Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten Band 3 Dr. Ronald Henss Verlag ISBN 978-3-939937-07-4 beim Verlag bestellen bei amazon bestellen
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Winterwald© Silvio ThielEinen Lebenslauf hatte Oliver schon oft geschrieben. Als Antwort erhielt er, sofern überhaupt eine bei ihm einging, lediglich Absagen. Wahrscheinlich steckte er mit seinen fünfundzwanzig Jahren in einem Dilemma: Die erforderlichen Erfahrungen bekam er durch die Arbeit, doch musste er ja erst eine finden, um Erfahrungen sammeln zu können. Nach Abschluss seiner Lehre erhielt er kein Angebot zur Festanstellung und seitdem hielten ihn die sogenannten 1-Euro-Jobs über Wasser. Dabei dachte er zu Beginn seines Arbeitslebens, ein neues Kapitel aufschlagen zu können, als er zudem noch eine eigene Wohnung bezog. Seine Euphorie war inzwischen verflogen ... ... und stürzte nach Erhalt eines merkwürdigen Briefes in ein tiefes Loch.
Hallo, kleiner Bruder!
Es mussten Stunden vergangen sein, als Olivers Bewusstsein wieder einsetzte. Die handgeschriebenen Zeilen lagen auf einem Tisch und er immer noch davor. Auf der Straße herrschte bereits Dunkelheit, während das Licht im Raum brannte. Hatte er es eingeschaltet? Für das Aufstehen und Betätigen des Schalters gab es in seinem Kopf keine Erinnerungen. In ihnen fand sich neben einem Namen auch nirgendwo mehr Platz. 'Sabine, was hast du nur getan?' ... 21 Uhr ... 23 Uhr ... 1 Uhr ... Unentschlossen vor dem Telefon sitzend, wollte es weder klingeln, noch konnte die eigene Angst überwunden werden, selbst zu wählen. Ob seine, ihre, Eltern es inzwischen schon wussten? Die winzige Hoffnung, Opfer eines Irrtums, eines simplen Versehens geworden zu sein, trieb merkwürdige Blüten. Noch niemals zuvor hatte Oliver seine Mutter derart bitterlich weinen gesehen. Obwohl, es mochten gut zwei Jahre vergangen sein, vergoss sie Tränen am Grab ihrer Enkelin. Zwei Wochen zuvor kam ein vierjähriges Mädchen ums Leben - Sabines Tochter. Nun stand er ihr, ebenso wie damals auch, hilflos gegenüber. Sein Vater saß neben ihr und versuchte sie vergeblich zu trösten. Tags zuvor wurde von der Post ein ganz ähnlich klingender Brief abgegeben. Alle dachten, dass Sabine mit der Vergangenheit abgeschlossen hätte. Für diesen Irrtum bezahlten sie nun die Rechnung - ohne sie jemals begleichen zu können. Die Wochen vergingen - ähnlich trüb wie das Novemberwetter und gleichfalls kaum Aussicht auf baldige Besserung. Als Oliver eine Schublade aufräumte, hielt er plötzlich inne: Dort lag der Brief. Dabei stach etwas ins Auge, was vorher, angesichts des Inhalts, unbeachtet blieb: Der Poststempel ... Hoffnung? Hoffnung. Oder eben auch wieder nicht. Vor mehr als zwei Monaten hatte man sich damit abgefunden, dass Tochter und Schwester Sabine sich das Leben nahm. Der Brief an die Eltern wurde der Polizei übergeben, die in all der Zeit nichts Konkretes herausfanden. Nun saß er angestrengt über den Umschlag gebeugt und hinterfragte die eigentlichen Umstände: Weshalb fuhr sie überhaupt 450 km zu einem Ort, den er zuvor nicht einmal vom Namen her kannte? Es verlangte einiges an Mühe, um überhaupt etwas über Dramstedt herauszufinden. Am Ende stand im Prinzip lediglich auf dem Papier, dass er rund 1000 Einwohner zählte. Die Anzahl der Fragen vergrößerte sich mehr und mehr: Wieso ausgerechnet dort? Weshalb überhaupt, nachdem der Tod ihrer kleinen Madeleine schon so lange zurücklag? Welche Verbindungen existierten? Selbst, wenn es keine gab - er war es ihr und sich selbst schuldig. "Ich brauche etwas Urlaub. Fahre zu ein paar Freunden ... Nein, ich passe auf mich auf. Ich verspreche, zurückzukommen ... Sobald ich wieder in der Stadt bin, melde ich mich." Obwohl längst volljährlich, fühlte sich Oliver an die Kindheit erinnert, in der er seine Eltern überreden musste, länger fortbleiben zu dürfen. Er konnte sie gut verstehen: Sie hatten Angst, auch noch ihn zu verlieren. Er verlor kein Wort darüber, was er in Wirklichkeit beabsichtigte. Wohlmöglich hätten sie ihm abgeraten und wären überzeugt, dass er sich in etwas verrannte. Wer weiß, vielleicht stimmte das sogar. Gleichzeitig wusste er aber auch, dass er gehen musste. Sonst blieben immer diese Zweifel. Die Schilder der Autobahn erlaubten maximal 110 km/h. Viel schneller wollte er auch gar nicht. Weniger lag es an der Dunkelheit, da er bereits zur nächtlichen Stunde aufgebrochen war. Quälende Fragen beschäftigten ihn. Was würde er wohl am Ziel vorfinden? Der Abfahrt folgten Landstraßen. Vorbei an Ortschaften, Felder, Wäldern. Die Sonne ging auf, was die Orientierung erleichterte. Aber auch so beschrieb die Karte eindeutig den bisherigen Weg. Trotzdem tauchte, als sich das Ziel bereits in greifbarer Nähe befinden sollte, eine Weggabelung auf, die nicht eingezeichnet war. Keine der beiden Möglichkeiten unterschied sich von der jeweils anderen - weder im löchrigen Zustand, noch in der fehlenden Fahrbahnmarkierung. Zwischen ihnen standen die ersten Bäume eines Waldes. Und davor: Ein gelber Briefkasten der Post. Leerung laut Schild: Täglich 10 Uhr. Verwundert schaute sich Oliver nach allen Seiten um: Nirgendwo konnte er ein Haus entdecken. Vielleicht hätte er sich für einen der beiden Straßen entschieden, wäre es nicht just um die besagte Zeit gewesen. Ein postgelber PKW hielt unmittelbar vor dem Briefkasten an. Ein Angestellter stieg aus - und blieb erst einmal stehen. Sein Blick galt allerdings vorrangig dem Ortsfremden, als hätte er zuvor noch nie einen anderen Menschen gesehen. Nachdem er sich wieder seiner Arbeit zuwendete und die Leerung vornahm, stieg er eilig in sein Wagen und brauste davon. Sich endlich aus seiner Starre reißen könnend, nahm Oliver dieselbe Straße. Der Postbote wurde zwar nicht mehr eingeholt, dafür stand einige Kilometer weiter ein Richtungsweiser mit der Aufschrift 'Dramstedt'. Die Einfahrt in den Ort selbst verlief vollkommen unspektakulär: Ein viereckiges Schild am Rand und anschließend zu beiden Seiten zweistöckige Wohnhäuser. Was sollte man auch schon erwarten? Dennoch kam eine innere Unruhe auf. Hier irgendwo geschah es ... endete das Leben seiner Schwester. Der Geschmack des Essens in der Gaststätte spielte nur eine untergeordnete Rolle. Viel zu sehr beschäftigte sich das Bewusstsein mit der weiteren Vorgehensweise. "Entschuldigen Sie", hielt Oliver dem Kellner ein Bild von Sabine entgegen, "haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?" Der Angestellte verneinte. Von den beiden anderen Gästen erhielt er die gleiche Antwort. Neben der Gaststätte gab es noch einen Bäcker, eine Fleischerei und einen Supermarkt, der aber alles andere als super viel Angebot in den Regalen besaß. Ob vor oder hinter der Kasse, schien niemand seiner Schwester begegnet zu sein. Zwar handelte es sich bislang nur um gut und gerne zehn Personen, doch mehr liefen ihm einfach nicht mehr über den Weg. Teilweise war er auch froh darüber, schauten ihn doch einige von ihnen recht merkwürdig an. Ein Fremder eben besuchte ihren Ort. Eine Polizeiwache gab es ebenso wenig, wie ein Archiv. Wegen beidem fuhr er in die nächst größere Stadt, wo zunächst die Tageszeitungen der letzten Monate durchgesehen wurden. Es war, als hätte seine Schwester nie einen Fuß in diese Gegend gesetzt - keine Zeile über den Vorfall nirgendwo zu entdecken. Deshalb schwang auch ein erzürnter Unterton mit, als ein Foto dem Polizisten unter die Nase gehalten wurde. "Hören sie mir mal gut zu:", reichte es dem Beamten recht schnell "Ich sagte doch, dass mir nichts über ihr Verschwinden bekannt ist. Jetzt gehen sie wieder. Guten Tag." - "Meine Schwester wird vermisst und das schon seit zwei Monaten. Wissen sie denn nichts über eine verschwundene Person?" Sicher, er könnte sich das auch bloß eingebildet haben, aber der Polizist hatte mit der Antwort spürbar gezögert - bevor er Oliver vor die Tür setzte. Konnte er etwas übersehen haben?
Die Antwort stand zwar nicht zwischen den Zeilen, doch an Stellen der Zeitungen, die von der vorherigen Suche ausgeklammert waren: Den Kleinanzeigen. Je weiter er dabei in den Ausgaben zurückging, desto kälter lies es ihm den Rücken herunter. Wie sehr sich die Annoncen dabei glichen: Um Mithilfe bei der Suche bitten Frau, Mann, Mutter, Vater, Tochter oder Sohn nach ihrem Angehörigen, deren letztes Lebenszeichen sie in diese Umgebung zurückverfolgen konnten. Mit zahlreichen Ausdrucken in der Hand ging es zurück zum Polizisten, der aber bei seinem Auftauchen einfach die Jalousie herunterließ und Feierabend machte. Die Nacht über ließ sich kein Auge schließen. Er fühlte sich bei jeder seiner Schritte und Handlungen beobachtet. Erging es seiner Schwester vormals ähnlich? Nur vereinzelt schien es, als würden Einwohner anders sein - nicht auf ihn starren. Mit dem Foto in der Hand fragte er einen von ihnen. Sicherheitshalber handelte es sich um eine alte Frau, vor der er wohl am ehesten im Notfall die Flucht ergreifen konnte. Weitere Falten und eine bemitleidende Miene entstanden, als jener das Problem geschildert wurde. "Du solltest die Sache auf sich beruhen lassen..." - "Also war sie hier? Haben sie meine Schwester gesehen?" - "Ja." Die Frau begann zu rechnen. "Es muss so vor drei... Nein, das war vor vier Monaten, dem zweiten August. Meine Enkelin hatte einen Tag darauf Geburtstag. Also, sie hat zwei Bilder herum gezeigt. Eins war gemalt, wahrscheinlich von einem Kind und das zweite zeigte ihre Tochter. Sie sagte, sie suche sie." Oliver runzelte die Stirn. "Sind sie sicher?" Ihr Nicken verwirrte ihn noch mehr. "Wissen sie vielleicht auch, wo sie hingegangen ist?" - "Ja, aber sie kehrte nicht von dort zurück - keine von ihnen: In den Wald." - "Keine von ihnen: Was meinen sie damit?" - "Du da, was willst du von meiner Mutter?!" Jemand kam eilig angelaufen. Von irgendwoher kam Oliver ihm bekannt vor - kein Wunder, hatte er doch bestimmt schon jeden im Ort das Foto gezeigt.
Genau wie in der Nacht zuvor, wollte weder Körper noch Geist ruhen. Was hatte die Frau gesagt: Seine Schwester suche ihre Tochter? Unmöglich, war doch die ganze Familie bei Madeleines Beerdigung gewesen. Sabine ging in den Wald... lag dort etwa die Antwort? Wollten die Behörden etwas vertuschen? Einen Serienmörder mitten in Deutschland durfte es scheinbar nicht geben. Befand er sich nun selbst in Gefahr? Jedes der wenigen vorbeifahrenden Auto ließ Oliver hochschrecken und vorsichtig am Fenster schauen. Hätte er nicht schon das Zimmer gemietet, würde er wohl im Auto schlafen - bei diesen Blicken der Wirtin, als er die Treppe hinaufstieg. Steckte sie etwa ebenfalls mit drin? Vielleicht stellte es sich als Nachteil heraus, zu viele Filme gesehen und Bücher gelesen zu haben. Die eigene Fantasie malte sich die skurrilsten Szenarien aus, in denen Wesen von Aliens bis Vampire Rollen besetzten. Doch alles schien irgendwie greifbar zu sein... real?
Als ein Angestellte den Supermarkt öffnete, wartete schon seit dem Morgen ein einzelner Kunde. Sogleich griff jener im Gemüsefach nach Knoblauch und mehreren Fläschchen aus dem Regal. In der Kirche strömte das Wasser in die Glasbehälter, die Spitzen der Holzpflöcke wurden in das Becken gehalten. Es gab viele Gefahren, gegen die man sich zu wappnen hatte. Gegen irdische Widersacher halfen hoffentlich die zahlreichen Messer sämtlicher Größen, die an den unterschiedlichsten Stellen des Körpers verborgen wurden. Alle Waffen halfen aber kaum bei dem klammen Gefühl, als die ersten Bäume hinter sich gelassen wurden...
Der Wald unterschied sich nur unwesentlich von den bislang besuchten. Selbst das konnte auf die Einbildung zurückzuführen sein. Leise knackten die Zweige und raschelte das Laub unter den Sohlen. Was würde er wohl vorfinden? Der schnelle Erfolg wollte sich allerdings nicht einstellen. Das Frühstück wurde im Gehen eingenommen und nur zum Mittagessen erlaubte er sich ein paar Minuten hinzusetzen. Die Umgebung machte es ihm auch nicht einfach: Überall gab es Hügel, die es entweder zu überwinden oder umgehen galt. Leicht konnte dadurch ein Höhleneingang oder Zugang zu einem Versteck übersehen werden. Als die Dunkelheit das Sehen schon fast unmöglich machte, wurde die Suche erst einmal unterbrochen. Am Abend noch verfluchte Oliver die mangelnde Zeitspanne, in der die Sonne den Wald erhellte, den Wald mit seiner mangelnden Übersicht selbst - und noch weitere Gründe seines Scheiterns. Der nächste Tag brachte allerdings eine Verbesserung mit sich: Schnee. Fest entschlossen, dieses Mal erfolgreich zu sein, ging es los. Die Häuser Dramstedts nur noch hinter sich ahnen könnend, erhoben sich im Vordergrund eindrucksvolle Bäume. Deren Namen waren schon wieder in Vergessenheit geraten, noch bevor die Biologieprüfung einst absolviert wurde. Zentnerschwere Lasten mussten die Gehölzer der weißen Pracht tragen. So weit das Auge reichte, bedeckte eine geschlossene Schneedecke Wald, Wiesen und Felder. Viel Zeit, sich daran zu ergötzen, durfte nicht verschwendet werden, denn das Suchgebiet war dafür zu umfangreich. Nun handelte es sich bei Oliver um keinen ausgemachten Fährtenleser, dennoch konnte er zumindest gut zwischen Mensch und Tier unterscheiden. So wusste er am Abend immerhin, dass er der einzige Mensch durch den Wald marschierte. Mehr nicht.
Der 19.Dezember. Seit Wochen wurde inzwischen schon die Kammer im Obergeschoss von einem Arbeitslosem bewohnt. Ohne Ergebnis, ohne einen handfesten Beweis auf Verbleib seiner Schwester machte sich Oliver gedanklich mit der Rückreise vertraut. Was hatte er sich zu Beginn noch alles ausgemalt: Eine triumphale Heimkehr mit Sabine. Daneben konnte er das Verschwinden von vielen weiteren Menschen klären, indem er sie aus den Klauen eines Psychopaten befreite. Gerade vor Weihnachten... Zwei Tage zuvor begegnete er einer Frau, die nach ihrer Mutter suchte. Seitdem hingen an vielen Mästen, Bäumen und Hauswänden Fotos der Angehörigen. Oliver war nahe dran, ihr von der eigenen Suche zu berichten. Nur brachte ihr das weiter? Sollte er ihr den Rat geben, in den Wald zu gehen? Eher würde sie ihn anzeigen wegen versuchtem Irgendwas. Das Handy auf dem Tisch blieb seit der Abreise unbenutzt. Wer sollte auch angerufen werden: Den Eltern etwa vom Scheitern berichten? Wenigstens erwies es sich letztendlich als richtig, ihnen keine falsche Hoffnungen gemacht zu haben. Nachdem die Kommode wieder, von der Tür weg, auf ihren ursprünglichen Platz gerückt wurde, galt ein letzter Blick den sicheren vier Wänden. Mit einem Seufzen tappte Oliver die Treppen herunter und begegnete dem Blick der Wirtin. Zwar erkannte er darin keinen Triumph, aber dadurch fühlte er sich auch nicht besser. Das Verlassen der Pension, Platz nehmen im Wagen - nur noch das Starten des Motors und dem Gasgeben trennte vom Abschied. "Halt!" Jemand sprang förmlich vor die Motorhaube und wedelte wild mit den Armen herum. Sabine!? Das Alter mochte stimmen, die Haarfarbe ebenso - doch handelte es sich um einer schon begegneten Leidensgefährtin. Aufgeregt zeigte die Frau erst auf die Frontpartie des Autos, bevor sie an die Fahrerseite kam. Als Oliver die Scheibe herunterkurbelte, hörte er sich losmurren. "Das Nummernschild - es stammt nicht von hier..." - "Na und?" Schon begann er das Fenster wieder zu schließen, was sie noch wütender machte. "Ich habe mich erkundigt: Die Leute sagen, hier sei zur Zeit noch einer, der gerade jemanden suche. Also sag endlich, was hier los ist? Meine Mutter, die im Rollstuhl sitzt, wird wohl kaum ohne Grund sich in ein Taxi gesetzt haben, um in ein fünfzig Kilometer entferntes Dorf zu fahren, von dem ich nie gehört habe!" - "Entschuldigen sie, aber es handelt sich im eine simple Verwechslung. Ich habe nur Urlaub gemacht. Dürfte ich jetzt bitte..?" Ganz sachte fuhr er an - und ließ sie einfach stehen.
Ein letztes Mal stoppte der Wagen. Hier, am einsamen Briefkasten, begannen Hoffen und Bangen. Inzwischen wusste er viel mehr und auch wieder nichts. Ebenso unterschiedlich präsentierte sich inzwischen die Umgebung. Alles Grau von damals wäre ihm aber weitaus lieber gewesen, hätte er nur seine Schwester gefunden. Einem Deja vu gleichkommend, näherte sich ein Postfahrzeug. Der Fahrer stieg aus - und Oliver wusste, woher er den Sohn einer gewissen Alten kannte: Es handelte sich um den Postangestellten. Damals wie heute blieb der erst einmal stehen. "Immer noch hier?" Eine zweite Tür öffnete sich. "Wohin willst du, Mutter?", fragte der Mann. Sie kam auf Oliver zu. "Kein Glück gehabt?" Er wich der Frage aus. "Wieso steht hier überhaupt ein Briefkasten? Wirft hier überhaupt jemand mal etwas ein?" Mehrere Briefe plumpsten in den darunter gehaltenen Sack. "Fast jeden Tag", erklärte die Frau, während der Sohn den Kasten wieder verschloss und zum Wagen zurückging. "Und sie gehen auch an die unterschiedlichsten Orte. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet..." - "Ich habe jeden Tag im Wald gesucht. Nichts." Die Alte grübelte. "Weißt du wirklich, nach wem du gesucht hast?" Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie ihn stehen. Ein 'Selbstverständlich weiß ich das!' lag Oliver auf den Lippen. Dann erst verstand er ihre Worte. Natürlich stand Sabine ganz oben auf der Liste, doch wenn er genau darüber nachdachte: Mit welcher Absicht ging er denn tagtäglich in den Wald? Deuteten Weihwasser, Knoblauch und die Messer nicht in eine andere Richtung? Die Kälte ignorierend, setzte sich Oliver auf einen Baumstamm im Wald und versuchte sich an eine glückliche Vergangenheit zu erinnern. Ein Schneeball unterbrach ihn. "Entschuldigung", bat das Mädchen. 'Sabine!', schoss es ihm durch dem Kopf. Erinnerungen an Kinderfotos machten schnell auf den Irrtum aufmerksam. Daneben stand noch ein Junge, ebenso kaum älter, als sechs oder sieben Jahre alt. "Was machst du hier so allein?", wollte dieser wissen. "Überlegen", antwortete Oliver. "Dasselbe könnte ich euch auch fragen..." Die Kinder dachten über seine Worte nach, bevor sie ihre Köpfe schüttelten. "Das sind wir nicht." Beide streckten ihre Hände aus und zogen ihn durch den Wald. Es dauerte nicht lange und Oliver befand sich zwischen Menschen und Holzhäusern wieder. Darunter befand sich auch eine dunkelhaarige Frau. "Ich wusste nicht, ob du kommen würdest", lächelte sie. "Hallo, kleiner Bruder." Vor kurzem noch zutiefst deprimiert, hätte er am liebsten vor Freude losgeschrieen. Was oder besser wen seine Schwester vorstellte, schnürte ihm allerdings die Kehle zu. Das kleine Mädchen, was den Schneeball warf, hörte auf den Namen Madeleine. "Sie ist ein ganzes Stück gewachsen, seit du ihr zum letzten Male begegnet bist." Sabine wurde ernst. "Ja ich weiß, was du denkst. Ich konnte es selbst kaum glauben, als ich ein Bild von ihr in meinem Briefkasten fand. Doch meine Kleine ist hier - und lebt! Sie alle leben!"
Ihm war, als dauerte es Stunden, eher er wieder zu atmen begann. Seine Schwester, Nichte, die vielen Gesichter von Such-, und Todesanzeigen redeten miteinander, lachten, spielten. Die ganze Szenerie war zu fantastisch, um real zu sein. Wahrscheinlich brauchte er sich nur zu zwicken, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Seine Finger begannen den anderen Arm zu packen - noch bevor sie zudrückten, durchfuhr ihn einen Schmerz. Sabine lachte. "Ich denke, das hätten wir." Sie begann auf eine Gruppe zu zeigen. "Du kennst dich doch gut mit Kabeln aus. Man würde sich freuen, wenn du ihnen etwas hilfst." Aus dem einmaligem Helfen wurden zwei, drei und viele weitere Male. Die meiste Zeit verbrachte er allerdings mit Sabine und Madeleine. Dennoch hielt er ständig seine Sinne wachsam. Achtete auf alles, was ungewöhnlich war. Suchte nach Fehlern, um die Idylle als Illusion zu entlarven. Ohne Erfolg. Dafür entdeckte er ein Gesicht, dass nach einem Griff in die eigene Jackentasche auch einen Namen erhielt. Er wartete, bis die 51 Jährige das Tablett abstellte. "Marion Heiser?" - "Ja." Zögernd überreichte er eine Seite Papier, das ihm während einer unliebsamen Begegnung in die Hand gedrückt wurde. "Ihre Tochter sucht sie." Er selbst kannte den Text und konnte daher nur so genau verstehen, dass es der Mutter schwer fiel, nicht in Tränen auszubrechen. "Falls du meine Betty noch einmal sehen solltest, dann richte ihr bitte folgendes aus: 'Es ist alles gut.' Sie wird es verstehen." Dann ging sie - eine Frau, die in der Realität auf einen Rollstuhl angewiesen war.
Die Tage vergingen wie im Fluge. Von Jung bis Alt machten sich alle daran, ein wunderbares Fest vorzubereiten. Eine große Ehre wurde Oliver zuteil, als er den Schalter betätigte, um die Baumbeleuchtung einzuschalten. Trotz eines ständigen Hochgefühls (oder gerade deshalb?) fühlte er, dass etwas fehlte. Er suchte Rat bei seiner Schwester. "Vielleicht bist du einfach noch nicht so weit", bedauerte es Sabine. "Jeder hier hat im Leben etwas verloren, was er an diesem Ort wieder fand. Im Gegensatz zu dir." Sie stand auf. "Richte bitte schöne Grüße von Madeleine und mir an unsere Eltern aus - wenn du der Meinung bist, dass sie es verstehen." Die Menschen feierten ausgelassen das Weihnachtsfest - bis auf einen. Traurig saß Oliver auf einem Stuhl und überdachte seine Wünsche: Brachte ihn denn nicht die Suche nach seiner Schwester hier her? Trieb ihn etwas von ihr wieder fort? Je länger das Grübeln dauerte, desto kälter schien es zu werden... und kälter... und kälter...
...
Das glühende Holz verbrannte knisternd im Kamin. Die schwere Wolldecke bereitete das Atmen Schwierigkeiten - doch spendete sie ebenso zusätzlich noch ein wenig Wärme mehr. Davon konnte Oliver auch kaum genug bekommen. Jede winzige Bewegung im weichem Sessel schmerzte. Nur mit Mühe gelang es ihm, einen Schluck des Kamillentees zu trinken. Mund und Hals schienen zu zerspringen, als sie das heiße Getränk aufnahmen. "Das war dumm, bei diesen Temperaturen im Wald schlafen zu wollen", knurrte der Postbote. Ihm und dessen Mutter konnte er seine Rettung verdanken, als sie seinen Wagen auch noch am nächsten Tag am Briefkasten stehen sahen. Ihn selbst fanden sie bewusstlos im Wald. "Wir hätten ihn ins Krankenhaus schaffen sollen." - "Dort hätten sie ihn auch nicht besser helfen können." Grummelnd verschwand der Sohn im Nebenraum. Seine Mutter schaute Oliver tief in die Augen. "Hast du gefunden, was du suchtest?" - "Ja... ich denke schon." - "Zweifel?" Allein das Datum auf dem Kalender, der 20.Dezember, sprach für sich. "Ich weiß nicht, ob das, was ich sah, wahr oder geträumt gewesen ist." Die Frau lächelte. "Dir wurde ein größerer Wunsch erfüllt, als die meisten jemals hoffen dürfen. Jetzt ruhe dich ein wenig aus. Bald ist schließlich Heiligabend."
Alle in dieser vergleichbar winzigen Ortschaft zur eigenen Heimatstadt schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Wusste denn jeder von ihnen Bescheid? Was verheimlichten sie? Wohin verschwand ihre Mutter? Jemand klopfte leise an der Tür. Zuerst lauschte sie, bevor sie jene einen spaltbreit öffnete. Das Gesicht des Wartenden kam ihr bekannt vor: Vor fünf oder sechs Tagen blockierte sie ihm dem Wegfahrwollendem den Weg. Weshalb war er hier? Endlich wurde ihm von jener, von der Oliver wusste, dass sie Betty beziehungsweise Bettina hieß, geöffnet. Ein wenig hatte er gehofft, sie nicht mehr anzutreffen. So aber lag es an ihm, einen Wunsch zu erfüllen. "Darf ich hereinkommen?", wollte er das Wichtige nicht zwischen Tür und Angel weitergeben. Nur zögerlich wurde seiner Bitte nachgekommen. Im Inneren sah es genau so aus, wie bei ihm ehemals auch: Man konnte kaum einen Schritt machen, ohne auf ein Blatt Papier oder Zeitungsausschnitt zu treten. "Ich bin zur Zeit ziemlich beschäftigt", hörte er Bettina sagen. "Mir ging es ähnlich", gab Oliver zu. "Glaubte, einer riesigen Verschwörung auf die Spur gekommen zu sein. Dachte, meine Schwester sei einem Serienmörder oder gar Vampir zum Opfer gefallen..." Er machte eine Pause. Wie würde sie es wohl aufnehmen? "Ich soll dir eine Nachricht übermitteln: 'Es ist alles gut'", hob er das zweite Wort besonders hervor. Der Tochter der im Wald angetroffenen Frau bekam ebenso viele Worte heraus, wie er auch, als er seiner Schwester begegnete - nämlich kein einziges. Unzählige Fragen und doch machtlos, sie zu stellen. Das lange Schweigen unterbrachen schließlich Stimmen aus vielen Kehlen. Erst jetzt gelang es Bettina, sich aus einer Starre zu befreien. Erst verwirrt und danach argwöhnisch schaute sie durch das Fenster. Sie wurde entdeckt. "Komm doch herunter!", rief ein Mann. Als Oliver neugierig wurde, überblickte er ein Meer aus Kerzen. Es machte den Eindruck, als wäre der gesamte Ort auf den Beinen. Jung wie Alt sangen Weihnachtslieder, lachten und tanzten miteinander. Zuerst weigerten sich beide, sich den Vielen anzuschließen. Weil immer mehr Menschen sie dazu aufforderten, kamen sie ihnen notgedrungen nach. Später allerdings, ungeachtet aller Fähigkeiten, sangen sie sogar mit. Zwar nicht laut, aber doch hörbar. Auch danach war das Fest noch lange nicht beendet. Lebkuchen und Glühwein vernebelten die Sinne und einige Momente glaube Oliver sogar Sabine und Madeleine mitfeiern zu sehen. Ebenso Bettinas Mutter.
Schon am nächsten Tag fuhr Oliver nach Hause. Unterwegs hielt er noch einmal kurz am Waldrand mit dem Briefkasten an. Eine Menge Gedanken gingen ihm auch später noch durch den Kopf. Erst am Abend, als er bei seinen Eltern verspätet das dritte Mal in diesem Jahr Weihnachten feierte, vergaß er sie für einige Stunden.
Das war vor mehr, als einem Jahr. Derzeit laufen die Vorbereitungen für einen neuerlichen Besuch Dramstedts. Wahrscheinlich wird es keinen Versuch geben, um zu erfahren, ob die Ereignisse im Wald tatsächlich stattfanden - sondern vielmehr, um gemeinsam mit Bettina Weihnachten zu feiern.
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Weihnachtsgeschichten von Patricia Koelle
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