Ein Mann, der in Orleans einen Mord begangen hatte, befand sich auf der Flucht und hatte die Straße genommen, die nach Paris führte. Er war ein großer und furchterregend aussehender Mensch. Ein langer, schwarzer Mantel hing bis zu seinen Füßen herab und in seiner rechten Hand trug er einen Spieß. Sein Gesicht war mit Narben bedeckt. Es war Dezember, und in diesem Jahr war es besonders kalt, auch wenn nur eine dünne Schneeschicht die Felder bedeckte, die links und rechts neben ihn lagen. Hin und wieder ging er an Menschen vorüber, die in Lumpen gekleidet, erfroren am Wegesrand lagen.
Es war Heiligabend und er hatte gehofft, vor der Dunkelheit noch in Paris zu sein, wo er Unterschlupf finden könnte. Doch die blasse Sonne neigte sich dem Horizont zu und es begann zu dunkeln. Nein, heute würde er es nicht mehr schaffen. So musste er wohl die ganze Nacht durchwandern.
Die ersten Sterne blinkten auf und die schmale Mondsichel schwebte wie ein Boot am wolkenlosen Himmel. Da gewahrte er in der Ferne zu seiner Rechten, die dunkle Silhouette eines Waldes.
"Vielleicht gibt es dort irgendeine Behausung", dachte er. "Ein Bauerhaus, oder die Hütte eines Einsiedlers".
So beschleunigte er seine Schritte und bald konnte er die ersten Bäume erkennen.
Als er den Rand des Waldes erreicht hatte, wo ein zu Eis erstarrter Bach glänzte, meinte er ein wimmerndes Geräusch zu hören. Er blieb stehen und lauschte angespannt. Ja, wieder war es zu vernehmen. Es schien aus einem der Büsche zu kommen, welche vereinzelt die Landstraße säumten. Als er näher trat, gewahrte er ein Bündel Lumpen unter den kahlen Zweigen. Er bückte sich und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Ein Säugling lag darin eingewickelt. Langsam richtete er sich wieder auf und ließ seine Blicke umherschweifen.
"Irgendjemand muss es vor kurzem hier abgelegt haben", dachte er. Doch in der Dunkelheit gewahrte er niemanden. So stand er eine Zeitlang.
"Ja, es musste getan werden", ging es durch seinen Kopf. "Ich kann dich nicht retten. Und einen schmerzvollen Tod zu erleiden, wünsche ich selbst dir nicht."
Er hob seinen Spieß und wollte zustechen. Doch ihm war es, als hielt eine unbekannte Kraft seinen Arm zurück und er glaubte, eine Stimme zu hören, welche sprach: "Nein, tue es nicht!".
Langsam ließ er seinen Arm sinken. Ihm war nicht ganz wohl zumute. Denn er wusste, dass Geister und Gespenster überall lauerten. Er wollte schon davonlaufen. Doch dann, er konnte es sich nicht erklären, bückte er sich und nahm das Bündel, mit dem Kind darin, in seinen Arm. Er blickte wieder angestrengt um sich. War da nicht, dort wo der Weg eine Biegung machte, ein Gebäude zu sehen? Einen Augenblick überlegte er noch und ging dann darauf zu. Es war ein altes, kleines zerfallenes Bauernhaus, welches wohl mit einem Stall verbunden war, denn er hörte die Geräusche von scharrenden Füssen. Durch die Ritze der Türe gewahrte er einen schwachen Schimmer.
Er stieß sie mit seinem Fuß auf. Im Raum, welcher nur durch eine Fackel, die an der Wand hing, schwach erleuchtet war, saßen an einem Tisch ein Mann und eine Frau. Es waren Pierre und Jeannette. Ein offenes Feuer in der Ecke gab ein wenig Wärme. Mit angstvollen Augen sahen sie auf die dunkle Gestalt, welche im Türrahmen stand. Einen Augenblick sagte niemand etwas. Dann ging der Fremde auf sie zu und legte das Bündel, mit dem Kind darin, auf den Tisch.
"Hier, ich habe es draußen gefunden. Sorgt für das Kind."
Die Frau stand auf, ging um den Tisch herum und nahm das Bündel in ihren Arm. Lange betrachtete sie das Kind und auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln.
"Geh zum Brunnen", sagte sie zu Pierre, "und hole Wasser."
Und zum Fremden gewandt: "Wenn du müde bist, im Nebenraum steht ein Bett. Wir können hier übernachten. Und wenn du hungrig bist, wir haben noch etwas Brot, Käse und Milch. Mehr können wir dir nicht anbieten an diesem Abend."
Der Fremde schüttelte den Kopf.
"Hunger habe ich keinen. Doch ich bin müde."
Er blickte sie noch einen Augenblick durchdringend, als wolle er ihnen mit einem letzten Blick noch Angst einflössen und ging dann in das andere Zimmer.
*
Zur gleichen Zeit waren drei Juden, Elizar, Joshua und Abraham auf der Flucht. Sie hatten Paris in Todesangst verlassen müssen. Der aufgehetzte Pöbel hatte ihre Häuser und Lager in Brand gesetzt und viele ihrer Angehörigen erschlagen. Nur das Notwendigste konnten sie mitnehmen und das, was sie am Leibe trugen. Den ganzen Tag waren sie mehr gelaufen als gegangen. Jetzt war die Nacht hereingebrochen und sie waren am Ende ihrer Kräfte.
"Diese Nacht müssen wir es noch schaffen", sagte Elizar.
"Bis nach Orleans ist es nicht mehr weit. Dort wird die Lage nicht so schlimm sein."
Abraham nickte. "Ja. Ich hoffe es. Doch lasst uns einen Augenblick ausruhen. Zum Glück schützten uns die Kleider vor der Kälte."
Er stellte den Beutel, in dem sich einige Schmuckstücke und Goldene Ketten, sowie Goldmünzen befanden, auf den Boden.
"Lasst uns beten", sagt er. "Denn die Nacht ist angebrochen."
Und er sprach mit seiner tiefen Stimme: "Gepriesen seist Du, HaSchem, unser G-tt, König der Welt, der die Bande des Schlafes sich auf meine Augen herniedersinken lässt und den Schlummer auf meine Augenlider. Möge es Dir wohlgefällig sein, HaSchem, mein G-tt und G-tt meiner Vorfahren, dass du mich ruhen lässt in Frieden und wieder aufstehen zum Frieden, dass mich nicht ängstigen Gedankenbilder, böse Träume und schlimme Regungen der Seele, dass meine Lagerstätte eine tadellose sei vor deinem Antlitze; erleuchte mein Auge, dass es nicht zum Tode entschlafe, denn Du bist es, der Licht gibt dem Augapfel. Gepriesen seist Du, HaSchem, der erleuchtet die ganze Welt mit seiner Herrlichkeit."
Er schwieg und wischte sich die Tränen aus seinen Augen. Auch die anderen weinten. So standen sie eine Zeit und dachten an jene, welche man gewaltsam von ihnen gerissen hatte.
Plötzlich wies Elizar mit seiner Hand zum Rand des Waldes hin. "Seht, ist das nicht Gebäude, das dort steht?"
"Ja", sagte Abraham. "Lasst uns hingehen. Vielleicht finden wir dort einen Platz für die Nacht."
Er nahm den Beutel vom Boden und sie gingen mit müden Schritten darauf zu.
"Zwar ärmlich, doch ein Zuhause", kam es Elizar schmerzhaft zum Bewusstsein, als sie vor der Türe standen. Er klopfte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich öffnete. Pierre blickte sie fragend an.
"Verzeiht", sagte Joshua, " wenn wir an diesem Abend zu so später Stunde stören. Wir sind auf dem Weg nach Orleans und bitten um ein Nachtlager. Und um ein Stück Brot. Wir wollen es nicht umsonst."
Pierre nickte und bat sie einzutreten. Jeannette saß mit dem Kind im Arm am Feuer. Sie begrüßte die drei mit einem Lächeln.
"Setzt Euch", sagte Pierre. " Der Nebenraum ist schon belegt, doch im Stall, wo es Heu gibt, könnt Ihr die Nacht verbringen. Zum Essen können wir Euch nur Brot und Wasser anbieten. Die wenige Milch braucht das Kind."
Joshua nickte und er fühlte wieder Tränen in seinen Augen.
"Ihr gebt uns mehr, als wir erhofften."
Er blickte zu Jeannette mit dem Kind.
"Dürfen wir es anschauen?"
Sie nickte und Mutterstolz lag in ihren Augen. Die drei traten näher. Lange betrachteten sie es.
"Ja", bemerkte Abraham, "heute feiert Ihr Christen die Geburt eines Kindes, das ihr Jesus nennt. Wir wünschen Euch eine frohe Weihnacht!"
Pierre und Jeannette waren erstaunt, ob der Worte und begriffen sie nicht. Doch sie schwiegen und wunderten sich nur.
Schon in der Frühe des nächsten Morgen erhoben sich die drei Juden. Sie dankten Pierre und Jeannette, welche auch schon wach waren.
"Hier", sagte Elizar zu Pierre, "nehmt diese Goldstücke. Dieser wollte sie nicht annehmen, doch Elizar drückte sie ihm in die Hand.
"Ihr könnt sie gebrauchen. Denkt an Euer Kind."
Als die drei um die Biegung verschwunden waren, ging Pierre ins Nebenzimmer, um zu schauen, ob der Mann schon wach war. Als er zurückkam, blieb er an der Türe stehen.
"Was ist?" fragte Jeannette.
"Er ist tot. Komm."
Da lag er regungslos auf dem Bett. Auf seinem mit Narben bedeckten Gesicht, lag ein Lächeln, welches seine furchterregenden Züge veredelt hatte.
"Ich werde versuchen ein Grab für ihn zu schaufeln", sagte Pierre.
Am Horizont erhob sich strahlend die Sonne.
***
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