Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
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Die Weihnachtsgans

© Irmhild Käding

Nun war er da, der Augenblick, den Renate gefürchtet hatte: "Was ich am ersten Weihnachtstag essen will? Weihnachtsgans! Was denn sonst?"

Für Stephan stand das fest. Felsenfest. Er hatte überhaupt nicht überlegen müssen. Weihnachten gibt's Weihnachtsgans. Wie immer.

Eine Gans wäre so ziemlich das Letzte gewesen, was Renate, noch nach Kartoffelsalat und Würstchen, als passendes Weihnachtsessen eingefallen wäre. Eine Gans! So ein riesengroßes, weißes, fedriges Ungeheuer, das sicher überhaupt nicht in den Ofen passte. Aber gab es denn nicht Gänseteile? Sie konnte doch auch Putenschenkel kaufen ...

Stephan konnte sich mit dieser Idee nicht anfreunden. "Keine ganze Gans? Aber die gehört doch nun mal zu Weihnachten. An die habe ich gleich gedacht, als ich unseren neuen Backofen zum ersten Mal gesehen habe. Wenn du meinst, wir sollen noch jemanden einladen..."

"NEIN!" hatte sie geschrieen. "NEIN! Wir laden dieses Jahr niemanden ein!"

"Nun reg' dich doch nicht auf, Schatz! Ich dachte ja nur, wenn eine Gans zu viel für uns beide ist - aber du kannst doch die Reste auch einfrieren. Ich würde ja dieses Jahr auch lieber alleine feiern. Schließlich ist deinen Eltern die Reise zu anstrengend und meine sind weg, da haben wir das erste Weihnachten dann ganz für uns. Ist mir auch viel lieber so."

Nachts lag Renate noch lange wach. Was würde Stephan wohl sagen, wenn sie ihm beichten würde, dass sie noch nie eine Gans gegessen, geschweige denn zubereitet hatte? Würde er es überhaupt glauben? Schon häufig hatte er von diversen, von seiner gesamten Verwandtschaft zubereiteten Weihnachtsgänsen geschwärmt. Renate hatte immer mit leichter Schadenfreude zugehört, waren die doch selber Schuld, wenn sie sich so etwas aufluden. "Ich nicht!" hatte sie immer im Stillen gedacht. Wie kam sie nur mit Anstand aus dieser Situation wieder heraus?

Beim Frühstück hatte Stephan noch beiläufig gefragt, ob sie Gänsebraten überhaupt möge. "Doch, ja... ." - "Dann ist es ja gut."

Und damit war das Thema für ihn erledigt.

Zweiter Advent, dritter Advent, der vierte Advent nahte und damit auch das Weihnachtsfest. Und die Gans.

Renate hatte verzweifelt versucht, von Freundinnen und Bekannten Tipps für die Zubereitung einer Weihnachtsgans zu erhalten. Aber entweder mochten sie keine oder kamen gleich mit Fremdwörtern und Fachausdrücken an, schwärmten davon, wie einfach es doch sei. Das perfekte Weihnachtsessen. Oder furchtbar. Wahre Schauermärchen wurden ihr aufgetischt, aber auch komische Zwischenfälle. Aber aus all' diesen Erzählungen konnte Renate sich kein wirkliches Bild machen. Alle waren Weihnachten beschäftigt. Keine wollte sich von ihr zum Weihachtsganszubereiten einladen lassen. Warum konnte Stephan nicht über Nacht zum Vegetarier werden?

Ihre Kochbücher halfen auch nicht weiter. Sie wollte nur eine Gans zubereiten, eine ganz einfache Weihnachtsgans, aber über dieses Gericht schwiegen sie sich aus. "Gänsehals" fand sie im Inhaltsverzeichnis und "Gänseklein". Aber dann kamen auch schon "Gänseschmalz, Geflügelsalat, gedeckter Apfelkuchen, Grießbrei und Grünkohl". Auch unter "W" wie "Weihnachtsgans" war nichts zu entdecken. Endlich fiel Renate ein altes Kochbuch ein, das sie ihrer Mutter entführt hatte, und über das Stephan gespottet hatte: "Da steht aber wirklich alles drin! Sogar, wie man Kartoffeln schält oder Tee kocht."

Ermutigt schlug sie das alte Schätzchen auf. Das Inhaltsverzeichnis war zwar mit der Zeit verloren gegangen, einige Seiten auch, aber sie schlug es an der am wenigsten benutzten Stelle auf und fand auch bald "Geflügel", wo sie nach diversen Entengerichten, Hähnchen, gefüllter Taube und Fasan auch den so lange gesuchten Gänsebraten fand. Mit neuer Energie stürzte sich Renate auf das allwissende Kochbuch. Endlich hatte sie ihn! "Eine bratfertige Gans wird gewaschen..."

Nach diesen genauen Angaben würde sie es vielleicht doch schaffen. Zum ersten Mal war Renate etwas erleichtert, da fiel ihr Blick auf "Diverse Füllungen: Maronen, Äpfel, Kartoffeln..." - Himmel, gefüllt werden musste das gute Stück auch noch?! Und was kam dann noch nach den Füllungen? "Am besten reiche man dazu Rotkohl mit Salzkartoffeln." Stimmt. Außer der Gans musste es ja noch etwas geben. Was mochte Stephan denn besonders gerne? Gemüse kochen konnte sie ja.

Während Renate noch gedankenverloren im Kochbuch blätterte, fiel ihr plötzlich eine fettgedruckte Überschrift auf: "Vorbereiten des Geflügels". Neugierig geworden las sie weiter und erfuhr zu ihrem Schrecken, dass Geflügel nicht nur gebraten, sondern zuerst mal bratfertig gemacht werden musste. "Rupfen, ausnehmen, abflämmen ..." las sie mit Entsetzen.

Nein! Egal, was Stephan sagte, es kein von ihr zubereitetes Weihnachtsgeflügel. Sollte er sich doch was bei seinen Verwandten organisieren - oder er konnte seine Gans selber rupfen! Wahrscheinlich musste man das Biest auch noch selbst fangen und ihr den Hals umdrehen! Gab es da nicht diese Weihnachtskarpfen, die in Badewannen lebten? Nein, keine Weihnachtsgans! Sofort heute abend würde sie es ihm sagen!

Die Aussprache fiel ins Wasser, da Stephan sie anrief und sie spontan zum Essen mit Arbeitskollegen einlud. Da war Smalltalk und kein Gänsegespräch angesagt. Und endlich wieder zu Hause angekommen, fiel sie nur noch ins Bett.

Allerdings schlief sie sehr unruhig. Im Traum stand sie in ihrer Küche und rupfte eine Gans. Sie rupfte und rupfte, aber die Federn wuchsen nach, schneller und schneller. Die ganze Küche füllte sich mit Federn. Sie bekam kaum noch Luft. Die Federn türmten sich um sie auf, sie versank darin - bis Stephan sie rettete. "Renate! Aufwachen! Hör' doch auf, das Kissen zu zerrupfen!" - "Was?" Schlaftrunken bewegte sie ihre Hand und fühlte immer noch überall Federn. War sie noch nicht wirklich wach? Sie kämpfte sich hoch und schaute sich um, denn inzwischen hatte Stephan das Deckenlicht eingeschaltet. Ihr Kopfkissen war fast leer, die Federn bedeckten das ganze Bett. Stephan lachte. "He, du musst doch nicht, bloß weil dir das Gänserupfen entzogen worden ist, dein ganzes Kissen zerreißen und die Federn überall verteilen!" - "Keine Gans rupfen?" Renate konnte ihr Glück noch nicht ganz fassen. "Wirklich nicht?" - "Quatsch! Oder meinst du, dass wir uns nach dem Essen heute Abend keine gerupfte Gans mehr leisten können? Ich wollte eine kaufen, nicht fangen. Und jetzt leg das Kissen aus dem Bett, hier, nimm die Decke dafür, damit wir wenigstens noch etwas Schlaf bekommen."

Sagte es, machte das Licht aus, drehte sich um und schlief, während Renate noch ziemlich lange wach lag.

Als sie am nächsten Abend in die Küche kam, lag auf der Arbeitsplatte vor dem Fenster ein großes Paket. Konnte Stephan nicht bis Weihnachten seine Geschenke verstecken? Sie konnte ja kaum drüber wegsehen. Was mochte da wohl drin sein? Groß, eckig, Weihnachtspapier - neugierig ging sie näher ran. "Nun mach schon auf!" Sie schreckte zusammen, als plötzlich Stephans Stimme hinter ihr ertönte. Aufmachen? Hatte sie irgendeinen Gedenktag vergessen? So kurz vor Weihnachten?

"Nun mach schon auf", wiederholte Stephan. "Es ist kein Weihnachtsgeschenk, sondern etwas, das du dringend brauchst. Die hatten aber kein anderes Papier."

Gehorsam packte Renate das Paket aus. Ein riesengroßer Topf kam zum Vorschein. "Toll. Danke. Ich wollte schon immer so einen haben! Total klasse für Besuch, wenn ich Auflauf machen will!"

"Auflauf?" Stephan schaute sie entgeistert an. "Das ist doch der Bräter für die Gans! Ich habe doch gemerkt, dass du etwas auf dem Herzen hattest, und dann fiel es mir ein: Wir hatten keinen Bräter! Das hättest du mir aber auch sagen können. Nun sag schon, Schatz, freust du dich?" - "Ja. Das du daran gedacht hast!" Stephan war ja doch ein lieber Kerl. Hatte er gemerkt, dass ihr das Gänseabenteuer nicht geheuer war. Aber so ein teuerer Topf vor Weihnachten - ach was, egoistisch war er! Jetzt konnte sie ihm nicht mehr sagen, dass es keine Gans geben würde. So ein egoistischer Schuft!

"Schatz, habe ich was falsch gemacht? Hast du vielleicht schon selbst einen gekauft? Stimmt was nicht? Du warst schon heute Nacht so seltsam?"

Nichts stimmte. Überhaupt nichts. Warum hatte sie ihm nicht schon vor Wochen klipp und klar gesagt... - diese Gans! Und er sah so traurig aus, wie er da vor dem leeren Topf stand.

"Diese Gans! Die... - du, wie möchtest du sie eigentlich? Ich meine so Füllung und Beilagen. Wo du uns doch diesen schönen Topf..." - "Rotkohl und Klöße. Oder esst ihr in deiner Familie was anderes dazu?" Sie schüttelte den Kopf. "Und Füllung? Weißt du, am liebsten mag ich Apfel, aber falls du was anderes willst, das überlasse ich ganz dir." "Apfel hört sich gut an." Wenigstens keine Maronen, wie immer man an die kommen mochte. Äpfel mussten nur geschält und entkernt werden. "Also... - ich besorge dann die Zutaten. Wenn du vielleicht die Gans besorgen könntest? Ist doch Männersache, oder?" Stephan sah sie wieder so komisch an, aber er stimmte zu. "Zerlegen werde ich die fertige Gans natürlich auch", versprach er noch und hatte so alle seiner Meinung nach vorhanden sein könnenden Probleme erledigt.

Renate wurde langsam optimistischer. Schließlich würde sie das idiotensichere Kochbuch, den großen Topf und eine bratfertige Gans haben. Trotzdem ertappte sie sich dabei, wie sie zwei Tage vor Heiligabend beim Friseur die "Sorgenseiten" der Zeitschriften studierte. Was die Menschen für Probleme hatten: Krach mit dem Freund, er liebte sie nicht, sie wollte aber heiraten, Mütter hatten Probleme mit Vätern und Kindern, "ich bin zu dick / zu dünn / zu klein / zu groß / hässlich" - was für Lappalien. Keiner hatte wirkliche Probleme. Keine fragte Frau Erika um Rat, wie man einen weihnachtlichen Gänsebraten umgehen könnte.

Heiligabend war schön, gemütlich, mit liebevoll ausgesuchten Geschenken. Da sie in der Mitternachtsmesse gewesen waren und hinterher noch mit Freunden in einer Kneipe gefeiert hatten, wurde Renate am ersten Feiertag erst gegen 14 Uhr wach. Jetzt aber schnell in die Küche! Die Gans wartete bereits im Gefrierfach. Sie begann damit, die Äpfel für die "einfache Apfelfüllung" zu schälen, als ihr einfiel, dass der Vogel ja auch noch auftauen musste. Das Gefrierfach war leer. Keine Gans zu sehen. Viel anderes auch nicht, aber was passte schon noch rein, wenn da eine Gans - egal, wo war das Tier bloß?

Schließlich fand Renate ihren Braten, mit einem Trockentuch abgedeckt, ganz hinten auf der Arbeitsplatte. Leider noch nicht vollständig aufgetaut, obwohl sie doch sicher schon seit gestern Abend da lag. Sie versuchte, die Gans zu hypnotisieren. Schließlich sollte sie ja noch für "Backzeit: 3 1/2 Stunden" in den Ofen. Und vorher musste noch die Füllung rein, und, und, und.

"Fröhliche Weihnachten, Liebling! Was machst du denn jetzt schon in der Küche?"

Stephan stand hinter ihr und warf einen fachmännischen Blick auf Gans und Äpfel. "Toll, du hast ja schon angefangen. Dafür hast du gleich viel Zeit. Die Gans brät schließlich ganz alleine."

Renate konnte das nicht glauben. Stand im Kochbuch nicht etwas von "begießen, einstechen und ausbraten"?

"Hoffentlich weiß die Gans das auch!" seufzte sie. Aber wenigstens konnte sie die Geschichte ja schon von der komischen Seite sehen. Allerdings musste sie sich jetzt darum kümmern, Stephan wieder aus der Küche zu entfernen. Wenn der sehen würde, wie "fachmännisch" sie mit dem Vogel umging...

Aber der dachte gar nicht daran zu gehen, sondern schmierte sich in aller Ruhe einige Brote. Auch gut. Sollte er wenigstens eine ordentliche Mahlzeit an diesem Tag bekommen. Wenn er satt war, war eine verunglückte Gans nicht mehr so schlimm.

Renate warf einen beiläufig aussehen sollenden Blick ins Kochbuch. "Der bratfertigen Gans sind die Keulen und Flügel mit einem Faden am Körper zu befestigen (s. Abb. S. 157)." Folgsam blätterte Renate vier Seiten zurück und las, dass die Gans erst einmal "kurz gewaschen und gut abgetrocknet" werden musste. Ab mit dem Braten unter den Wasserhahn. Das warme Wasser taute sicher auch noch weiter auf. Prima. "Ich geh mal eben telefonieren" sagte Stephan und verschwand endlich. Das war die Chance, noch mal schnell zu checken, wie die Gans zusammengebunden werden sollte. Was stand da unter dem Bild? "Dem ausgenommenen Vogel den Hals nach hinten binden... Flügel zusammenbinden... Hals hält... Bauch quer einschneiden.. Beine in den Einschnitt stecken..." - quer einschneiden? Ihre Gans war doch schon längs aufgeschnitten eingetroffen. Und nun?

Ach, falscher Alarm. Das war ja die Taube. Gans: "eine lange Nadel nehmen... Bindfaden..." - und wo sollte sie jetzt eine lange Nadel hernehmen? Als Renate die Küchenschublade auskippte, stand Stephan plötzlich wieder hinter ihr. "Rate mal, mit wem ich eben gesprochen habe!" - "Stopfnadel zum Gänseauffädeln - ne: zusammenbinden!" antwortete Renate. Stephan sah sie kopfschüttelnd an. "Die liegt doch in deinem Wollkorb. Hast doch vorgestern die Jacke für deinen Bruder zusammengenäht. Ich hole sie eben."

Das Zusammenschnüren war gar nicht so einfach. Sie hätte doch eine Nadel mit Spitze kaufen sollen. Aber wer konnte denn ahnen, wozu diese Nadel missbraucht werden würde? Als die Gans der Zeichnung ähnelte, warf sie schnell einen Blick in das Rezept. "Gans innen und außen salzen." Wäre vor dem Verschnüren einfacher gewesen. Sie streute einige Salzkörner ins Innere des Vogels, verteilte außenrum etwas mehr Salz. Jetzt nur noch die Füllung rein. Gut, dass sie das fast blind machen konnte. Sie wollte gar nicht wissen, wie es im Innern einer ungaren Gans aussieht.

Nachdem sie den Bräter mit Fett eingestrichen hatte, las sie, dass der zugenähte (Hilfe!!!) Vogel in eine "fettfreie Pfanne mit etwas Wasser" kommen sollte. Also zuerst die Gans zunähen, dann den Bräter wieder ausspülen, abtrocknen und Vogel und etwas Wasser hinein, Deckel drauf. Der Deckel rutschte hin und her. Renate hatte Mühe, ihn auf dem Weg zum Backofen nicht zu verlieren.

Endlich war der Braten glücklich im vorschriftsmäßig vorgeheizten Backofen auf dem unteren Rost verstaut. Renate atmete auf. Stephan erschien in der Küche, warf einen Blick in den Ofen und begutachtete ihr Meisterwerk. "Sag mal, musst du den Deckel nicht abnehmen? Die Gans soll doch knusprig werden." Ein schneller Blick ins Kochbuch, während Stephan eine Hand voll Weihnachtskekse aus der Dose verschwinden ließ. Stimmt. Von Deckel stand da nichts. Also runter damit. Sah irgendwie besser aus, so ohne Deckel.

Stephan suchte immer noch in der Küche. "Wo hast du denn die Innereien hingetan? In den Kühlschrank? Meine Schwester macht da immer was ganz Leckeres mit."

Innereien? "Ich dachte, du hättest eine ausgenommene Gans gekauft?" - "Die lagen doch in einem Säckchen in der Gans drin. Habe ich extra drauf geachtet. Wo sind sie denn? Rausgefallen?"

"Die habe ich doch nicht etwa eingenäht?" Von eingepackten Innereien stand in ihrem Kochbuch aber nichts. Ofen auf, Gans raus, Naht öffnen, matschige Apfelmasse raus - richtig, da war ja ein kleiner Plastikbeutel. Und deswegen nun der ganze Aufwand. Raus damit, Äpfel wieder rein. Naht schließen, sah nicht mehr so gut aus, war ja auch nicht für die Ewigkeit gedacht. Beim Bewegen der Gans löste sich die kunstvolle Verschnürung von Beinen und Flügeln fast auf, aber egal, die Gans lag im Bräter im Ofen und briet nun wieder brav vor sich hin, während Renate mit Stephans Hilfe das schmierige Chaos in der Küche beseitigte. Dann verschwand er mit dem Rest der Kekse.

Nun mussten nur noch Rotkohl und Knödel zubereitet und die Gans begossen werden. Aber womit? Sie hatte einige Schwierigkeiten damit, den Bratensud, wie im Kochbuch angegeben, aus dem Bräter zu schöpfen. Da war kaum was drin. Hätte sie doch mehr Wasser nehmen sollen?

Während sie noch das Kochbuch nach der rettenden Idee durchsuchte, erschien schon wieder Stephan auf der Bildfläche. "Sag mal, habe ich eine so magere Gans gekauft? Sonst sprudelt das Fett doch immer wie ein Springbrunnen da raus. Gib mir doch noch mal die lange Rouladennadel!" Stephans Anstechen der Gans sorgte wirklich dafür, dass genügend Flüssigkeit zum Begießen aus der Gans lief, doch vor lauter Gänseaufregung vergaß Renate den Rest des Essens. Erst als der Timer zum zweiten Mal klingelte und die Gans nun nur noch eine halbe Stunde brauchte, fiel Renates Blick auf die Arbeitsplatte, auf der noch friedlich das Rotkohlglas und die Bestandteile des Knödelteiges auf sie warteten. Nein, wie konnte das nur geschehen! Was war mit der freien Zeit geschehen, die Stephan ihr versprochen hatte?

Hektisch kippte Renate den Rotkohl in den Topf. Quatsch, da mussten doch vorher noch Zwiebeln drin anbräunen! Also, Rotkohl wieder raus, Fett rein, eine kleine Zwiebel schälen und würfeln, rein in den Topf! Noch mal kurz einen Blick auf die Gans - sieht gut aus. Nun den Knödelteig anrühren - aus dem Topf stieg Rauch auf! Na ja, die Zwiebeln waren etwas sehr schwarz geworden! Egal, Rotkohl drauf und umrühren. Würde schon nicht auffallen. Abgemessenes Wasser in eine Schüssel, Knödelteigpulver rein, rühren, bis eine gleichmäßige Masse entstand. Knödel formen - nein, erst noch 15 Minuten den Teig ruhen lassen! Ziemlich gut ausgeknobelt von der Versuchsküche, hatte dann das Wasser doch auch Zeit zu kochen. Rotkohl umrühren. OK. Der Timer klingelte. War die Gans wirklich schon fertig? Ach was, ein paar Minuten mehr würden ihr schon nicht schaden. Verbissen fing Renate an, aus der Teigmasse Knödel zu formen. Warum hatte sie bloß keine fertigen im Kochbeutel gekauft? Egal, die mussten jetzt fertig werden. Das Wasser kochte schon. Knödel rein - Hilfe, die sollten doch in Salzwasser! Also schnell noch eine Handvoll Salz zugeben, noch einen Teelöffel Salz zum Rotkohl - da stand Stephan schon wieder in der Küche uns strahlte sie an. "Hmm, riecht das gut hier! Ist die Gans schon fertig?" - "Gerade eben." Die paar Minuten...

Stephan schaltete den Ofen ab und beförderte den Bräter in die Spüle. Es roch wirklich gut. Renate atmete auf. Ihre Gans schien gelungen zu sein. Stephan kämpfte inzwischen mit dem großen Messer. Bei seinem Vater hatte das immer einfacher ausgesehen. Und wie das schmierte. Hatte er da einen großen Fettfleck auf seinem guten Hemd? Renate kümmerte sich inzwischen um die Knödel und achtete glücklicherweise nicht auf ihn. Allerdings stand der Bräter da, wo sie die Knödel abschütten wollte. Also würde sie erst mal den Tisch decken. Doch als sie ins Wohnzimmer kam (Stephan hatte diesen Raum als einzig passenden für ein weihnachtliches Gänseessen angesehen), war der Tisch schon fertig gedeckt. Mit dem guten Geschirr. Sogar Wein und Kerzen standen auf dem Tisch. Renate war gerührt. Als sie in die Küche zurückkam, war Stephan verschwunden, die zerlegte Gans lag auf einem Tablett im Backofen, ein großer Teil noch unzerlegt im Bräter, der nun auf der Arbeitsplatte stand. Schnell entfernte Renate die Knödel aus dem Wasser, wobei ihr einfiel, dass sie das ja auch mit einem Schöpflöffel gekonnt hätte. Nun waren sie etwas weich. Aber egal: in die Schüssel damit, den Rotkohl in die nächste und beide Schüsseln ins Wohnzimmer auf den Tisch. Danach holte sie die Gans und stellte sie zwischen die Beilagen. Mit dem Weihnachtsbaum im Hintergrund sah das sehr festlich aus. Ihre erste Weihnachtsgans! Schade, dass sie Stephan das nicht erzählen konnte.

Dieser kam und sah irgendwie verändert aus. Warum? Doch bevor sie länger darüber nachdenken konnte, hatte er ihr schon ein großes Stück Gans auf ihren Teller gelegt, Klöße und Rotkohl daneben drapiert und sich selbst auch etwas genommen. Dann hob er sein gefülltes Weinglas und prostete ihr zu: "Auf unser erste gemeinsames Weihnachten ganz alleine! Und auf dich, die du so tapfer gekocht hast!" Beinahe kamen ihr die Tränen. Sie rührte in ihrem Rotkohl herum. "Hmm, die Gans ist dir ausgezeichnet gelungen!" sagte Stephan. "Probier' doch endlich mal!" Renate schnitt ein Stück Gans ab und spießte es mit ihrer Gabel auf, probierte es vorsichtig. Stimmt. Lecker. Hätte sie gar nicht gedacht - schnell noch ein zweites Stück testen. Auch gut. Sie strahlte Stephan an, doch dieser sah ziemlich überrascht aus. "Ist was?" fragte sie. "Fehlt was?"

"Nö, fehlen tut wohl nichts. Hast du schon die Knödel und den Rotkohl probiert?" - "Das Angebrannte sind nur Zwiebeln. Schmeckt man das wirklich?" - "Ach. Teste doch mal selbst!" Beherzt nahm Renate einen großen Bissen Rotkohl mit Klos, kaute und erschrak furchtbar. Warum war das denn so süß? Sollte sie etwa Zucker und Salz verwechselt haben? Tapfer schluckte sie die seltsame Mischung herunter und war den Tränen nahe. Ihr mit so viel Liebe gekochtes Weihnachtsessen verdorben!

Stephan kam mit zwei neuen Tellern und Brot zurück. "Ist doch nicht so schlimm. Essen wir eben Gänsebraten mit Apfelfüllung und Brot. Schmeckt auch gut. Aber im Januar gehst du mal bei meiner Mutter vorbei und lässt dir beibringen, wie man Konserven aufwärmt. Weihnachtsgänse kannst du ja nun!"

Renate verschlug es die Sprache.

SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle

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