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Aufstand der Nadelbäume© Katharina BritzenEndlich geschafft. Rebells Mühen trugen Früchte. Die Meldungen überstürzten sich und beherrschten seit Wochen Internet, Fernsehen, Tageszeitungen. Erstmals in diesem Jahr würde kein Weihnachtsbaum das Weiße Haus in Washington schmücken, kein Weihnachtsbaum auf dem Petersplatz in Rom stehen, kein Weihnachtsbaum die christlichen Kirchen verschönern, kein Weihnachtsbaum vor den Konsumtempeln der westlichen Hemisphäre die Menschen auf Geschenke-Kaufen einstimmen, keine Weihnachtsbäume in Vorgärten und Wohnzimmer Weihnachtsstimmung zaubern. Stand Weihnachten, das Fest aller Feste, zur Disposition? Würde es ausfallen? Der Einzelhandelsverband drohte mit Schließung hunderttausender Arbeitsplätze, sollte Weihnachten in diesem Jahr nicht stattfinden. Regierungen dementierten umgehend. Die UNO berief eine Sondersitzung ein. Aus dem Vatikan hieß es, Weihnachten fände statt. Der Vorsitzende der evangelischen Bischofskonferenz stieß in das gleiche Horn. Lebkuchen und Co. atmeten auf. Seit seiner Freundschaft mit Reineke Fuchs war er ein Querulant, stellte mirnichtsdirnichst jahrhundertealte Traditionen in Frage, weigerte sich, anderen schön zu tun, und alle nannten ihn Rebell. Den Spitznamen hatte er bis heute behalten. Hatte ihn seine Mutter von kleinauf zum Geradestehen "Kopf hoch, sonst wirst du nie ein schöner Weihnachtsbaum werden" ermahnt, duckte er sich stattdessen noch tiefer zwischen seine Schwestern Tanneliese und Tannelore. Zwei eitle Geschöpfe, weihnachtsmanipuliert, die den lieben langen Tag nichts weiter taten, als sich den Sonnenstrahlen entgegen zu recken, sich um ihre Nadelfrisuren kümmerten und auf ihr Gewicht und Größe achteten, damit sie es ja auf den Laufsteg der Weihnachtsbäume schafften und dadurch eine Chance erhielten, an Weihnachten in des Menschen Wohnzimmer zu landen. Dem absoluten Glanzlicht ihres Daseins. Tanneliese und Tannelore wetteiferten mit nachbarlichen Tannen-Mannequin-Anwärterinnen um das Ideal eines perfekten Weihnachtsbaumes. Nicht zu groß, nicht zu klein, gleichmäßiger Wuchs, in der Taille nicht zu breit und gesunde Haut, sprich gesunde grüne Nadeln und - das wichtigste Merkmal - mit nur einer Spitze. Ihren Mühen wurden belohnt. Vor fünf Jahren waren seine Mutter, Tanneliese und Tannelore gleichzeitig den Weg vieler Nadelbäume in der Weihnachtszeit gegangen und hatten dabei ihr Leben verloren. Für Rebell ein sinnloser Tod, und sie fehlten ihm, zumal Rebell Zeuge ihrer würdelosen Entsorgung wurde. Sein Freund, Reineke Fuchs, hatte ihn mit zu den Wohnsiedlungen genommen, damit er sich selbst ein Bild machen könne. Rebell vergoss harzige Tränen, als er die vertrockneten Reste seiner Mutter und Schwestern im Müllcontainer sah und schwor Rache. Die Leere in der Schonung war mit entfernten Verwandten aufgefüllt worden. Rebells Warnungen prallten an ihnen ab, und sie blieben sich lange fremd. Wie viele tannliche Tragödien Rebell im Laufe seines Lebens hautnah miterlebt hatte, wenn sich beispielsweise in einer Tanne eine zweite Spitze herausgebildet hatte oder die Abstände der Äste zueinander nicht den gewünschten Merkmalen entsprachen, konnte er nicht mehr zählen. Viel zu viele. Wären seine nach menschlichen Standards missgebildeten Verwandten nicht festgewachsen gewesen, viele von ihnen hätten sich schon in früher Jugend vom Felsen gestürzt. Manche gingen aus Kummer ein. Andere wurden von ihren Familien verstoßen. "Du hast Schande über uns gebracht", hieß es dann, und familiäre Bande wurden gekappt. Lieber sonnten sich Nadelbaum-Dynastien in dem Ruhm, den ihre Familienmitglieder als Weihnachtsbaum bei Kreti und Pleti erlangten. Legendär die Geschichten, die darüber im Nadelwald kursierten. Zurück blieben Tannenwracks, die zu nichts mehr nütze waren als zum Dumm-Rumstehen in der Schonung. Wie anders da Rebell? Sein Freund Reineke hatte ihm früh die Augen geöffnet. "Warum opfert ihr Nadelbäume den Menschen freiwillig euer Leben? Habt ihr einen Hang zur Selbstzerstörung? Ist es eure Bestimmung, als Märtyrer zu sterben? Warum lasst ihr euch so von den Menschen Sand in die Augen streuen?" Nie hätte Rebell aus eigenem Antrieb darüber nachgedacht. Und Rebell beobachtete fortan, schlich mit Reineke Fuchs zu den Häusern der Menschen. Was er sah, bestürzte ihn. Viele von ihnen führten ein tannenunwürdiges Leben. Anfangs zusammengepfercht, dann selektiert und schließlich gehätschelt bis zum bitteren Ende. Durfte es sein, wie seit Jahrhunderten üblich, erst als Weihnachtsbaum martialisch gefällt zu werden, um dann in einer überheizten Stube zu landen; behangen mit allerlei Scheußlichkeiten wie Lametta, bunten Glaskugeln und Kerzen, die ihnen die Tannennadeln versengten und höllische Schmerzen verursachten. Ihre Spezies der Lächerlichkeit preisgegeben? Und alles, um zu elend verdursten, das Haarkleid zu verlieren und - als Krönung des Ganzen - im Müllschredder zu landen. Nicht zu vergessen, die volksdümmlichen Loblieder "...wie treu sind deine Blätter", die man wochenlang hatte ertragen müssen. Zynismus par excellence. Fazit: Nach diesem Höhenflug nicht einmal mehr für die Biotonne zu gebrauchen. Erst aufgedonnert, dann missbraucht, schließlich entsorgt. Wer Glück hatte und mit Stumpf und Stiel verkauft worden war, landete im Vorgarten seines Besitzers und erhielt dort sein Gnadenbrot. Weit weg von seiner Familie und mit noch eitleren Geschöpfen als Tanneliese und Tannelore in nächster Nachbarschaft. Nämlich in der Nachbarschaft derer von Edeltannen wie Fürstin von Nordmann, Baron von Nobilis, Freiherr von und zu Blaufichte - hochnäsig und versnobt bis in die letzte Nadelspitze. Die so genannte Hautevolee der Nadelbäume. Glücklich konnte Tanne sich schätzen, wenn es noch Kiefern im Garten gab. Die waren eher bodenständig. Zusammen mit Reineke schmiedete Rebell einen verwegenen Plan. Sie entwarfen Flugblätter, die sie mit Hilfe ihrer gefiederten Freunde in den Wäldern und Schonungen verteilten und den Zugvögeln mitgaben: "Nadelbrüder und Nadelschwestern, wacht auf. Noch ist es nicht zu spät. Ihr lebt ein falsches Leben. Wo bleibt eure Würde? Warum lasst ihr euch wie Schafe zur Schlachtbank treiben? Warum wollt ihr freiwillig sterben? Wäre ein jahrelanges Leben inmitten der Natur nicht schöner als ein paar Tage im Mittelpunkt zu stehen, um dann elendiglich zu verrecken? Würdet ihr nicht gerne länger leben, bei euren Familien bleiben? Kinder bekommen. Im Wald wohnen, wo Hasen, Rehe, Füchse euch besuchen. Wo die Vögel in den Ästen euch mit ihren Gezwitscher erfreuen? Wo der Wind euch Kühlung zufächelt? Wo die Sonne euch wärmt? Wo der Regen euch tränkt? Wo der Schnee euch pudert? Wo Rauhreif eure Nadeln in Kristalle verwandelt? Wo ihr nach Lust und Laune mit Mond und Sternen plaudern könnt?" Anfangs verstanden die Nadelbäume nicht, was Rebell von ihnen wollte und lachten ihn aus. "So ein Verrückter. Typisch Rebell." Sie glaubten, er missgönne ihnen ihren Triumph, als Weihnachtsbaum zu enden, da er selbst aufgrund seiner Statur nie in den Genuss kommen würde. Doch Rebell blieb hartnäckig. Immer und immer wieder traktierte er seine Artgenossen, bis die ersten Nadelbäume anfingen, über Rebells Warnung nachzudenken. Dann ging es rasend schnell. Protest, eher Wut keimte in den Bäumen auf und verbreitete sich wie eine Welle über den ganzen Erdball. Überall wurden Info- Versammlungen abgehalten, wo Rebell und Reineke schonungslos über die zerstörerischen Machenschaften an Weihnachten aufklärten. Dann fielen die Bäume plötzlich in eine Lethargie und klagten: "Was können wir tun? Gegen Äxte und Kettensägen sind wir machtlos. Der Mensch ist stärker als wir. Rebell rüttelte sie wach und verkündete: "Mehr als simpel. Mit Gewalt kommen wir nicht weiter. Dennoch habt ihr es in eurer Hand. Stoppt euer Wachstum. Bleibt winzig, dann verlieren die Menschen ihr Interesse an euch und müssen sich nach Alternativen umschauen." Und sie beherzigten seinen Rat; stellten nach und nach das Wachsen ein. Hat bis heute gedauert. Weltweit erreichen die Nadelbäume nur noch eine Größe von einem halben Meter. Damit ist kein Weihnachtsbaum-Topf zu gewinnen. Zwar hatten sich die Menschen von Jahr zu Jahr gewundert, warum es Engpässe bei der Lieferung der Tannenbäumen gab und machten in erster Linie Preistreiberei dafür verantwortlich. Dann mußten Schädlinge, Außerirdische und die Klimakatastrophe dafür herhalten. In den Laboren suchten sie vergebens nach Hinweisen des Problems. Im Jahr danach vermuteten sie Genmanipulationen. Dann wieder einen Boykott durch Weihnachtsverweigerer. Die Spekulationen überschlugen sich. Menschen forderten mit Transparenten auf den Straßen: "Jeder Mensch hat ein Recht auf seinen Weihnachtsbaum. Gebt uns unsere Weihnachtsbäume wieder." Doch alle Anstrengungen blieben vergebens. Die Nadelbäume hatten den Menschen eine Lektion erteilt und endlich ihre Würde wiedererlangt. Die weihnachtliche Zukunft würde ohne Tanne stattfinden. Menschen sind erfinderisch. Ihnen würden schon Alternativen einfallen. Die Nadelbäume atmeten auf. Jetzt endlich konnten sie Weihnachten genießen und ans Weiterwachsen denken. SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle
Weihnachtsgeschichten von Patricia Koelle
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