannt, dass ich aussteigen muss. Der nette sympathische junge Mann steigt mit mir aus und wünscht mir mit einem Augenzwinkern fröhliche Weihnachten.

Am Gleisaufstieg warten Mama, Michael und Caro auf mich. Glücklich schließe ich Mama und Caro in meine Arme. "Frohe Weihnachten!", sage ich und drücke Michael ein Geschenk in die Hand - es ist ein Schutzengel.

***


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