Es dämmerte. Der Mann sah auf die Uhr. Schon so spät! Er warf sich den Kaschmirmantel über und verließ mit schnellen Schritten die Penthousewohnung.
Jedes Jahr dasselbe. Immer wieder vergaß er, rechtzeitig zu Weihnachten etwas für seine Mutter einzukaufen. Jetzt war es schon nachmittags, hoffentlich hatten noch einige Geschäfte auf! Und er musste einen Kurier finden, der das Geschenk zu ihr brachte. Selber hinzugehen, dafür fehlte ihm wahrhaftig die Zeit.
Er erreichte die verschneite Straße. Durch den Schneevorhang versuchte er offene Läden zu erspähen. Da, der DM Markt hatte geöffnet. Er lief hinein und fand sofort genau das, wonach er suchte. 4711! Das hatte die Mutter schon immer gern gehabt. Er kaufte eine große Flasche. Schnell bei der Verkäuferin bezahlt. Und weiter ... Taschentücher, genau, Taschentücher mit Spitze, und wenn er Glück hatte, bekam er welche mit Stickerei. Er kannte einen Laden, der so etwas anbot. Super, dachte er, der hat noch auf. Er kaufte drei wunderschöne Batisttücher mit Spitze und mit Stickerei, eines davon sah sogar aus wie Mutters Monogramm. Jetzt noch verpacken, die Karte hatte er schon im Büro geschrieben: Frohes Fest stand darauf, und er hatte vermerkt: "wünscht dir Ingo". Auf der anderen Straßenseite war ein Schreibwarengeschäft. Er besorgte Weihnachtspapier und verpackte die Sachen so gut es ging, anschließend kaufte er noch eine Tüte mit Engeln als Aufdruck und verstaute seine Geschenke darin. So, dachte er, jetzt den Kurier. Natürlich war der auf der anderen Seite der Straße angesiedelt. Er sah nach links und rechts und überquerte diagonal im Schneetreiben die Straße.
Auf dem Bürgersteig versuchte eine junge Frau ihre Stiefel auszuziehen und in schwarze Lacklederschuhe mit Stilettoabsätzen zu schlüpfen.
Augenblicklich wurden ihre Füße kalt. Aber, wer schön sein will muss leiden, dachte sie. Endlich hatte sie Feierabend, und sie wollte sich noch ein bisschen amüsieren. Sie war Anfang zwanzig und das Leben hatte es bisher nicht gut mit ihr gemeint. Immer nur arbeiten, dann nach Hause, um den Haushalt und ihre Tochter zu versorgen. Anna Lena war jetzt sieben und konnte sich in der Zeit, in der sie allein zu Hause war, ganz gut beschäftigen. Energisch schob die Frau den Gedanken an das Kind zur Seite.
Vielleicht fand sie heute noch einen Flirt. Oder mehr. Sicher, es war Heiligabend, aber Anna Lena war es gewohnt, dass sie spät kam. Sie hatte ihr nie gesagt, dass sie am Nachmittag Feierabend hatte, sondern erklärt, sie müsse bis in die Abendstunden arbeiten. Auch heute würde es nicht auffallen, wenn sie erst am späten Abend nach Hause käme. Auf der anderen Straßenseite sah sie rote und blaue Lichter im Wechsel durch den Schnee blinken. Die Tanzbar hatte auch heute geöffnet. Sie raffte den langen Mantel und lief, so schnell es ihre Schuhe zuließen, auf die Straße und der Tanzbar entgegen.
In der Nebenstraße der beleuchteten Allee rappelte sich der Penner in seiner Nische hoch. Sein zerschlissener Mantel hing wie ein Zelt um seine ausgemergelte Figur. In einer der ausgebeulten Taschen griff er nach der Flasche. Gut, dachte er, so werde ich auch dieses Weihnachten überstehen.
Weihnachten, wie war es immer schön gewesen mit seiner Frau, seinem kleinen Sohn und dem Baby. Nur ganz kurz gestattete er sich einen Rückblick auf eine wunderbare Zeit, um ganz schnell wieder in sein jetziges Leben zu schauen.
Bloß nicht weinen, bloß nicht denken, bloß nicht träumen. Er fasste die Flasche fester und, warum ist das nur passiert, dachte er. Warum nur? Es war ein schöner Tag gewesen. Alle saßen im Auto, lachten und hatten Spaß und plötzlich war alles vorbei. Er konnte sich nur noch an ein Schleudern und Krachen erinnern und dann --- aus!
Er war allein, sein Leben war vorbei. Er ging nicht mehr zur Arbeit, verlor Wohnung, Auto, Freunde. Aber was interessierte ihn das schon. Sein Leben war nicht mehr da. Jesus, alle Heiligen hatten ihn verlassen. Er, der immer gedacht hatte, Gott beschütze die Seinen, war im wahrsten Sinne des Wortes von allen Geistern verlassen worden.
Fahrig fuhr er mit der Hand über die Augen und sah sich nach einem warmen Plätzchen zum Übernachten um. Drüben, wusste er, war unter der Brücke eine geschützte Ecke, da würde er jetzt hingehen. Er drehte sich um und schlurfte über die Straße.
Das große Kaufhaus an der Ecke sollte gerade geschlossen werden, als die Sirene losheulte. Ein Kunde wollte mit gestohlener Ware das Haus verlassen.
In die beiden Kaufhausdetektive kam Bewegung. Sie verständigten sich kurz und schon hatten sie den Dieb erwischt.
"Natürlich", meinte einer, "Was sonst! Mal wieder einer von diesen Asozialen. Los, zeig was du gestohlen hast!"
"Ich habe nichts geklaut", versuchte sich der Junge herauszureden.
"Wirklich nicht!"
Einer der Detektiv griff dem Jungen in die Hosentasche. "Und was ist das? Nichts?"
Der Junge drehte und wendete sich und platzte dann heraus: "Der ist für meine Mutti, damit sie sich auch mal richtig schön machen kann!"
"Und dafür stiehlst du? Meinst du deine Mutter würde sich darüber freuen?"
Der andere Detektiv flüsterte seinem Kollegen etwas zu. "Wie?", meinte der, "Weihnachten, und da kann dann jeder klauen?"
Sie sahen sich an, die in Lohn und Brot standen, nickten sich zu und wandten sich ab.
"Nun renn schon!", sagte der zweite Detektiv leise, "lauf nach Hause und feiere schön! Der Lippenstift muss aber hier bleiben."
Der Junge flitzte davon, allerdings nicht nach Hause. Er schämte sich, seiner Mutter unter die Augen zu kommen. Er würde den Abend am Fluss auf einer Bank verbringen. Hoffentlich wurde es nicht noch kälter! Er rannte, blind vor Tränen, über die Straße.
Mitten auf der Straße trafen der junge Mann, die Frau, der Penner und der kleine Junge zusammen. Da! Plötzlich war zwischen ihnen ein Licht, so hell und strahlend, dass die vier die Augen schließen mussten. Nach einiger Zeit ließ das Leuchten nach und sie schauten sich verwundert an.
Was wollte ich noch, dachte der Mann, ach ja, zu meiner Mutter. Oh, es ist schon spät. Ich muss laufen. Er ging mit großen Schritten auf ein Juweliergeschäft zu, ließ sich dort Medaillons zeigen, die seine Mutter so liebte, und suchte ein goldenes aus. "Ich nehme es", sagte er und bat den Juwelier, ein Foto von sich in das Medaillon einzufügen.
In dem Mietshaus, in dem seine Mutter wohnte, brannte kein Licht und er mußte sich durch das dunkle Treppenhaus tasten.
Wie klein sie geworden ist und so schmal, dachte er, als er vor seiner Mutter stand. Sie blinzelte durch einen Tränenschleier zu ihm hoch, als er sie umarmte. "Ingo, ich wusste, dass du kommst." Sie zog ihn ins Wohnzimmer.
Und richtig, da stand der Weihnachtsbaum, wie immer mit Wachskerzen geschmückt, und darunter lagen seine Geschenke. Sie hatte ihm wieder einen Pullover gestrickt, diesmal mitternachtsblau mit Sternen. Er dachte voller Scham an die vielen anderen Pullover, die bei ihm in einem Fach des Schrankes lagen und die er nie trug. Der Tisch war für zwei gedeckt.
"Wie lange", fragte er, "wie viele Weihnachten war ich nicht mehr hier?"
Die Mutter deutete auf die Vitrine. Dort standen säuberlich aufgereiht sieben Flaschen 4711 und ein dicker Stapel Taschentücher. Er brauchte sie nicht zu zählen, er wusste es waren einundzwanzig. "Mami", sagte er und kniete vor ihr nieder, "Mami, würdest du wieder einmal Hase zu mir sagen?"
Dieses Wort aus seinen Kindertagen, das er später so gehasst hatte, Hase, das klang gar nicht groß und auch nicht erfolgreich, aber das war er doch!
Doch jetzt, jetzt wollte er bloß noch das sein, Mamis Hase!
Die Mutter nahm ihn in den Arm und sagte: "Weißt du, für mich wirst du immer mein Hase sein, egal was aus dir wird. Groß und stark, schwach und klein, erfolgreich oder gescheitert, du wirst immer mein geliebtes Kind bleiben, mein Haselchen."
Aufatmend sah die junge Frau den Mann weggehen. Sie musste nach Hause. Ihre Tochter wartete. Sie versuchte, so schnell wie möglich mit den hohen Absätzen die Straße entlang zu laufen. In ihrer Tasche hatte sie ein Geschenk für die Kleine. Eine Barbiepuppe. Sie hatte sie noch ganz schnell, in der Mittagspause, besorgt und war froh darüber, obwohl - so ganz im Hintergrund ihrer Gedanken wühlte etwas. Hatte ihre Tochter nicht gesagt, sie mag keine Barbies? Nun, jetzt war es sowieso zu spät.
Aus dem Wohnzimmer drang leise Weihnachtsmusik als sie die Wohnungstür aufschloss. Anna Lena sang. Sie hat so eine hübsche Stimme, dachte sie, und sah durch den Spalt an der Tür. Die Kleine saß auf dem Sessel und sah den geschmückten Weihnachtsbaum an. Schön hat sie das gemacht, dachte die Frau, sogar den Stern hat sie oben auf die Spitze gesteckt. Kleine Päckchen lagen unter dem Baum und der Tisch war festlich gedeckt.
"Hallo", sagte die Frau, "hallo meine Kleine." Die Tochter starrte sie überrascht an: "Mutti", rief sie, "Mutti, du bist schon da? Wie wunder-, wunderschön!" Sie fiel ihrer Mutter um den Hals und flüsterte ihr zu: "Frohe Weihnachten, liebe Mutti, ganz frohe Weihnachten!" Der Mutter kamen die Tränen. Was hatte sie nur für ein liebes, vernünftiges Mädchen! Wie hatte sie das vergessen können. "Ab jetzt werden wir viel Zeit zusammen verbringen und vor allen Dingen werde ich an Weihnachten nicht mehr so lange arbeiten."
Ein wenig schämte sie sich, dass sie der Tochter nicht die ganze Wahrheit sagte, aber sie konnte es nicht, noch nicht. Etwas später vielleicht und vielleicht wird ihr die Tochter auch verzeihen. Sie ist ja so verständnisvoll. Sie nahm die Kleine in den Arm und dachte: Ich liebe sie ja, mein Gott, ich liebe sie ja. Ich habe es gar nicht gewusst, aber ich liebe meine Tochter.
Etwas verwirrt schaute der Penner den beiden jungen Leuten nach. Ich wollte ... was wollte ich denn? dachte er. Er sah sich um und erblickte die kleine Kirche, hell erleuchtet. Ich glaube, ich wollte in die Kirche! Er trat durch das Portal. Die ganze Kirche strahlte vor Kerzen. Der Altar war weihnachtlich geschmückt, und der Tannenbaum leuchtete förmlich. Er setzte sich in die Ecke auf die hinterste Bank. Er wollte kein süßes Weihnachten feiern, er wollte mit Gott reden. Endlich wollte er sich mit ihm auseinander setzen, wollte ihn fragen, in aller Ruhe und nicht mit anklagenden Worten:
Warum? Warum, oh Herr? Er wusste nicht, ob Gott ihm antworten würde, aber vielleicht würde etwas Frieden in sein krankes Herz einziehen.
Er schloss die Augen und sah seine kleine Familie. Traurig blickten sie ihn an. "Lieber", sagte seine Frau, "mein Lieber, warum tust du dir dies an?
Warum zerstörst du dich? Die Kinder und ich finden hier keine Ruhe, wenn wir sehen, wie du dich ruinierst!" Er schrak hoch. So war das? dachte er. Er sah auf das Kreuz an der Altarwand und flüsterte ganz leise: "Danke, Herr, Du hat mir gezeigt, dass ich einen falschen Weg eingeschlagen habe. Aber nun werde ich versuchen den richtigen zu finden. Lass mich nur noch diese Nacht hier in Deinem Frieden verbringen."
Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ den Frieden und die Liebe Gottes in sein zerrissenes Herz.
Auf der Straße stand nur noch der achtjährige Junge. "Ich", dachte er, "ich werde jetzt einfach nach Hause gehen. Für Mutti ist es bestimmt viel schlimmer, wenn ich Weihnachten nicht zu Hause bin, als zu erfahren, dass ich kein Geschenk habe." Er rannte schnell nach Hause, klingelte. "Mutti, Papa, ich bin wieder da!", rief er. Die Mutter öffnete weit die Arme. "Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Wo warst du denn nur?" Der Junge schluckte und beichtete seine Tat. "Ach mein Kleiner", sagte die Mutti, "das, mein lieber, lieber Junge, das darfst du nie wieder tun. Wir brauchen keine Geschenke von dir, du bist unser größtes Geschenk." Glücklich sah der Junge seine Eltern an. Als dann von der Schallplatte das Lied "Süßer die Glocken nie klingen" erklang, sang er kräftig mit: "Segnet den Vater, die Mutter, das Kind." Er wusste, damit waren sie gemeint, er und seine Eltern.
Am nächsten Morgen sahen die ersten Kirchgänger auf der Straße einen Flecken geschmolzenen Schnees, der exakt die Umrisse eines Sternes hatte.
***