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Weihnachten ist für alle da© Horst SchmidOskar Kienzle hatte es bisher mit seinen vierzehn Jahren im Leben nicht leicht gehabt: Die Mutter krank, ja seit Jahren leidend, der Vater Alkoholiker und wegen fortgesetzten Diebstahls meist im Gefängnis. Dazu noch vier jüngere Geschwister, welche die Lage auch nicht gerade einfacher machten. Es war wieder einmal der 24. Dezember. Der Vater saß hinter Gittern. Die Mutter lag wie üblich schwächelnd auf dem Sofa und er als der Älteste fühlte sich berufen, den Heiligen Abend, so gut es eben ging, noch zu retten. Es war höchste Zeit, für den Abend und die Feiertage im kleinen Supermarkt um die Ecke noch ein paar Dinge einzukaufen, soweit das Bisschen Geld reichte, das er noch zusammenkratzen konnte. Es war bereits später Nachmittag. Der Laden fast leer. Herr Frank, der Besitzer, saß jetzt selber an der Kasse, um die Letzten abzukassieren. Oskar war frustriert ob der vielen verlockenden, aber unerreichbaren Dinge. Die wenigen Sachen, die er holen wollte, hatte er rasch ausgesucht. Nichts wie raus aus diesem Eldorado der Köstlichkeiten. Er strebte eilig der Kasse zu, wo der Ladner bereits ungeduldig auf die Uhr schaute. Er bezahlte und packte seine Siebensachen in seinen Rucksack, als dem scharfen Blick des Mannes an der Kasse die aufgebeulten Taschen von Oskars abgeschabtem Wintermantel auffielen. "Ja, was haben wir denn da?", wollte er neugierig wissen. Aus der rechten Tasche förderte er eine Dose Corned Beef zutage, aus der linken drei Tafeln Schokolade. Jetzt wurden die Beine des jungen Oskar schwach. In ihm fand ein heftiger Kampf zwischen Angst und Scham statt, den die Angst schließlich gewann, als der Ladenbesitzer ihn ansprach: "Freundchen, jetzt habe ich dich erwischt. In zwei Minuten schließe ich und so lange bleibst du hier stehen. Dann wirst du schon sehen!" Oskar war froh, dass Herr Frank ihn endlich aufforderte, mit ihm ihn sein Büro zu kommen. Dort musste er sich auf einen Stuhl setzen, während ihm der Ladner stehend eindringlich die Leviten las. "Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du den Ladendiebstahl begangen hast? Wie heißt du denn und wo wohnst du?" Der verdatterte Junge machte keinen Versuch, sich aus dieser schlimmen Situation herauszulügen: "Ich bin der Oskar Kienzle und wohne in der Blumengasse 34." Dann fing er an, fürchterlich zu weinen. "Ich habe es ja nicht für mich getan, sondern für meine Familie, um auch ein wenig Weihnachten zu haben!" Eindrucksvoll schilderte er nun dem aufmerksam zuhörenden Herrn Frank die fatale Situation daheim bei der kranken Mutter und den vier Geschwistern. "Werden Sie nun die Polizei rufen und komme ich dann ins Gefängnis?" "Nein, das werde ich nicht tun. Heute ist Heiliger Abend und es beginnt das Weihnachtsfest, da tut man einem Kind so etwas nicht an. Ich habe zwar Verständnis für Eure missliche Lage, doch entschuldigt diese deinen unerlaubten Griff ins Regal keineswegs. Ich habe den Eindruck, dass du das einsiehst und so etwas hoffentlich nie mehr tust." "Ich tue es bestimmt nicht mehr, Herr Frank, das verspreche ich Ihnen. Ich weiß doch, dass es ein großer Fehler war." Der Marktbesitzer setzte sich neben ihn auf einen Stuhl und redete plötzlich ganz ruhig und väterlich auf ihn ein: "Mein lieber junger Mann", begann er seine Rede, "heute ist Weihnachten. Und weil unser Heiland, dessen Geburt in Bethlehem wir in diesen Tagen feiern, damals für alle auf die Welt kam, ist auch Weihnachten für alle da. Dazu möchte ich meinen Teil beitragen und dir nicht nur das Geld für den Einkauf zurückzahlen, sondern dir auch noch so manche feine Sache für die Weihnachtsfeier zuhause mitgeben. Nur die Dose mit dem Corned Beef und die drei Tafeln Schokolade die bleiben hier." Oskar Kienzle fiel ein Stein vom Herzen, Freudentränen rollten über seine Wangen. Er wäre am liebsten seinem milden Richter und Wohltäter um den Hals gefallen, aber das traute er sich doch nicht. Nun zogen sie einträchtig miteinander durch die Gänge, wobei Herr Frank immer wieder in ein Regal griff, um wichtige Zutaten für einfache Mahlzeiten aber auch so manchen Leckerbissen in das Einkaufswägelchen zu legen. Sie füllten nun Oskars Rucksack vollends bis an den Rand und steckten den Rest in zwei große Tragetüten. So bepackt wurde der junge Mann nun von dem Hausherrn zum Hinterausgang geleitet. Oskar bedankte sich sehr herzlich für das großzügige Geschenk: "Vielen lieben Dank für alles, was Sie mir zuliebe getan haben und was Sie mir eingepackt und geschenkt haben, Herr Frank. Ich danke Ihnen auch im Namen meiner Familie, die wird sich bestimmt sehr freuen. Diesen Heiligen Abend und dieses Weihnachtsfest werden wir alle nie vergessen." Als der Ladenbesitzer Frank die Lichter löschte und das Geschäft für die Zeit der Feiertage schloss, überkam ihn ein starkes Gefühl von innerer Zufriedenheit und eine festliche Stimmung. Auch er würde diesen Tag nicht so schnell vergessen, dachte er bei sich. Zuhause bei dem Festmahl nach der Bescherung erzählte er seine Geschichte im Kreis seiner Familie und fand nur Zustimmung und Lob. "Papa, das hast Du aber gut gemacht. Uns geht es doch so gut." Es mögen so zwanzig Jahre ins Land gegangen sein, als ein junger Pfarrer das Altenheim in seiner Heimatstadt besuchte, wo er aufgewachsen war. Es war Weihnachtszeit und er wollte durch seinen Besuch in einem zwanglosen Kamingespräch die alten Menschen im Heim etwas an der großen weiten Welt teilhaben lassen. Er erzählte Interessantes von seinem Studium, von Rom und von seinen Tätigkeiten in fernen Ländern. Spannend wurde es aber so richtig, als er ganz persönlich wurde und von seiner Jugend berichtete: "Aufgewachsen bin ich gar nicht weit von hier", begann er, "in der Blumengasse. Wir lebten in einfachsten Verhältnissen. Die Mutter immer krank, der Vater oft im Gefängnis. Als ich vierzehn Jahre alt war, hatte ich ein ganz einschneidendes Erlebnis, das meinen weiteren Lebensweg entscheidend bestimmte. Es bewahrte mich davor, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und war ein Fingerzeig für meine weitere Zukunft, die mich schließlich als Priester in den Dienst der Kirche führte." Dann geschah etwas ganz Erstaunliches. Ohne Umschweife und mit entwaffnender Ehrlichkeit schilderte er, was sich an jenem Heiligen Abend im Supermarkt abgespielt hatte und welche Lektion ihm da in weihnachtlichem Geiste von dem so verständnisvollen Ladenbesitzer erteilt worden war. "Dieser Mann hat tatsächlich durch sein Verhalten ein Weihnachtslicht fürs Leben in mir entzündet." Betretenes Schweigen in der Runde der Zuhörer. Da meldete sich zögernd und bescheiden ein zitteriger, weißhaariger Mann im Rollstuhl mit leiser Stimme zu Wort: "Ja, ja, dieser Mann im Supermarkt war ich. Jetzt erinnere ich mich wieder genau daran, was an jenem Heiligen Abend passierte. Ich freue mich sehr, dass ich seinerzeit offensichtlich genau das Richtige getan habe und dass der Oskar von damals nun als strahlender junger Pfarrer vor uns steht." Die alten Menschen im Raum waren gerührt ob dieser Fügungen, die mehr als nur Zufälle waren. Oskar nahm Herrn Frank bewegt in die Arme. Auch ohne viele Worte fühlten beide, dass dieses unverhoffte erneute Zusammentreffen nach so langer Zeit wieder eine weihnachtliche Sternstunde war. SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle
Weihnachtsgeschichten von Patricia Koelle
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