"Nein", dachte er, "nie wieder werde ich eine Weihnachtsgeschichte schreiben." Jahrelang hatte er geschrieben, hatte fröhliche Geschichten zu Papier gebracht, Geschichten von Engelchen, Schneeflocken und klingenden Glöckchen, von leuchtenden Kinderaugen und dem Duft nach Plätzchen und Weihnachtsgans. Und dann war an Weihnachten seine Frau gestorben. Gemeinsam hatte sie bereits drei Tage vor dem Fest begonnen, den Baum zu schmücken. Müde hatte sich seine Frau in den Ohrensessel neben dem Christbaum gesetzt, hatte gesagt: "Weißt du noch, wie damals unser Kleiner nach den roten Christbaumkugeln gelangt hat und ..." und als er sie fragend ansah, da hatte sie die Augen für immer geschlossen.
Seither lebte der alte Mann allein, duldete nur die Gesellschaft seines Katers. Mit verdorrter Seele und Gram im Herzen saß er einsam und vergessen an seinem Schreibtisch und schrieb alles, nur keine Weihnachtsgeschichten mehr. Seine Erzählungen waren gallig geworden, voller Zynismus und niemand wollte so etwas lesen, schon gar nicht, wenn draußen leise der Schnee fiel, am Adventskranz die Kerzen aufflammten und wenn die vier stillen Wochen vorüber waren und jeder vom Christkind sprach, vom Weihnachtsfest, wo sich die Menschen in den Läden drängten und Geschenke für ihre Lieben aussuchten.
Leon Schweiger starrte aus dem Fenster, verlor sich in Erinnerungen. Draußen fegte ein eisiger Wind ums Haus, die Natur schien unter der ungewöhnlichen Kälte an Heiligabend zu erstarren. Laut schnurrend sprang Falstaff, sein schwerer grauer Kartäuserkater auf den Schreibtisch. Langsam streckte er eine seiner dicken Pfoten spielerisch nach der Hand des alten Mannes aus, ließ seine Krallen ganz leise und vorsichtig über die verletzliche Altershaut auf den mageren Händen gleiten. Wie dicke blaue Würmer wanden sich die Adern unter der dünn gewordenen Haut. Falstaff wusste, dass er nicht kratzen durfte. Zu leicht bluteten die kleinen Wunden und sein Herr würde böse werden. Tröstlich aber durfte er schon ein wenig hinlangen. Es war eine Aufmunterung, ein 'Denk daran, ich möchte täglich mein Futter haben'. Keine Katze war selbstlos, auch Falstaff nicht. Fressen kam an erster Stelle. Dann erst kam die Liebe zum Menschen.
Als Leon Schweiger die dicke, schwere Pfote Falstaffs auf seiner Hand spürte, da musste er an seine erste Begegnung mit dem Kater denken und an das große Glück, das er bei der Berührung durch seine Pfoten empfunden hatte. Er spürte wieder, wie er damals aus seiner Verzweiflung aufgetaucht war und eine Spur von Weihnachtsfreude empfunden hatte. Falstaff, sein Weihnachtsgeschenk.
Jahre war es nun her. Einsam war damals Leon Schweiger durch die Straßen geirrt. Drei Tage zuvor war seine Frau gestorben. Unstet und teilnahmslos wanderten seine Blicke über die quirlige Menschenmenge, die sich vor den bunt geschmückten Schaufenstern drängte, beladen mit vollen Taschen aus den Kaufhäusern strömte, keine Zeit fand, vor einem der Menschen stehen zu bleiben, die kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Frierend saßen sie an den belebten Straßenecken. Sie wärmten sich und ihren Hund eng umschlungen und sie starrten auf die Schale zu ihren Füßen, in der nur ein paar wenige Münzen lagen.
Einer aber saß da, der hatte keinen Hund. Eine kleine rote Kerze brannte neben ihm auf dem Straßenpflaster. An seiner Bettelschale lehnte ein Stück Pappe. Mit ungelenker, dem Schreiben seit langem entwöhnter Hand hatte er darauf geschrieben: "Für meine Katze." Die Schale war leer. Der Blick des Mannes war leer und die Leere in der Überfülle der Stadt weckte Leon Schweiger aus seiner Verlassenheit. Auch er kannte diese Leere, war mit ihr vertraut. Sie war seit dem Tod seiner Frau sein täglich Brot, seine Zukunft.
Er bückte sich zu dem Mann und sagte: "Ich sehe keine Katze."
Wortlos nahm die Hungergestalt den zerschlissenen Rock zur Seite und da lag vor seiner Brust ein graues Wollknäuel, das sein Mäulchen mit den winzigen, spitzen Zähnen öffnete, als wollte es etwas sagen. Doch kein Laut kam zustande. Da langte das Kätzchen aus der kümmerlichen Wärme an der Brust des Obdachlosen heraus und legte das Pfötchen auf Schweigers Hand. Ganz leicht und locker lag es da und dem einsamen Mann liefen die Tränen über die Wangen. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau konnte er weinen.
Der Obdachlose sah die Tränen und sah die Trauer und die Einsamkeit und er nahm das winzige Bisschen Katze aus seinem Rock heraus und sagte: "Nimm die Katze. Bei dir wird sie's gut haben. Ich habe sie erst vor drei Tagen gefunden und hab gedacht, dann bin ich nicht allein. Aber ich hab nicht bedacht, dass sie was zu fressen braucht und ein warmes Plätzchen auf der Heizung. Wo soll ich das hernehmen? Nimm sie, mach sie glücklich."
Der Mann hustete.
"Leb wohl kleiner Falstaff", krächzte er.
"Wieso Falstaff?", hatte Leon Schweiger erstaunt gefragt. Falstaff, der dicke, gefräßige und fröhliche Lebemann! Und hier dieses winzige Etwas. Verhungert und halb erfroren.
Der Mann der Straße hatte mit schiefem Grinsen gesagt: "Weil ich hoffe, dass er einmal ein mächtiger und lebensfroher Kater wird."
Noch immer weinend nahm der alte Mann das Kätzchen aus den Händen des Obdachlosen entgegen. Er hatte nicht gewusst, was tun, wie danken, wie sich verhalten. Unter Tränen murmelte er: "Frohe Weihnachten und - Danke!", und warf verstohlen, so als schäme er sich für seinen Reichtum, einen Geldschein in die Schale hinter dem Schild "Für meine Katze". Dann ging er rasch weiter, das kleine Bündel Katzenleben in seinen Schal gewickelt.
Der eisige Wind fror seine Tränen auf den Wangen fest und er fühlte ein leises Vibrieren an seiner Brust. Das Kätzchen hatte begonnen zu schnurren. Noch lange hörte er hinter sich das Husten des Obdachlosen.
Das war zu Weihnachten vor zehn Jahren gewesen. Was mochte aus dem Penner geworden sein, der ihm Falstaff geschenkt hatte?
Die dicke Pfote des Katers lag auf seiner Hand. Seit er ihn hatte, seinen Weihnachtskater, tat er dies. Beruhigend, tröstend. "Schau, du hast doch mich!"
Falstaff hob träge seinen dicken Kopf und ließ mit seinem Schnurren den Schreibtisch beben.
"Was meinst du", sagte Leon Schweiger, "soll ich doch eine Weihnachtsgeschichte schreiben? Deine Geschichte mit mir und meine Geschichte mit dir?"
Der Kater wälzte sich auf den Rücken und forderte den alten Herrn auf, ihm auf dem Bauch das weiche Fell zu kraulen. Dabei blickte er ihn ein wenig hinterlistig aus halb geschlossenen Augen an. Schmale grüne Schlitze, die Leon Schweiger zur Vorsicht mahnten. Bevor Falstaff blitzschnell zuschlagen konnte, hatte er seine Hand zurück gezogen.
Der alte Mann lächelte, stand auf und kramte aus dem Küchenschrank den alten gläsernen Kerzenständer mit dem Rest der dicken roten Weihnachtskerze von früher hervor. Er stellte die Kerze außer Reichweite von Falstaff auf und beim warmen weihnachtlichen Licht begann er zu schreiben.
Das Weihnachtsgeschenk
Das Weihnachtsfest rückte näher und Frost fiel vom Himmel. Auf die Erde und auf meine Seele. Drei Tage vor dem Christfest musste ich meine Frau zu Grabe tragen. Sie versank in das tiefe eisige Loch in der Erde und meine Seele sank in tiefe eisige Schwärze. Am Heiligen Abend ging ich aus Gewohnheit, weil mich über Jahrzehnte meine Frau im letzten Augenblick um kleine Einkäufe gebeten hatte, durch die Straßen der Stadt. Ich nahm kaum etwas wahr, sah nicht, wie die Stadt festlich strahlte,
sah nicht den großen Christbaum im Lichterglanz vor dem Rathaus. Und dann sah ich den alten Mann auf dem kalten Straßenpflaster sitzen, eine brennende Kerze neben sich und ein winziges Kätzchen an seiner Brust ...
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