Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
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Harald im Himmel

© Anke Abbing

Die Weihnachtsvorbereitungen waren wieder einmal in vollem Gange und es gab viel zu tun im Himmel. Älter gewordenen Wolken, die erste Anzeichen von grau zeigten, bekamen einen neuen Anstrich. Die Milchstraße musste geschrubbt und sämtliche Sterne poliert werden. Doch das allerschlimmste für Harald war die Inventur. Der kleine Engel war klug, doch sobald er unter Stress stand, begann das Chaos, und in seinem Kopf geriet alles durcheinander. Er versuchte nicht daran zu denken, als er gedankenverloren den Pinsel schwang. "Hey, du", grummelte der Wolkenmann. "Kannst du dich ein bisschen beeilen?" - "Mihm", erwiderte Harald und pinselte seelenruhig weiter. Hier ein Tupfer und dort ein Tupfer. "Wenn du in diesem Tempo weitermachst, bist du morgen früh noch nicht fertig", grollte der Wolkenmann. "Jaja", murmelte Harald und pinselte weiter. Hier ein Tupfer und dort ein Tupfer. Der Wolkenmann holte einmal tief Luft, wobei sich sein Umfang derart verdoppelte, dass Harald um ein Haar von seinem Stern heruntergefallen wäre. " Kannst du denn nicht aufpassen", schimpfte Harald, während er sich krampfhaft an der Ecke seines Sterns festhielt. "Der Pinsel ist nun futsch", stellte er verbittert fest. "Sieh dich nur an, ich war doch noch nicht fertig". Der Wolkenmann schaute verknittert drein und dann an sich herunter. "Na ja", begann er. "weiße Punkte sind auch ganz nett." Harald schüttelte den Kopf. "Weiße Punkte. Du bist doch kein Mädchen." - "Nein, aber ich habe eine Verabredung", begann der Wolkenmann. "Da kann ich mich endlich mal von meiner weiblichen Seite zeigen", grinste er und verschwand. "Na, wenn du meinst, aber morgen wird weiter gepinselt", rief Harald ihm hinterher. Und jetzt habe ich Hunger, dachte er, kletterte auf den größten Zacken, breitete seine kleinen Flügel aus und los ging's. Da war die Milchstraße. Er könnte die bereits gescheuerten Meter als Rutschbahn benutzen, dann wäre er schneller. "Verzeih mir Josef", sprach er und sah zum Himmel hinauf. "ich habe solch einen Hunger". Er sauste mit einem Rutsch an den riesigen Tisch, direkt vor Josefs Nase. "Na wen haben wir denn da?" Josef sah ihn streng an. Er hatte sich zu Harald hinunter gebeugt, so dass sein Kinn die Tischplatte berührte. Der lange, weiße Bart verdeckte seinen Mund und das war gut so. Harald konnte sich auch so vorstellen, wie der Chef, vor Unmut die Mundwinkel zusammen kniff. Es trennten sie nur wenige Zentimeter voneinander. Harald hatte nicht gewusst, dass der Chef mehr als dreimal so groß war, wie er selbst. Er hatte ihn ja noch nie aus der Nähe gesehen. Sie schauten sich an, Auge in Auge. Keiner von beiden sagte etwas. Harald wurde ganz mulmig zumute und plötzlich begann sein Magen, wie verrückt, zu knurren an. "Ah der kleine Engel hat wohl Hunger", begann Josef. Langsam richtete er sich auf. Harald wich einen Schritt zurück und nickte schüchtern. "Du konntest es nicht abwarten, nicht wahr?" Josef schaute in die Runde und brach in schallendes Gelächter aus. "Setz dich", befahl er und wies Harald einen Platz links neben ihm an. Harald seufzte erleichtert. "Zur Strafe wirst du morgen die Milchstraße mit einer Zahnbürste scheuern." Harald setzte sich und verdrehte die Augen. "Das habe ich gesehen junger Mann". Josef schmunzelte und reichte ihm eine silberne Schale mit warmem Milchreis. Harald genoss das Essen, auch wenn er nun unter Josefs persönlicher Aufsicht stand. Da war Petrus, der Stellvertreter vom Chef sozusagen. Seine Gattin Petra, immer an seiner Seite. Gabriel, der Erzengel, vor dem sich alle fürchteten. Michael der Engelsfürst, den alle liebten. David, Abigail und eine ganze Schar von Kindern, sie hatten eben noch kein Fernsehen. Adam und Eva immerhin angezogen, so etwas gehört sich schließlich bei Tische so. Und Engel, Engel gab es in reichlichen Maßen. Schutzengel, die allesamt mit einem Heiligenschein herumflogen, todbringende Engel, die jeder an ihren dunklen Gewändern erkennen konnte, die gefallenen Engel, deren Flügel derart ramponiert waren, dass sie kaum noch zum Fliegen taugten, die Engel des Gerichts und das Gefolge des Weltrichters und so weiter und so fort. Nur Harald wusste sich nicht einzuordnen. Er hatte weder einen Heiligenschein, noch ramponierte Flügel. Jura hatte er auch nicht studiert und er bevorzugte leuchtende Farben, statt dunkle. Wo also gehörte er hin? Harald runzelte seine kleine Engelsstirn, während er sich einen Löffel von dem köstlichen Brei in den Mund schob. Wen könnte er um Rat fragen? Den Wolkenmann, natürlich. Morgen würde er ihn fragen. Als das Essen beendet und der Tisch abgeräumt war, rutschte Harald von seinem Schemel herunter und noch ehe Josef ihn aufhalten konnte, war er schnurstracks zu seiner Schlafwolke geflogen. Er strich sich über sein volles kleines Bäuchlein und schlief erschöpft ein.

Der nächste Morgen brachte einige Überraschungen. Petrus und seine Gattin Petra standen an Haralds Schlafwolke und sah auf den schlafenden Engel hinab. "Er schläft noch", wisperte Petra. Sie wies mit dem Finger auf ihn. "Sieht er nicht süß aus?" Petrus war nicht besonders gut gelaunt heute und die mütterlichen Anwandlungen seiner Gattin konnte er schon recht nicht ertragen. "Er sieht voll gefressen aus", donnerte er und dass wird sich nun schleunigst ändern". Er zog die kleine, weiße Decke mit einem Ruck herunter und schrie:" Los aufgestanden, oder ich werde ungemütlich". Harald schlug entsetzt die Augen auf und blickte in die Augen eines wütenden Petrus. Sein Blick wanderte weiter und er sah in die freundlichen Augen von Petra. Er richtete sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen, gähnte herzhaft und fragte:" was ist denn los?" - "Das fragst du noch?", dröhnte Petrus. "Die Milchstraße wartet, aber zackig." Harald sprang auf, salutierte und schrie: "Jawohl, Herr Generalleutnant". - "In Ordnung, weggetreten." Petra warf ihm noch eine Kusshand zu, hakte sich bei ihrem Mann unter und im nächsten Augenblick waren sie verschwunden.

Harald flog in die himmlische Materialkammer. Dort besorgte er sich eine Zahnbürste, die so riesig war, dass er sie kaum zwischen seinen kleinen Beinen halten konnte. Er kam sich reichlich dämlich vor, wie er mit einer Zahnbürste zwischen den Beinen den Himmel durchquerte. Wenn er wenigstens eine Hexe gewesen wäre, dann hätten alle himmlische Wesen, mit viel Fantasie, eventuell die Zahnbürste für einen Besen halten können und sie hätten ihm jubelnd zugerufen. Doch stattdessen erntete er nur Spott und Gelächter. Er biss de Zähne zusammen und landete sicher auf der Milchstraße. Krachend ließ er die Bürste fallen. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Wenn er das nächste Mal schnell sein wollte, würde er diese Straße nicht mehr benutzen und sich zum Gespött der Leute machen. "okay, was war also zu tun", überlegte er. Er konnte langsam arbeiten und seine Kräfte schonen, dann würde er aber den halben Tag dafür brauchen, oder er arbeitete schnell, dann könnte er vielleicht eine Stunde eher fertig werden und er könnte sich dann noch etwas ausruhen, bis die Nachmittagsschicht anfing. Harald entschied sich für das schnelle Arbeiten. Er spukte in die Hände und machte sich eifrig ans Werk. Noch ehe die Sonne am höchsten stand, war es vollbracht, die Milchstraße glänzte. Der Wolkenmann schwebte heran. "Bist du fertig?". Harald nickte und viel erschöpft auf die Knie. "Tust du mir einen Gefallen? Bringst du für mich die Zahnbürste in die Materialkammer?" Jetzt nickte der Wolkenmann. "Wie war dein Date?", keuchte Harald. "Ganz hervorragend", antwortete der Wolkenmann. "Warte hier, ich bin gleich zurück". Er entschwebte mit der Bürste und fand einen schlafenden Engel, als er zurückkehrte. Sachte hob er ihn auf und brachte ihn zu seiner Schlafwolke, wo er ihn zudeckte und neben ihm wachte. Nach Ablauf einer Himmelsstunde, wachte Harald auf. Er blickte in das freundliche Gesicht des Wolkenmannes. "Hallo", sagte der Wolkenmann. "Hallo", erwiderte Harald. "Wie fühlst du dich?" - "Ich fühle mich so wohl". Harald streckte sich und sprang behände auf die Beine. "Ach", begann er. "Wie war noch mal dein Date?" - "Toll", antwortete der Wolkenmann. "Aber ich wäre dir doch dankbar, wenn du mich von diesen Punkten befreien könntest." - "Haben sie ihr nicht gefallen?" - "Doch schon, sie mochte sie. Aber ein richtiger Mann wäre ihr doch lieber." Harald nickte zustimmend. "Na dann", begann er. "Ran ans Werk. Ich besorge nur schnell Farbe und einen neuen Stern. Bin gleich wieder da." Kurze Zeit später saß er auf einem silbernen Stern, in einer Hand einen Eimer mit Farbe, in der anderen, eine Farbrolle. "Damit bist du im nu deine Punkte los, und du wirst wieder ein strahlendes Weiß haben." Mit diesen Worten ergriff er die Rolle und rollte, was das Zeug hielt. Nach einer Weile fiel ihm wieder sein Dilemma vom Vortag ein. Er wollte den Wolkenmann doch etwas fragen. Er räusperte sich und legte die Rolle zur Seite. "Sag mal Wolkenmann", begann er. "Kann ich dich etwas fragen?" - "Natürlich". - "Gestern beim Essen, da waren doch so viele Leute, ich meine Engel. Du weißt schon; Schutzengel, todbringende Engel, und so weiter. Sie haben alle etwas Besonderes an sich. Ich habe nichts, von alldem. Ich habe keinen Heiligenschein, ich hab auch nicht studiert, noch nicht einmal den Tod kann ich bringen und ich frage mich, wer bin ich eigentlich? Ich fühle mich wie ein halber Engel, aber ein halber wovon? Kannst du mir folgen?" - "Ja, ich denke schon", antwortete der Wolkenmann. "Du suchst nach Antworten, aber weißt du die Antwort auf deine Frage ist in dir, in deinem Herzen. Du brauchst keinen Heiligenschein, du kannst auch so beschützen. Denk doch nur an die beiden Kinder, deren Eltern sich an Weihnachten wieder versöhnt haben. Du hast die Eltern davor beschützt, sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen. Durch dich konnten sie wieder eine Familie sein. Du brauchst auch kein Jurastudium, um anderen zu ihrem Recht zu verhelfen, denn du hast einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und das Herz auf dem richtigen Fleck. Und den Tod willst du doch nicht wirklich bringen, oder?" Der Wolkenmann knuffte Harald scherzhaft in die Seite, schaute ihn an und sie brachen in schallendes Gelächter aus.

SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle

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