Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent

Dona Nobis Pacem mal anders

© Katrin Ackermann

Das Klavier musste weg, so viel stand fest. Ich hatte die Herbstferien mit meinen Kindern genutzt, um unser Haus zu renovieren, genauer: die untere Etage. Nach zehn Jahren war es mehr als nötig, denn Charlotte und Franziska waren nun so groß, dass sie eben nicht mehr die Tapete bemalten oder mit Fettfingern die Lichtschalter betatschten. Frei nach dem Motto: "Simplify your life" ordneten wir Wohnzimmer, Küche und Flur drei Abteilungen zu: BEHALTEN - VERSCHENKEN -MÜLL. Alles ausgeräumt wirkten die Räume riesig, dabei sind es zusammen bloß 50 Quadratmeter. Wir entschieden uns für eine Farbe aus einer Mischung von gelb-orange und strichen alles in diesem warmen Farbton, bis auf die Ecke im Wohnzimmer, wo das Klavier stand.

Dieses Klavier hatten wir vor einigen Jahren vor dem Sperrmüll gerettet. Ein altes, wunderschönes Möbelstück aus dunklem Holz, die Tasten vergilbt, an den Seiten veschnörkelte Kerzenhalter. Nur unempfindliche Ohren konnten den Klang ertragen, es war hoffnungslos verstimmt. Zweimal investierte ich ziemlich viel Geld und bat einen Klavierstimmer nach dem Rechten zu sehen. Es war dann auch tatsächlich besser, doch regelmäßig spielte bei uns sowieso niemand. Mit der Zeit gewöhnten sich alle an, das Klavier als Abstellfläche zu nutzen: Zeitungen, Einkaufszettel, Stifte, Knetgummimännchen, Playmobilautos, Duftkerzen ... ein wirres Sammelsurium. Damit war jetzt Schluss, doch wohin? Kein Mensch wollte das Klavier kaufen, kein Liebhaber interessierte sich dafür, niemand wollte es auch nur geschenkt. Die Herbstferien neigten sich dem Ende zu und ich konnte nicht weiterstreichen, denn das Klavier war so schwer, dass ich es keine zehn Zentimeter verschieben konnte. Sperrmüll? Auf keinen Fall!

Wir mussten eine andere Lösung finden.

Wie ein Wink des Schicksals stieß ich am nächsten Morgen in der Zeitung auf folgende Annonce: "… wir suchen möglichst preiswert ein altes Klavier für unser neues Projekt ..."

Unter der angegebenen Nummer meldete sich der Leiter einer psychosomatischen Klinik für Drogenabhängige. Die Gruppe suchte für die Gründung eines Chores ein halbwegs intaktes Klavier. Ich erzählte ihm, dass unser Klavier zwar verstimmt sei, sich aber stimmen ließe und sich eigne für diesen Zweck. Nach ausführlicher Erklärung meinerseits bezüglich der Fahrtbeschreibung machten wir einen Termin für den nächsten Tag aus. Ich legte ihm unbedingt noch mal ans Herz, dass er sich auf jeden Fall um Klaviertragegurte kümmern musste und ein paar starke Männer wären auch von Vorteil, da das Klavier wirklich einige Pfunde auf die Waage bringt.

Am kommenden Tag war es warm wie im Sommer. Ich genoss gerade mit meinen Kindern die letzten Sonnenstrahlen des Oktobers in unserem Garten, als sich ein riesiger Bus mitsamt Anhänger unserem Haus näherte.

"Sind die das?", fragte Franziska.

"Nee, die kommen doch nicht mit einem Bus", sagte Charlotte, doch da kam bereits der erste Mann zum Tor und fragte: "Sind wir hier richtig, wegen Klavier und so?"

Der Leiter der Klinik hatte meinen Vorschlag mehr als ernst genommen und einfach die komplette "Drogenabteilung" mitgebracht. Fünfzehn erwachsene Männer und Frauen stiegen nacheinander aus dem Bus, junge und ältere, dicke und dünne, hübsche und weniger hübsche, kleine und große. Wir staunten nicht schlecht und nach ein paar Minuten saßen wir alle unter unserem Walnussbaum, tranken Apfelsaftschorle und erzählten. Zwei Männer spielten mit unserem zotteligen Hirtenhund Frida und wir vergaßen alle, warum wir eigentlich zusammen waren.

Irgendwann trommelte der Therapeut dann doch ein paar starke Männer zusammen und gemeinsam transportierten sie das Klavier in den Anhänger; es war weniger schwierig als erwartet. In der Zwischenzeit bereitete ich mit den Frauen einen kleinen Obstsalat vor. Alles war so einfach, so ungezwungen, so normal.

Als wir dann alle noch mal beisammen saßen und uns den Obstsalat schmecken ließen, kam mir plötzlich eine Idee. Ich hatte in meinem Aufräumwahn ungefähr drei große Säcke Kuscheltiere aussortiert (natürlich nicht ohne das Einverständnis meiner Töchter), die wir spenden oder verschenken wollten. Wann wäre ein besserer Zeitpunkt, wenn nicht jetzt? Und da ich mit dem Einsatz von Kuscheltieren schon so manch gute Erfahrung in meinem Leben gemacht habe, fasste ich all meinen Mut zusammen und fragte ganz direkt in die Runde, ob jemand ein Kuscheltier haben möchte. Betretendes Schweigen. Oh Gott! Ich dachte schon, dass meine Idee wohl den Bach runter ginge, da antwortete der Mann von dem ich es am wenigsten erwartet hätte (groß, ca. 45 Jahre alt) ganz ernst: "Ja, ich möchte sehr gerne eins!"

Ich holte die Säcke aus dem Keller und setzte Bären, Hunde, Hasen, Katzen, Papageien und Pinguine in einen großen Kreis auf die Wiese.

Da passierte etwas Unglaubliches: Die Erwachsenen stürzten sich auf die Tiere wie Ertrinkende auf einen Rettungsring. Der bestaussehende Mann (eindeutig unser persönlicher Favorit!!!) blond mit hübschem Gesicht und muskulösen, tätowierten Oberarmen, kniete auf der Wiese, in der rechten Hand einen Bären, in der linken Hand einen Hasen mit extrem langen Ohren. Franziska ging zu ihm und er sagte: "Ich weiß einfach nicht, welchen ich nehmen soll!" Meine Tochter legte ihm wie selbstverständlich den Arm um die sportliche Schulter und meinte: " Du kannst auch beide nehmen, sind doch genug da!"

Ich stand abseits, damit niemand meine Tränen sah. Ich war so unendlich gerührt.

Es dämmerte bereits, als der Therapeut zum Aufbruch drängte. Als alle im Bus saßen und er sich langsam in Bewegung setzte, winkten sie uns zu, strahlend, mit ihren neuen Seelentröstern im Arm und wir winkten zurück, stürmisch, als würden unsere besten Freunde nach Hause fahren.

Wir räumten die Teller und Gläser weg, gingen ins Haus zurück, schauten ins Wohnzimmer, was nun kahl und leer wirkte ohne unser Klavier und dachten an den Nachmittag.

Die letzte Ecke zu streichen war nun wirklich nicht mehr viel Arbeit und bald hatten wir uns schon so an das neue, warm strahlende Wohnzimmer gewöhnt, dass wir unser Klavier mehr und mehr vergaßen.

Umso erfreuter waren wir, als uns Mitte Dezember ein besonderer Brief erreichte, eine Einladung zum Adventskonzert mit dem neuen Chor der psychosomatischen Klinik. Konnten wir denn ahnen, dass wir die Ehrengäste waren?

Im großen Aufenthaltsraum der Klinik war alles liebevoll geschmückt mit Tannenzweigen, Fensterbildern und vielen kleinen Teelichtern, die als einzige Lichtquelle dienten. Die erste Stuhlreihe war für uns reserviert.

Ich fing natürlich schon vor dem Konzert an zu heulen, weil wir in der Begrüßungsrede namentlich erwähnt wurden und viel Applaus bekamen.

Als dann die ganze Gruppe, die noch vor kurzer Zeit bei uns im Garten saß, auf der Bühne stand und anstimmte zu Dona Nobis Pacem, konnte ich mich wirklich nicht mehr beherrschen und ließ meinen Tränen freien Lauf.

Das Klavier war genau am richtigen Ort.

Niemals zuvor hatte ich mein Lieblingsweihnachtslied in so einer Interpretation gehört. Rein musikalisch gesehen eine mittlere Katastrophe, doch mit welcher Ernsthaftigkeit und Liebe diese Menschen dort auf der Bühne standen und für uns sangen ... das war wirklich ein unglaubliches Erlebnis und ein wunderbares Geschenk.

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