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Der kleine Weihnachtsengel© Sonja BaumDer Schnee fiel leiser noch als gewöhnlich. Anna streckte ihre Hand aus: Lange verharrten die Kristalle in ihren Formen und zerschmolzen erst, als sie mit ihrem Atem darüberstrich. Fröstelnd zog sie ihren langen Schal enger um den Hals und steckte ihre Hand zurück, tief in die Manteltasche. Die alte Brücke mit ihren großen Pflastersteinen war gefährlich vereist, nur der Schnee gab Anna etwas Halt. Kein Motorengeräusch von auch nur entfernten Autos war zu hören. Selbst die sonst so vielbefahrene Straße, die unter der Brücke den Fluss entlangführte, leuchtete mit unberührter Schneedecke. Alles lag in einer feierlichen Stille da. Es war der kälteste Heiligabend seit langem. Als Anna in der Mitte der Brücke angelangt war, lehnte sie sich weit über die Brüstung und blickte hinab in den dunklen Fluss. Mit der einbrechenden Dunkelheit war das Spiegelbild des weihnachtlichen Glanzes, der aus den Fenstern der Häuser am Fluss drang, immer deutlicher in dem ruhig dahin fließenden Wasser zu sehen. Selten waren alle Häuser so hell erleuchtet wie an diesem Abend. Jedes Weihnachten kam Anna hierher. Dann blickte sie den Fluss hinab, und wenn sie sich anstrengte, konnte sie durch die hellen Fenster die liebevoll geschmückten Christbäume sehen. Und dann hörte sie das Gejuchze anderer Kinder, wohl, wenn sie ihre heißersehnte Spielzeugbahn oder ihr neues Puppenhaus unter dem Baum entdeckten. Und manchmal drang sogar leiser Gesang an ihr Ohr. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, es sei der Gesang der Engel, die dem Weihnachtsmann halfen all die Geschenke zu den Kindern zu bringen. Und manchmal gelang es ihr, das leise Bimmeln der Glöckchen am Geschirr der Rentiere zu hören, die den Schlitten des Weihnachtsmannes durch den Himmel zogen. Wenn sie dann schnell aufsah, war es schon vorbei und der Himmel leer. Auch diesen Abend lauschte Anna angestrengt und suchte den Himmel ab. Sie hatte noch lange Zeit, bis auch ihr Heiliger Abend begann: die Eltern betrieben ein Restaurant in der kleinen Stadt, und selbst an diesem Abend gab es Menschen, die dort bis zur späten Stunde in lustiger Runde beisammen saßen. Immer schon hatte Anna ihre Freunde beneidet, die zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern erst zur Kirche gingen, dann zurückkehrten, durchgefroren, in die warme Stube, wo der Christbaum auf sie wartete mit all seinen Geschenken. Dennoch hatte Anna nie mit ihren Freunden Weihnachten gefeiert. Immer wartete sie, bis auch ihre Eltern heimkamen, spät und erschöpft zwar, aber dennoch mit weihnachtlichem Glanz in den Augen. Und dann öffnete der Vater die Tür zur Wohnstube und dort stand der Weihnachtsbaum, und Anna vermochte nie ihren Mund zu schließen, so voller Bewunderung bestaunte sie den Baum. Nie hatte sie verstanden, wie die Eltern gerade erst nach Hause kamen, die Tür öffneten - und aber die Kerzen des Weihnachtsbaumes schon brannten. Ob der Weihnachtsmann immer extra auf sie wartete, bevor er seine Runde beschloss? Anna blickte auf und entdeckte nicht weit von ihr eine kleine Gestalt auf der Brüstung der Brücke sitzen. Durch das dichter werdende Schneegestöber konnte sie nur schwer erkennen, was es war, doch ein Licht, das von irgendwo kurz herüberleuchtete, reflektierte in dem Glanz, und Anna erkannte in der Figur einen kleinen Goldengel. Sie erinnerte sich, einen ähnlichen Engel in einem der Schaufenster gesehen zu haben. War er ein Weihnachtsgeschenk und hier vergessen worden? Fast etwas verloren wirkte der kleine Engel. Sie klopfte sich den Schnee von den Schultern und bemerkte erstaunt, dass auf dem Engel gar kein Schnee lag. So als wäre er gerade eben erst dort abgesetzt worden. Neugierig trat sie einen Schritt näher, als auch der Engel sich bewegte und ihr sein kleines Köpfchen zuwandte. Erschrocken stockte Anna mitten in der Bewegung, und auch der Engel verharrte fast so, als würde er genauso wie das kleine Mädchen den Atem anhalten. Als nichts weiter geschah, trat Anna noch einen Schritt näher - und der Engel legte den Kopf schief. Ungläubig rieb Anna sich ihre Augen und blinzelte kräftig. Da hob der Engel seine Hand, blies sanft darüber, und eine Wolke feinsten Goldstaubes stob Anna entgegen und fiel mit den Schneeflocken, die er traf und golden färbte, zu Boden. Nun legte auch Anna ihren Kopf schief. "Du ...", sagte der Engel, und Anna trat noch einen Schritt näher. "Ich bin ein Weihnachtsengel." Seine Stimme klang wie ein sanfter Gesang, begleitet vom Klingeln feinster Glöckchen. Ohne Zweifel war es der Engel, den Anna in dem Schaufenster gesehen hatte. "Ich kenne dich", sagte sie. Der Engel lachte vergnügt: "Ich dich auch. Ich habe dir zugewunken, aber da hast du schon weggeschaut." "Weiße Weihnachten sind schön", sagte Anna, und es schneite noch mehr. Die Häuser am Ufer verschwanden fast vollständig hinter der weißen Schneeflockenwand, und Anna hatte das Gefühl, mitten im Irgendwo zu stehen, frei zu gehen, in welche Richtung auch immer. Und sie würde nicht wissen wohin. Doch dann dachte sie an ihre Eltern und daran, dass sie bald nach Hause gehen wollte. Der Schnee ließ wieder nach. Ein großer schwarzer Vogel kreiste über der Brücke. Anna wagte sich jetzt auch noch die letzten Schritte an den Engel heran: "Ist für Tiere auch Weihnachten?" Da flog der Vogel näher und setzte sich nicht weit von dem kleinen Engel auf die Brüstung. "Du ...", sagte der Engel und stupste den Vogel an. Der legte den Kopf schief, und der Engel überstäubte ihn mit Goldstaub. Der Vogel blinzelte noch einmal, dann flog er auf mit fröhlichem Gesang, das sich langsam in der Ferne verlor. Es wurde wieder ganz still. Die Ufer waren auf einmal fern, und Anna fühlte sich so kalt und müde - da nahm der Engel ihre Hand und flog mit ihr über den Fluss zum Ufer zurück. Dabei ließ er eine Spur Goldstaub hinter sich. Als er Anna absetzte, fragte sie: "Aber warum bist du jetzt hier? Was machst du hier draußen an Heiligabend?" "Ich habe meine Familie verloren. Jetzt muss sie ganz ohne mich feiern, keiner ist da, um die Kerzen am Christbaum anzuzünden, keiner ist da, um den weihnachtlichen Glanz in die Stube zu bringen", klagte der Engel. "Und wenn ich dir helfe, deine Familie zu finden?" Der Engel strahlte und warf lachend eine Handvoll Goldstaub in die Luft. Anna spürte auf einmal gar keine Müdigkeit mehr. Dann stapfte sie los durch den Schnee, während der Engel immer um sie herum und vor ihr her flog. Sie spähten durch eines der Fenster des ersten Hauses am Ufer. "Nein, hier ist es nicht", sagte der Engel. "Siehst du dort oben auf dem Schrank? Da sitzt schon ein anderer Engel." Anna drückte ihr Nase gegen die Fensterscheibe und tatsächlich: oben auf einem großen Schrank entdeckte sie einen ebensolchen Engel, wie ihrer auch einer war. "Komm, weiter!", rief der, und so zogen sie von Haus zu Haus, von Fenster zu Fenster. In jeder Stube war der Christbaum anders geschmückt, einer war schöner als der andere. Und überall waren glückliche Gesichter: Kinder die mit ihren Geschenken spielten, Erwachsene die miteinander lachten. Und in jeder Stube entdeckte der Engel irgendwo einen anderen Engel. Irgendwann gelangten sie wieder zu dem Haus, mit dem sie begonnen hatten. Der Engel ließ traurig seine Flügel hängen: "Jetzt muss irgendwo eine Familie ohne den Weihnachtszauber feiern. Und das nur meinetwegen." Auch Anna war ratlos und überlegte, wo sie noch suchten könnten, aber ihr fiel kein Haus mehr ein: "Das einzige, wo wir noch nicht waren, ist das, wo ich wohne", meinte sie schulterzuckend. Da blickte der Engel freudestrahlend auf und Goldstaub umwirbelte sein Köpfchen: "Aber ja, ja, das ist es! Dann bist du meine Familie!" Auch Anna lachte: Jetzt kannte sie ihren eigenen Weihnachtsengel: "Komm, wir wollen uns beeilen!", rief sie und zog den Engel hinter sich her. Gerade als sie bei Anna zu Hause anlangten, bogen auch ihre Eltern um die Ecke des Hauses: "Fröhliche Weihnachten Anna", riefen sie und Anna bemerkte, dass der Engel auf einmal verschwunden war. Der Vater schloss die Wohnungstür auf und drinnen schüttelten sie sich erst einmal alle den Schnee von den Mänteln. Und endlich, endlich war es so weit. Mit klopfendem Herzen beobachtete Anna den Vater, wie er die Tür zur Stube langsam öffnete: würde der Engel es in der kurzen Zeit geschafft haben, den Weihnachtszauber auch zu ihnen zu bringen? Und da stand er in seiner vollen Pracht: der Weihnachtsbaum. Und Anna konnte vor Staunen ihren Mund nicht schließen. Die Kerzen flackerten mit hellsten Lichtern und große rote Kugeln hingen an den Ästen, die ganz mit Goldstaub bedeckt waren. Als sie aufblickte, sah sie den Engel, wie er an der Zimmerdecke seine Kreise zog und alles mit goldenem Weihnachtszauber bestäubte. Dann winkte er ihr noch einmal zu und verschwand dann durch das geschlossene Fenster hinaus. Anna lachte und umarmte stürmisch ihre Eltern: "Noch nie hatte ich so ein schönes Weihnachten!"
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SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle
Weihnachtsgeschichten von Patricia Koelle
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