Mit einem tiefen Seufzer drückte sie die Wohnungstür ins Schloss und lehnte sich dagegen. Endlich daheim. Einen Moment lang rührte sie sich nicht, genoss die Ruhe, die sie umgab. Hinter ihren geschlossenen Lidern blitzten Bilder der Menschenmassen auf, durch die sie sich gerade noch gekämpft hatte. Überall der gleiche gehetzte Gesichtsausdruck, untermalt von überlauten Endlosbändern, auf denen Kinderchöre wie zum Hohn "Stille Nacht, Heilige Nacht" gegeneinander ansangen. Und über allem wehte der aufdringliche Geruch von Glühwein, für den mehr billiger Fusel als edle Gewürze aufgekocht worden war. War das der Geist von Weihnachten?
"Bist du das, Kind?", riss die Stimme ihrer Mutter sie aus ihren Gedanken.
Wer sollte es sonst sein? Sie atmete hörbar aus und öffnete die Augen.
"Ja, Mama, ich komme sofort", antwortete sie und bemühte sich um einen leichten Tonfall.
Sie ließ ihren Blick schweifen. Der Geist von Weihnachten. Viel war davon in diesen Räumen nicht zu spüren. Daran konnten weder die von ihr liebevoll arrangierten Dekorationen noch der hübsch herausgeputzte Christbaum etwas ändern, der ihr aus dem dämmrigen Wohnzimmer entgegenstrahlte.
"War es sehr voll?", fragte ihre Mutter mitleidig, als sie die Küche betrat, die nach Kaffee duftete. Leicht gebeugt saß sie am Tisch, vor sich ihre Lieblingstasse mit dem geschwungenen Henkel, deren Inhalt dampfte. "Ich habe dir doch gleich gesagt, am 24. macht man keinen Schritt mehr vor die Tür", meinte sie lächelnd und umschloss ihre Tasse mit beiden Händen, als suchte sie wärmenden Halt.
"Ich hatte aber noch etwas Dringendes zu erledigen", erwiderte sie und dachte an das in rotes Sternenpapier gewickelte Päckchen in ihrer Handtasche. Es enthielt den kleinen goldenen Anhänger, den ihre Mutter bei einem gemeinsamen Stadtbummel in der Auslage des Juweliers so bewundert hatte. Eine winzige Elfe mit langen Haaren und filigranen Flügeln.
"Sieh mal, eine Glückselfe!", hatte ihre Mutter bezaubert gerufen. "Und sie sieht aus wie du!"
"Bestimmt wegen der Flügel", hatte sie geantwortet und sie hatten beide gelacht. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, schien das so lange her. Gelacht hatte ihre Mutter eine Ewigkeit nicht mehr. Im Grunde seit dem Tag, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Schwester erhalten hatte. Und das war nun gut zwei Monate her.
Ihre über alles geliebte Schwester so plötzlich zu verlieren, war schwer genug gewesen. Nicht an ihrer Beerdigung teilnehmen zu können, weil ihr Schwager, der mit der Familie zerstritten war, sie erst eine Woche danach von der Beisetzung unterrichten ließ, hatte ihrer Mutter einen zusätzlichen Schlag versetzt.
"Möchtest du auch einen Kaffee? Er ist frisch gebrüht", hörte sie ihre Mutter fragen und sah, wie sie sich, ohne eine Antwort abzuwarten, erhob um ihr eine Tasse einzuschenken. Auch im Stehen wirkte sie, als läge ihr eine schwere Last auf den Schultern. Längst waren die aschblonden Haare ergraut, und um die Augen hatte sich ein feines Netz aus Falten gelegt. Bei dem Anblick verkrampfte sich ihr Herz. Ihre Mutter war doch immer so unerschütterlich gewesen, so stark, so lebensfroh. Nie hatte sie sie den Vater vermissen lassen, ohne den sie aufwachsen musste. Wann war ihre Mutter nur so alt geworden?
"Ich hoffe, du bist nicht wegen mir noch mal los", fuhr ihre Mutter fort, während sie mit der zweiten Tasse an den Tisch zurückkehrte. "Ist doch alles nur Geschäftemacherei! Früher war Weihnachten noch etwas Besonderes. Wenn ich daran denke, wie wir alle zusammen mit deinen Großeltern gefeiert haben ..."
Sie lächelte. Wie oft hatte sie diese Geschichte schon gehört. Dennoch nahm sie Platz und ließ ihre Mutter von glücklichen Zeiten erzählen. Wie die kleine Altbauwohnung nach Apfelsinen und Zimt geduftet hatte. Wie sie und ihre Schwester vor der Bescherung Gedichte aufsagen mussten und sich später auch schon mal wegen der besten Stücke auf dem bunten Teller in den Haaren gelegen hatten. Dass unter den bescheidenen Geschenken für jedes Kind immer auch ein Paar Kamelhaarpantoffeln auf dem Gabentisch gelegen hatte - und wie ihre Mutter um Weihnachten herum Pufferchen gebacken hatte. Mit Hefe und Rosinen, Zimt und Zucker und so dick, dass man kaum abbeißen konnte.
"Die besten Pufferchen auf der ganzen Welt eben", vollendete sie lächelnd die Erzählung ihrer Mutter, deren Augen bei der Erinnerung ein wenig Glanz zurückgewonnen hatten. Doch der Augenblick währte nur kurz.
"Das ist alles längst vorbei", seufzte ihre Mutter. "Mir gelingen ja nicht einmal die Pufferchen so wie deiner Oma. Ich bekomme das Rezept einfach nicht mehr zusammen."
"Ist eigentlich noch Post gekommen?", fragte sie, mehr um ihre Mutter abzulenken als in der Annahme, dass tatsächlich noch jemand geschrieben hatte. Die wenigen Karten, die sie erhielten, waren bereits eingetroffen. Und er würde sicher nichts von sich hören lassen. Bestenfalls würde er sich amüsieren über den Brief, den sie ihm geschrieben hatte.
Mitte zwanzig, und sie benahm sich wie ein alberner Teenager. Sich heimlich in seinen Dozenten zu verlieben, an dessen Lippen die Hälfte der Studentinnen hing, war eine Sache. Ihn davon mit Brief und Siegel in Kenntnis zu setzen, war eine ganz andere. Zugegeben, sie hatten sich schon oft nach der Vorlesung unterhalten, sich dabei gut verstanden und sogar viel gelacht. Und mehr als einmal hatte er sie, wie sie mit Herzklopfen bemerkte, heimlich beobachtet oder ihr, äußerlich ungerührt, mit den Augen zugelächelt.
"Vermutlich hat er deine Flügel bewundert", murmelte sie. Sie wünschte, sie hätte ihm nie geschrieben. Wie sollte sie ihm je wieder unter die Augen treten? Die Vorlesung konnte sie vergessen ...
"Es ist tatsächlich noch Post gekommen", holte ihre Mutter sie in die Wirklichkeit zurück. "Das hätte ich fast vergessen. Die Zeitung und ein Päckchen. Liegt beides im Wohnzimmer."
Ihr Herz machte einen Satz. Ein Päckchen? Er würde doch wohl nicht ...?
Sie sprang auf. "Von wem ist es denn?", fragte sie im Hinauslaufen.
"Ich weiß nicht", antwortete ihre Mutter. "Ich habe keinen Absender entdecken können. Aber es ist an dich adressiert."
Aufgeregt stürzte sie an den Couchtisch. Im warmen Schein des Christbaums lag halb verborgen unter der Weihnachtsausgabe der Tageszeitung ein in braunes Packpapier eingeschlagenes flaches Päckchen. Es trug ihre Anschrift, aber die Handschrift war ihr unbekannt. Also nicht von ihm. Sie spürte ein Ziehen in der Herzgegend.
Sie nahm das Päckchen in die Hand. Es fühlte sich leicht an. Was konnte das sein - und von wem? Ohne Zögern riss sie das Packpapier auf. Zum Vorschein kam ein altes Notizbuch mit einem abgegriffenen rotkarierten Einband. "Meine Küchengeheimnisse" stand darauf.
"Was ist denn in dem Päckchen, Kind?", hörte sie ihre Mutter hinter sich.
Sie drehte sich um und wollte ihr die seltsame Post zeigen. Doch dann hielt sie inne. Fassungslos starrte ihre Mutter auf das alte Büchlein. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Ist alles in Ordnung, Mama?", fragte sie besorgt, aber ihre Mutter nickte nur zögernd, ohne den Blick von dem Buch zu nehmen. "Mama?", wiederholte sie vorsichtig.
"Das ist das Rezeptbuch deiner Oma", flüsterte ihre Mutter atemlos.
Aber wer mochte es geschickt haben? Und warum ausgerechnet ihr?
"Da steckt ein Brief drin." Ihre Mutter deutete auf einen weißen Umschlag, der zwischen den Seiten hervorlugte.
Nun sah sie ihn auch. Sie zog das Kuvert heraus und öffnete es. Es enthielt eine kurze Notiz. Ihre Augen flogen über die wenigen Zeilen: Es war ein Brief ihres Onkels, und er war an sie gerichtet. Sie gab ihrer Mutter das Buch und las laut vor: "Deine Tante wollte immer, dass du mal die Rezepte deiner Großmutter bekommst. Ich selbst brauche sie nicht. Vielleicht könnt ihr etwas damit anfangen."
Ihr? Er hatte dabei also auch an ihre Mutter gedacht. Vielleicht gab es ja doch einen Weg, sich trotz allem einander wieder anzunähern. Sie würde sich bei ihrem Onkel melden, um sich zu bedanken. Aber das konnte noch warten. Ein Blick in das glückliche Gesicht ihrer Mutter, die ehrfürchtig die alten Aufzeichnungen durchblätterte, verriet ihr, dass Weihnachten doch noch bei ihnen angekommen war.
"Da ist ja das Pufferchen-Rezept!", rief ihre Mutter freudestrahlend. "Und wir haben alle Zutaten im Haus!"
Sie wusste, was nun folgen würde, noch ehe sie die Worte vernahm. "Ich backe uns schnell ein paar, und dann feiern wir Weihnachten!"
"Warte noch!", hielt sie ihre Mutter zurück, die schon auf dem Weg in die Küche war. Aus ihrer Handtasche fischte sie das rote Päckchen. "Wenn die Bescherung schon vorgezogen wird, gebe ich dir auch gleich mein Geschenk. Mit dem Buch kann es nicht konkurrieren, aber vielleicht gefällt es dir trotzdem."
"Was für ein verrückter Tag!", lachte ihre Mutter, und aufgeregt wie ein kleines Mädchen befreite sie den goldenen Anhänger aus seiner Verpackung. "Die Elfe! Und du wolltest mir nicht glauben, dass du ihr ähnelst. Siehst du, was für ein Glück du mir gebracht hast?"
Mit leuchtenden Augen drückte ihre Mutter sie an sich. So fest, dass sie ihr klopfendes Herz spürte. "Vielen Dank, Kind. Dein Geschenk gebe ich dir später. Jetzt muss ich erst Pufferchen backen, einverstanden?"
Sie nickte und blinzelte hastig ein paar Tränen fort. Es tat so gut, ihre Mutter wieder lachen zu sehen. "Lass dir ruhig Zeit. Ich lese solange ein wenig Zeitung."
Sie nahm die Weihnachtsausgabe vom Couchtisch. Vom Titelblatt lächelte ihr die Jungfrau Maria eines alten Meisters selig zu. Sie ließ sich auf das Sofa fallen, atmete den würzigen Duft des Christbaums ein und schlug die Zeitung auf. Aus der Küche drang das Klappern von Schüsseln. Sie lächelte dankbar. Endlich ging es ihrer Mutter besser; sie summte sogar ein Weihnachtslied. Was konnte sie sich mehr wünschen?
Zufrieden blätterte sie durch die Seiten, überflog die obligatorischen Artikel über Krippenspiele und Spendenaufrufe, bis sie zu den Grußanzeigen kam. Amüsiert las sie, dass Tante Klapsi den Vossbergs geruhsame Feiertage wünschte, Puschel seine Weihnachtsmaus grüßte und sich die Stichs auf die Bescherung bei Onkel Fritz freuten. All diese Leute waren glücklich.
Wehmütig schweifte ihr Blick zu einer kleinen Anzeige am unteren Ende der Seite, die wegen der fehlenden Weihnachtsillustrationen besonders hervorstach. Neugierig las sie die Zeilen, stutzte - und las sie, von der plötzlichen Erkenntnis wie von einem elektrischen Schlag getroffen, noch einmal: "An die Studentin mit dem bezaubernden Lachen und den schönsten Augen der Welt: Danke für deinen Brief - und den Mut, den ersten Schritt zu tun. Ich freue mich schon auf unser Wiedersehen. Ein frohes Fest!"
***
Rezept für die besten Pufferchen auf der ganzen Welt
Zutaten:
500 g Mehl, 750 ml Milch, 125 g Butter, 3-4 Eier, 1 EL Zucker, 1 Würfel frische Hefe, 125 g Rosinen (eingeweicht und geputzt), eine Prise Salz, Butterschmalz zum Ausbacken, Zimt und Zucker zum Bestreuen.
Zubereitung:
Die Hefe mit dem Zucker und 2 bis 3 Esslöffeln Milch verrühren und die Mischung an einem warmen Ort 15 Minuten quellen lassen.
Mehl in eine Schüssel geben, in die Mitte eine Mulde drücken und die Hefemischung hineingeben. Gut verkneten. Nach und nach die Eier und das Salz unterrühren und schließlich die Butter dazugeben. Den Teig erneut gut durchkneten. Anschließend nach und nach die Rosinen zufügen und in den Teig einarbeiten.
Den fertigen Teig zugedeckt an einem warmen Ort etwa eine Stunde gehen lassen.
In einer Pfanne Butterschmalz erhitzen. Mit einem Esslöffel kleine Nocken vom Teig abstechen, in die Pfanne geben und etwas flachdrücken. Bei mittlerer Hitze ausbacken, bis die Pufferchen außen goldbraun sind. Die fertigen Pufferchen auf Küchenkrepp legen und mit ein wenig Zucker und Zimt bestreuen.
Schmecken am besten noch warm.
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