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Weihnachtszeit© Kea RahmannDie Tage vor Weihnachten
Die Schaufenster waren festlich dekoriert und Lichterketten verliefen von einer Seite der Straße zur anderen. Menschen drängten sich auf den Straßen. Von ihnen verschwanden hier und dort einige in eh schon überfüllte Geschäfte oder blieben an einer der vielen Buden des Weihnachtsmarktes stehen. Ein einziges Stimmengewirr war zu hören, aus dem man das Lachen von Kindern und noch so manches Anderes heraushören konnte, wenn man sich nur konzentrierte. Auch lagen die Gerüche von vielen, verschiedenen Lebensmitteln in der Luft. An einer Bude konnte man frische Berliner kaufen, an einer anderen dufteten Zimtsterne vor sich hin und für diejenigen, die lieber herzhaft aßen, gab es bei einem anderen Stand eine Bratwurst oder Pommes. Das alles war normal für die Tage vor Weihnachten. So war es auch die letzten sechs Jahre gewesen, in denen ich in dieser Stadt lebte. Am Anfang war es noch sehr beeindruckend, die vielen Leute, die ganzen Gerüche, die einem das Wasser im Mund zusammen laufen ließen und all die verschiedenen Stände, an denen man so vielen tolle Sachen kaufen konnte. Das hatte ich nicht gekannt und alles hatte so furchtbar schön ausgesehen. Natürlich tat es das jetzt auch noch. Allerdings war ich nicht mehr so naiv zu glauben, dass die Geschäfte darum wetteiferten, dass ihre Schaufenster am besten aussahen, nur weil sie den Leuten eine Freude machen wollten. Nein, schnell hatte ich erkennen müssen, dass alle so viel Geld machen wollten, wie es ihnen nur möglich war. Die Schönheit der Dinge sollte hauptsächlich nur die Kunden anziehen. Alles andere war unwichtig, es hieß nur Geld, Geld und nochmals Geld. Das war eine von zwei Sachen, die ich an Weihnachten nicht mochte. Die andere waren die Geschenke. Gut, das stimmte nicht ganz, es gefiel mir legendlich nicht, dass für die meisten Menschen Weihnachten bedeutete, Geschenke zu bekommen. Beschenkt zu werden ist schön, ohne Zweifel, wer freut sich nicht, wenn ihm ein tolles Geschenk gemacht wird? Schließlich bedeutet das ja, dass man demjenigen, von dem man es bekommen hat, wichtig ist, dass dieser einen mag. Aber das sehen viele Menschen schon nicht mehr. Für sie ist es selbstverständlich zu Weihnachten Geschenke zu bekommen, am besten so viele wie möglich.
Immer noch in Gedanken versunken setzte ich meinen Weg durch die Menschenmassen fort. Für mich würde Weihnachten immer etwas Besonders bleiben. Das war mir klar. Genauso wusste ich, dass ich meine eigenen Vorstellungen von einem Weihnachten hatte, das ich mochte. Zu einem schönen Weihnachtsfest gehörte meiner Meinung nach mit den Menschen zu feiern, die einem etwas bedeuteten. In einem kuschelig warmen Wohnzimmer zusammen zu sitzen, heißen Tee oder Kakao zu schlürfen, selbst gemachte Plätzchen zu verdrücken, sich etwas zu erzählen, gemeinsam zu lachen und sich dabei bewusst zu werden, wie schön es ist, dass man Familie und Freunde hat! Das war für mich Weihnachten. Außerdem hatte ich irgendwann damit angefangen, an einem der letzten Vorweihnachtsabende durch die Stadt zu schlendern und all die Schönheit zu genießen, für die viele Andere schon lange den Blick verloren hatten. Diesen Spaziergang machte ich jetzt gerade. Auch wenn mir inzwischen schon recht kalt war, genoss ich den Schnee, der schon seit einiger Zeit wieder vom Himmel rieselte. Weihnachten ohne Schnee und Kälte war unvorstellbar. Es gehörte einfach dazu. Dieses Weihnachten würde wohl anders werden, kam mir wieder etwas traurig in den Sinn. Die Großmutter meines besten Freundes Fu, inzwischen war sie auch irgendwie meine Oma geworden, war auf die Idee gekommen, dass wir über die Feiertage ja wegfahren könnten. Sie war davon ganz Feuer und Flamme. Fu war nicht so ganz begeistert gewesen und mir gefiel der Gedanken überhaupt nicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass aus dem gemütlichen Beieinandersitzen nichts werden würde. Eigentlich hatte Oma vorgehabt in eine Gegend zu fliegen, wo es wärmer war. Davon hatten Fu und ich sie aber zum Glück noch abbringen können. Weihnachten ohne Schnee? Das kam auch für Fu nicht in Frage. Er liebte Schneeballschlachten und Schlittschuhlaufen. Inzwischen war wir beide 16, aber er freute sich über Schnee immer noch wie ein zehnjähriger. Jetzt fuhren wir in die Berge. Dafür war Fu leicht zu begeistern gewesen. Ich musste schmunzeln, als ich an seinen Gesichtsausdruck dachte, als Oma diesen Vorschlag machte. Er hatte über das ganze Gesicht gestrahlt. Da kam für unser Spielkind zu den Schneeballschlachten und zum Schlittschuhlaufen noch Skifahren und Rodeln dazu. Das hatte er unmöglich ablehnen können. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Auch mir gefiel der Gedanken an einen Skiurlaub. Aber ausgerechnet über Weihnachten? Damit konnte ich mich nicht so wirklich anfreunden. Zu Hause zu feiern gehörte für mich irgendwie auch dazu. Na ja, was solls, dachte ich jetzt, Spaß würde ich auf jeden Fall haben und vielleicht würde es ja doch ein Weihnachten nach meinen Vorstellungen werden. Ich warf noch einen letzten Blick in das Schaufenster, vor dem ich lächelnd stehen geblieben war und machte mich dann zurück auf den Weg zu der Wohnung von Fu und mir. Hinter mir im Schaufenster fuhren immer noch die verschiedensten Steifftiere mit einem Skilift, brausten auf Schlitten einen Berg hinunter und liefen in einer Acht Schlittschuh. Es war schon wirklich erstaunlich, was sich Leute ausdachten um an das Geld anderer zu kommen. Dennoch, dieses Bild blieb mir im Gedächtnis und sorgte dafür, dass ich mich langsam aber sicher auf den bevorstehenden Urlaub zu freuen begann.
Die Lawine
"Oh man, Oma. Wie lange brauchst du denn noch?", rief Fu zum wiederholten Male durch die halbe Villa. Ich zweifelte nicht daran, dass er wieder dieselbe Antwort bekommen würde, wie die letzten Male auch. "So lange wie es eben dauert!", schallte es vom Obergeschoss hinunter in die Eingangshalle. Das war so klar. Oma gab bei solcherlei Sachen nie eine konkrete Zeitangabe aus dem einfachen Grund, dass man sie nicht auf irgendetwas, was sie gesagt hatte, festnageln konnte, wenn sie es nicht schaffte. Ich gab zu, normalerweise konnte ich es ihr nicht verübeln. Fu war dafür bekannt, dass er anderen Leuten stundenlang die Ohren vollnörgeln konnte. Ein ‚Du hast aber gesagt,…' machte sie dabei immer besonders gut. "Sen?" Ich blickte zu Fu hinüber. Mittlerweile war er mehr als nur genervt, was ich gut nachvollziehen konnte. Wir wohnten in der Stadt, weil wir so an Schultagen morgens nicht so früh aufstehen mussten. Heute Morgen waren wir extra um halb Sechs aufgestanden, um die erste Straßenbahn zu erwischen, die in Richtung der Villa von Oma aus der Stadt hinausfuhr. Von der Straßenbahnstation, die am nächsten am Haus lag, mussten wir dann auch noch eine dreiviertel Stunde mit unseren Taschen durch die Kälte laufen, bis wir endlich da waren. Und was war der Dank dafür, dass wir so früh hier waren? Genau! Oma war selbst noch nicht fertig mit dem Packen. "Hm?" "Komm wir gehen nach draußen und machen eine Schneeballschlacht!", raunte er mir grinsend zu. Zweifelnd zog ich eine Augenbraue hoch. Das würde Oma ganz sicher nicht gefallen. "Oma rastet aus, wenn wir klatschnass sind, wenn sie dann endlich fertig ist", erwiderte ich ruhig. "Ja deshalb! Diese Warterei wird mir echt zu blöd. Das nächste Mal soll sie bei uns vorbeikommen, wenn sie es nach zig Stunden mal geschafft hat ihre sieben Sachen zusammenzupacken. Hallo, ich meine, es kann unmöglich so schwer sein, sich zu entscheiden, was man für die paar Tage mitnimmt." "Das wäre einfach nur kontraproduktiv", versuchte ich ihm klar zu machen. "Wohlmöglich versaut uns das noch den ganzen Urlaub." Fu seufzte tief. Er schien zu begreifen, was ich meinte. Oma würde uns nicht ein Mal aus dem Hotel lassen. Sie hasste Leichtsinn. Besonders wenn es um das Thema Gesundheit ging. "Oma, wir gehen nach draußen und machen eine Schneeballschlacht!", rief Fu dann wiedererwarten doch nach oben. Was soll das jetzt? Eigentlich sollte er doch begriffen haben, dass das Schwachsinn war. Vermutlich hatte er das auch und wollte sie nur etwas ärgern. "SEI FUYU NICHI!", brüllte Oma und tauchte keine Sekunde später am Treppenabsatz auf. "Wag es ja nicht. Pack lieber deinen Koffer noch mal ordentlich, wenn dir so langweilig ist." Sie schenkte Fu einen ihrer Mörderblicke und sah dann mich an. "Und was dich betriff, Senekisu mein Junge, es wäre nett, wenn du ihm dabei helfen würdest." "Oma, das war doch nur ein Scherz", sagte Fu leicht grinsend. "Du solltest wissen, dass ich sowas nicht lustig finde", erwiderte sie bissig und verschwand wieder aus unserem Sichtfeld. Fu wollte ihr noch etwas hinterherrufen, aber das bemerkte ich gerade noch rechtzeitig. "Lass es lieber", sagte ich warnend. "Sie hat heute keine gute Laune." "Die hab ich nach diesem Morgen auch nicht", erwiderte er zähneknirschend. "Merkt man. Aber sie sitzt nun mal am längeren Hebel.", gab ich zurück und machte seine Koffer auf, wobei mir die Hälfte entgegen kam. "Sie hat also Recht gehabt. Du bist auch ein Chaot.", sagte ich und knuffte ihm freundschaftlich in die Seite. "Du hattest doch wohl nichts anderes erwartet?!", entgegnete Fu verschmitzt lächelnd. "Nein, ehrlich gesagt nicht" Seufzend ließ ich mich auf der untersten Treppenstufe nieder. Fu tat es mir gleich und gemeinsam begannen wir seine Sachen, die er alle irgendwie in den Koffer geschmissen hatte, richtig zusammen zu legen. Irgendwann hörte ich Omas Schritte im Gang wiederhallen. Sie waren schwerfälliger als sonst. Daraus schloss ich, dass sie ihren Koffer trug. Endlich, schoss mir doch den Kopf, dann konnte es ja jetzt endlich losgehen. "Seit ihr fertig?", fragte sie etwas freundlicher als geradeeben. "Ja", sagten wir aus einem Munde. Ich spürte regelrecht, dass Fu eine bissige Bemerkung auf der Zunge lag. Aber zum Glück schaffte er es sie herunterzuschlucken. "Na dann können wir ja los."
Wegen des Schnees kamen wir nur langsam voran, aber selbst Fu sagte nichts dazu. Oma war sehr auf Sicherheit bedacht und fuhr natürlich nicht schnell. Das wussten wir beide und wir konnten uns auch im Auto etwas vermachen. Wir spielten Karten und Mensch ärgere dich nicht - wobei wir selbstverständlich beide versuchten zu schummeln - machten Witze oder genossen einfach die schöne verschneite Landschaft. Die Autofahrt war lustig, wie so gut wie alles, was ich mit Fu zusammen machte, aber dennoch war ich froh, als wir am Nachmittag endlich ankamen. Nach dem Aussteigen streckte ich mich als erstes ausgiebig und bekam gleich darauf einen dicken Schneeball ins Gesicht. Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen auch einen nach Fu zu werfen. Auch wenn Omas mahnender Blick dabei die ganze Zeit auf uns lag. "Was war das denn?", fragte Fu lachend, als ich meinen Schneeball hoch in die Luft warf. Allerdings wich seinem Lachen im nächsten Moment einem langgezogenem "Kalt!", als ihn der Schneeball mitten auf den Kopf traf. Jetzt war ich es der lachte. Sein Gesichtsausdruck war aber auch zu köstlich. Außerdem brauchte er etliche Versuche, bis in seinen braunen Haaren kein Schnee mehr zu sehen war und es war nicht weniger lustig, wie er planlos herumhüpfte und versuchte, sich den Schneeball aus den Haaren zu rubbeln. "Tut mir einen Gefallen und verschiebt die Schneeballschlacht bis wir uns die Hotelzimmer angesehen haben und ihr eure wasserfesten Skianzüge anhabt", mischte sich Oma ein. "Okay", sagten wir sofort, weil wir auf gar keinen Fall wollten, dass sie es uns noch ganz verbot.
Eine halbe Stunde später standen Fu und ich an der Bushaltestelle. Während wir warteten, holten wir unsere Schneeballschlacht nach. Einen Sieger gab es allerdings nicht mehr, da der Bus kam. Wir wohnten in einem Hotel, das mitten im Dorf lag, deshalb mussten wir erstmal noch ein Stück mit dem Bus fahren und dann auch noch mit einem Skilift hinauf in die Berge. Dort gab es ein kleines Gasthaus, wo man sich Skier leihen konnte und auch, wenn man über Mittag nicht wieder ganz ins Dorf zurück wollte, etwas zu essen kaufen konnte. "Welche Piste machen wir als erstes unsicher?", fragte ich grinsend, als wir nach einigem Anstehen endlich Skier hatten. "Die Schwarze!", sagte Fu wie aus der Pistole geschossen. Warum hatte ich eigentlich gefragt? Es war so klar gewesen, dass Fu gleich mit der schwierigsten anfangen wollte. Ich seufzte, schnappte ihn dann am Ärmel und schleifte ihn dann mit den Worten "Wir fahren uns erstmal ein" zu einem Skilift. Fu folgte mir murrend. Aber das war ganz normal, wenn er nicht seinen Kopf durchsetzte oder ich mich weigerte irgendetwas mit ihm auszudiskutieren. Ebenso normal war es, dass er kurz darauf wieder lachte. Und das war diesmal nicht anders. Als wir die Piste um die Wette hinunter heizten, hatte er es schon wieder gefunden. Immer und immer wieder rasten wir die verschiedensten Abfahrten hinunter und das ließ die Zeit schnell vergehen. Dabei hatten wir natürlich unseren Spaß. Es war wirklich immer wieder erstaunlich, dass Fu zu allem irgendetwas einfiel, womit er uns zum Lachen bringen konnte. "Guck mal", meinte er einmal, als wir eine schwerere Strecke fuhren, "das Mädchen hat genau die gleichen Stiefel wie Funny." Ich sah natürlich sofort, wer gemeint war. "Was finden die eigentlich alle an den Stiefeln mit diesen Bommeln?", fragte ich ihn, wobei ich das letzte Wort, wie eigentlich immer im Zusammenhang mit Stiefeln, ziemlich verächtlich aussprach. Fu musste über meinen Tonfall so lachen, dass er ins Taumeln geriet. Seine Bemühung das Gleichgewicht wiederzufinden, sahen so komisch aus, dass ich ebenfalls eine Lachattacke bekam. Am Ende rutschten wir beide eher das restliche Stück, als das wir fuhren. Fu hatte natürlich gewusst, was ich dazuzusagen hatte. Funny war eine Freundin von uns und ich hatte mich schon etliche Male mit ihr wegen ihrer Stiefel gekabbelt. Sie fand die Teile supertoll und ich fand sie einfach nur schrecklich. Aber, was wollte man machen, Meinungsverschiedenheiten waren im Leben ja ganz normal.
Irgendwann kam Fu dann auf die Schwarze Piste zurück. Dabei blickte er mich mit so einem treuherzigen Hundeblick an, dass ich, selbst wenn ich es gewollt hätte, nicht hätte nein sagen können. Aber inzwischen hatte ich auch Lust bekommen, diese Piste hinunter zu brausen. Also machten wir uns auf zum Lift. Dort war einiges los, aber als Schüler, der regelmäßig in den Pausen die Mensa besuchte, war es nicht sonderlich schwer sich geschickt vorzudrängeln. Mit dem Lift fuhren wir etliche Minuten hinauf. Aber das lohnte sich. Es machte einfach nur Spaß den steilen Berg hinunterzurasen. Man musste sich schon ziemlich konzentrieren, um nicht ins Straucheln zu kommen. "Echt klasse, oder?", rief mir Fu auf einem etwas flacheren Stück zu. Er grinste wieder einmal übers ganze Gesicht. Ich wollte ihm gerade antworten, als ein gewaltiges Getöse, ähnlich eines Donnergrollens, gemischt mit Schreckensschreien an meine Ohren drang. Ein Blick über die Schulter bestätigte, was ich schon vermutet hatte: Ein riesige Lawine kam direkt auf uns zu. "Scheiße!", fluchte Fu neben mir und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nochmals warf ich einen Blick über die Schulter. Die Lawine kam rasend schnell näher, allerdings konnte ich erkennen, dass sie rechts von uns durch den Wald deutlich abgebremst wurde. Mein Blick wanderte wieder nach vorne und ich entdeckte eine kleine Abzweigung, die direkt in den Wand hineinführte. "In den Wald!", rief ich Fu zu, der sofort verstand und mir folgte.
Der Weg
"Fuuuuuuu!" "Fuuuuuuuuuu!" Immer wieder rief ich verzweifelt seinen Namen. Aber bisher hatte ich ihn noch nicht gefunden. Es war jetzt schon eine ganze Weile her, dass wir vor der Lawine in den Wald geflohen waren. Der Weg war zwar recht holprig gewesen, aber schnell genug zu sein um nicht von der Lawine erwischte zu werden. Meine Idee war aufgegangen, so hatte ich gedacht, bis mir plötzlich aufgefallen war, dass Fu nicht mehr hinter mir war. Natürlich hatte ich sofort eine Notbremsung gemacht und war dann den Weg wieder zurückgeeilt. Das war jetzt schon eine ganze Weile her und ich konnte immer noch keine Spur von ihm entdecken. Ich konnte nicht einmal sagen, wann er nicht mehr da gewesen war. Ich hatte mich wohl so sehr auf die Strecke konzentriert, dass ich es erst überhaupt nicht gemerkt hatte. Dafür schämte ich mich jetzt. Es kam mir so vor, als hätte ich ihn im Stich gelassen und dieser Gedanken tat weh. Ich fühlte mich für ihn verantwortlich. Das eigentlich schon so lange ich ihn kannte. Das lag nicht daran, dass ich der Ältere war. Ich war ohnehin nur sechs Minuten früher zur Welt gekommen, als er. Fu zählte dieses Argument nie und ich tat es in seiner Gegenwart auch nur um ihn etwas zu ärgern. Eigentlich lag es daran, dass Fu nun mal Fu war. Was ungefähr so viel hieß wie: energiegeladen, etwas tollpatschig, nicht immer zuverlässig, manchmal extrem nervend, sehr temperamentvoll, etwas verrückt, überaus humorvoll und unglaublich intelligent. Alles in allem aber ein sehr guter Freund, auch wenn manchmal anstrengend. Fu war eben Fu. Man hätte ihn in einem ganzen Buch nicht vollständig beschreiben können. Jedenfalls war ich der Vernünftigere von uns beiden, der immer versuchte ihn auf dem Boden der Tatsachen zu halten und so dafür sorgte, dass er keinen allzu großen Ärger bekam, weil er mal wieder hoffnungslos über das Ziel hinausschießen wollte. Dieses Mal hatte ich ihn nicht beschützen können. Ich hoffte wirklich inständig, dass er nur vom Weg angekommen war und nicht von der Lawine erwischt worden war. "Fuuuuuuu!", rief ich erneut und lauschte in den Wald hinein. Nichts. Keine Antwort. Ich ging weiter und sah mich aufmerksam um. Sehr viele Anhaltspunkte hatte ich nicht. Der Wald sah überall nahezu gleich aus. "Fuuuuuuu!" Wieder lauschte ich angespannt, "Sen! Hier!", hörte ich auf einmal Fu, der jedes Wort unglaublich dehnte. Ich rannte erleichtert in die Richtung aus der seine Stimme gekommen war. Bald darauf sah ich ihn - zumindest das, was noch von ihm zu sehen war. Er steckte bis zum Hals in Tiefschnee. "Hol mich bitte schnell raus. Mir ist kalt.", sagte Fu mit klappernden Zähnen "Bin schon dabei", murmelte ich, während ich begann ihn auszubuddeln. "Was ist passiert?" "Ich hab einen Moment nicht aufgepasst und bin vom Weg abgekommen. Konnte nicht mehr bremsen und bin direkt in den Tiefschnee gefahren. So weit, dass ich nicht mehr von allein raus kam. Ich hab noch nach dir gerufen, aber das hat der Krach der Lawine wohl übertönt." Ich nickte abwesend. Hoffentlich hatte er sich keine Unterkühlung geholt. Fu zitterte am ganzen Körper, als ich ihn endlich aus den Schneemassen befreit hatte. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ich musste ihn stützen, damit er nicht wieder im Schnee landete. Es klebte noch Schnee an seinen Sachen, den ich abklopfte, damit sie nicht noch weiter durchnässt wurden. "Danke!", murmelte er und versuchte mit zittrigen Händen seine durchnässten Handschuhe auszubekommen. "Warte. Ich helfe dir!", sagte ich. "Du hast Glück, dass Oma mich gezwungen hat den Rucksack mit Ersatzklamotten mitzunehmen. Ich glaub, da sind auch Handschuhe, ein Schal und ne Mütze drin." Ich lächelte ihn aufmunternd an und zog ihm meine, schon warmen, Handschuhe an. Dann kramte ich im Rucksack nach Schal und Mütze, dabei fand ich auch eine Thermoskanne. Ich hoffte, dass ihr Inhalt noch einigermaßen heiß war und Fu wieder etwas aufwärmen würde.
Nachdem Fu die Mütze aufhatte, der Schal seinen Hals wärmte und vom Tee aus der Thermoskanne getrunken hatte, ging es ihm wirklich etwas besser. Dennoch stand er noch sehr wackelig auf den Beinen. "Was machen wir jetzt?", fragte er. "Hier bleiben können wir nicht. Sonst erfrierst du mir noch oder holst dir zumindest eine Unterkühlung." "Auf dem Zettel in unserem Hotelzimmer stand, dass man im Falle einer Lawine bleiben soll, wo man ist und auf Hilfe warten soll.", erwiderte Fu. Ich sah in ungläubig an. "Du hast den Zettel gelesen?" Das war ja kaum zu glauben. Er grinste und zuckte mit den Schultern. "Mir war langweilig", gab er zu. Ich lächelte zurück und blickte mich dann skeptisch um. "Ich bezweifele, dass das eine gute Idee ist. Wir sind hier im tiefsten Wald und die Rettungsteams werden erst auf den Pisten nach Überlebenden suchen. Außerdem sind wir ja nicht verschüttet worden." Fu nickte einfach nur. Vermutlich hatte er das mit den Vorschriften sowieso nicht ernst gemeint. Die Worte Fu und Vorschriften waren eh ein Widerspruch in sich, dachte ich und lächelte innerlich. "Dann folgen wir dem Weg weiter in den Wald hinein, oder? Zurück können wir ja nicht. Da ist alles verschüttet." Ich nickte, während ich seine nassen Handschuhe, die ich achtlos auf den Boden geworfen hatte, aufhob und an meinem Rucksack befestigte. "Ja, würde ich auch sagen", antwortete ich dann. "Irgendwo muss der Weg ja schließlich hinführen." Gemeinsam gingen wir weiter. Ich musste Fu immer noch stützen. Man sah es ihm an wie sehr ihm die Kälte zu schaffen machte. Ich fragte mich, wie lange er wohl noch weiterlaufen konnte. Jeder Schritt schien in unglaublich anzustrengen. Aber er biss die Zähne zusammen und nahm alle Kräfte zusammen. Besorgt blickte ich ihm immer wieder an und versuchte ihn so gut es ging zu stützen. Hoffentlich war hier wirklich irgendwo ein Dorf.
Fu hielt sich ziemlich lange, wir hatten die Stelle, wo ich meine Skier zurückgelassen hatte, schon ein gutes Stückchen hinter uns gelassen, als er endgültig nicht mehr konnte. Selbst mit meiner Hilfe fiel es ihm schwer sich auf den Beinen zu halten. Er atmete schwer und die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine sonst so strahlenden saphirblauen Augen waren matt und glänzten schon fast etwas fiebrig. Ich machte mir große Sorgen um ihn. So konnte er unmöglich weiterlaufen, aber hierlassen konnte ich ihn noch weniger. "Es tut mir Leid, Sen", flüsterte er kaum verständlich. "aber ich kann nicht mehr." "Ist schon okay", sagte ich sanft und lächelte ihn aufmunternd an. "Ich bin noch recht fit. Ich werde dich noch ein Stückchen tragen können." Das stimmte. Ich merkte kaum etwas. Keine Müdigkeit. Keine Erschöpfung. Es war fast so, als wäre ich erst vor einer Stunde aufgestanden. Als hätte ich keine Zug- und Autofahrt hinter mir und wäre ich nicht Stund um Stund im Schnee herumgetobt. Aber meine Kondition war schon immer gut gewesen. Fu schüttelte schwach den Kopf. "Nein", murmelte er, "du machst zwar viel mehr Sport als ich, aber das schaffst du nicht." "Du weißt, dass es für mich keine andere Option gibt", sagte ich eindringlich und streifte dabei den Rucksack ab. "Du trägst den Rucksack und ich trag dich" Fu lächelte schwach und nickte dankbar. Ihm war das Endgültige in meiner Stimme nicht entgangen. "Okay", meinte er, als er sich den Rucksack auf den Rücken geschnallt hatte. "Gut, dann kann es ja losgehen!", erwiderte ich und nahm ihn Huckepack.
Ich stapfte unaufhaltsam weiter. Inzwischen merkte ich doch, wie die Müdigkeit und Erschöpfung langsam in meinen Knochen hochkroch. Ich hatte schon ein gutes Stück zurückgelegt und ich würde es wohl auch noch ein bisschen schaffen. Aber um meinen Zustand machte ich mir weniger Sorgen, als um den von Fu. Er hing schlaff über meinen Schultern und war dabei wegzunicken. "Fu, erzähl mir irgendetwas", sagte ich, "du darfst auf keinen Fall einschlafen." Ich konnte nicht sehen, dass er nickte, aber spürte es auf meiner Schulter. Dann begann Fu zu erzählen. Er redete über alles Mögliche: Schule, unsere Freunde, Oma, Ideen für Streiche, die ihm im Kopf herum spukten und alles was ihm sonst noch so einfiel. Das Reden verfehlte seine Wirkung nicht: Er schlief nicht ein. Ich hatte sogar das Gefühl, dass er mit der Zeit wieder etwas wacher wurde. Dafür war jetzt Wind aufgekommen. Anfangs nur sehr schwach, aber inzwischen peitschte er uns aufgewirbelten Schnee ins Gesicht. "Na klasse!", meinte Fu ironisch, setzte dann aber noch hinzu. "Wenn man im Haus ist, sieht das ja alles ganz schön aus, aber hier draußen... brrrrrr." Ich lächelte leicht. Fu in meiner Nähe zu haben, empfand ich als echt angenehm. Er verstand sich wirklich darauf, einen etwas aufzumuntern. Ob es nun richtige Witze waren oder einfach nur die Art, wie er etwas sagte. Als er wenig später verkündete: "Mir fällt nichts mehr ein, was ich dir erzählen könnte. Ich glaub, ich fang jetzt an, Weihnachtslieder zu singen!" Und als dann tatsächlich leise anfing ‚Leise rieselt der Schnee' zu singen, musste ich wirklich lachen. Das nennt man wohl Situationskomik. Dieses Lied wäre das letzte gewesen, was ich jetzt gesungen hätte. Den Schnee, der uns in Gesicht geweht wurde, konnte man wohl kaum ‚leise rieselnd' nennen. Ich konnte nicht anders, als mit einzustimmen. Das verschaffte mir etwas Ablenkung. Leise Lieder singend stapfte ich weiter. Irgendwann gingen uns dann die Songs aus. Alle, von denen wir die Texte kannten, hatten wir schon gesungen. Fu wollte gerade wieder mit ‚Oh Tannenbaum' anfangen, als ich ein entferntes Licht zwischen den Bäumen sah. "Fu!", rief ich erleichtert. "Da ist eine Hütte." "Dann wollen wir mal hoffen, dass da keine Hexe wohnt", nuschelte er erschöpft neben meinem Ohr. Ich lächelte in mich hinein und beschleunigte meine Schritte.
Die Berghütte
Das Haus vor uns, lag ganz allein mitten im Wald. Es war nicht sonderlich groß, aber das war mir im Moment herzlich egal. Mehrmals klopfte ich kräftig gegen die Tür, nachdem ich keine Klingel gefunden hatte. Ich trat ungeduldig von einem Beins aufs andere. Es konnte mir gar nicht schnell genug gehen. Normalerweise hatte ich es nicht eilig, aber jetzt wollte ich nur schnell ins Warme. Nochmals klopfte ich. Das zu bewerkstellig war gar nicht so leicht, schließlich hatte ich immer noch Fu auf dem Rücken. "Ich glaub 's ja nicht. Sitzen die auf ihren Ohren?", brummte er nahe an meinem Ohr. Die Ungeduld in seiner Stimme war unüberhörbar. Aber Geduld war eine Tugend, die Fu noch nie besessen hatte. Ganz abgesehen davon, konnte ich ihn wirklich gut verstehen. Gerade wollte ich noch einmal klopfen, als ich auf der anderen Seite der Tür Stimmen hörte. Verstehen tat ich nichts. Das war mir im Moment aber auch sowas von egal. Eine Sekunde später öffnete sich die Tür und gab den Blick auf ein schwarzhaariges Mädchen frei. Sie schien ungefähr 16 zu sein, also so in unserem Alter. "Umi, ich hatte Recht. Hier ist wirklich jemand.", rief sie über die Schulter hinweg und wandte sie sich uns zu. Ich wollte gerade den Mund öffnen um unsere Situation zu erklären, da machte sie schon den Weg ins Haus frei: "Kommt rein. Ihr seht ganz durchgefroren aus." Das wunderte mich jetzt doch etwas, doch ich tat wie geheißen. Bloß schnell ins Warme, dachte ich. "Wer ist denn da, Kia?", kam es von der Tür rechts von uns und gleich darauf steckte ein blondes Mädchen, ebenfalls in unserem Alter, den Kopf in den Flur. Dann lag ihr Blick musternd auf Fu und mir. "So gut aussehenden Besuch hatten wir schon lange nicht mehr", bemerkte sie kichernd. Ich musste unweigerlich lächeln. Einen ähnlichen Kommentar hätte Fu mit Sicherheit abgeben, wenn die beiden auf einmal bei uns vor der Tür gestanden hätten. Die Schwarzhaarige schüttelte leicht grinsend den Kopf. Sie schien sowas wohl auch schon gewöhnt zu sein. "Umi, könntest du vielleicht einen Tee oder Kakao machen. Die beiden sehen so aus, als seien sie am erfrieren.", sagte sie bittend zur Blonden. "Klar, ist schon so gut wie fertig" Umi flitzte über den Flur zu einer schräggegenüberliegenden Tür. "Ihr beide könnte es euch schon mal im Wohnzimmer gemütlich machen", sagte das Mädchen, dass Kia genannt worden war, lächelnd. Sie zeigte auf die Tür, aus der Umi gerade gekommen war. "Ich hole von oben noch zwei Wolldecken." Ich nickte und war unendlich dankbar über die Gastfreundschaft, die uns entgegen gebracht wurde. In diesem Maß hatte ich sie allerdings nicht erwartet. Als ich das Wohnzimmer betrat, schlug mir eine angenehme Wärme entgegen. Ich blickte mich kurz um. Zwei Sofas, ein Sessel, ein Couchtisch, eine große Wanduhr, eine Kommode, ein großer Kamin, in dem ein Feuer brannte und ein festlich geschmückter Tannenbaum. Alles in allem machte der Raum einen gemütlichen Eindruck. Ich trug Fu zu dem Sofa, das am nächsten am Kamin stand und setzte ihn dort ab. Jetzt sah ich ihn zum ersten Mal, nachdem ich ihn Huckepack genommen hatte, wieder ins Gesicht. Er sah immer noch so fertig und müde aus. Er machte keine Anstalten sich seine Skiklomotten auszuziehen. "Du siehst echt nicht gut aus", sagte ich, während ich meine Handschuhe auf dem Tisch ablegte. Fu brachte ein müdes Lächeln zustande und winkte ab. "Halb so wild", sagte er. "Das wird schon wieder. Ich bin nur etwas müde." Ich nickte abwesend. Hoffentlich hatte er Recht und es war wirklich nur die Erschöpfung. Wenn er sich in der Zeit, die er im Tiefschnee verbracht hatte, nichts zugezogen hatte, konnte er von Glück reden. Inzwischen hatte ich Jacke, Skihose, Schal und Mütze ausgezogen. Im Moment machte ich mich an den Skistiefeln zu schaffen. Im Nachhinein war es ein halbes Wunder, dass wir damit so lange hatten laufen können, aber mir war es eigentlich gar nicht aufgefallen. Sie waren schön warm und das war das Wichtigste gewesen. Fu riss mich aus meinen Gedanken, als er fragte: "Kannst du mir gleich mal helfen, Sen? Ich bekomm diese scheiß Jacke nicht auf." "Natürlich", antwortete ich grinsend. Und half ihm aus seinen Skiklamotten. Typisch Fu. Er konnte ja kaum noch die Hand heben. Kein Wunder, dass er seine Jacke nicht aufbekam. Okay, davon mal abgesehen, war das mit Handschuhe nicht gerade das Einfachste. "Machst du dich etwa über mich lustig?", fragte Fu mit gespielt beleidigten Unterton. Ich lachte leise. "Wie kommst du denn darauf?" "Erinnere mich daran, dass ich dich dafür noch einmal schlage, wenn ich wieder die Kraft dazu hab", meinte er mit seinem typischen Grinsen. "Das werde ich selbstverständlich tun", erwiderte ich ironisch. Hinter uns erklang Gekicher. Die beiden Mädchen hatten den Raum betreten und schienen sich köstlich zu amüsieren. Kia trug einige Decken bei sich und Umi hatte ein Tablett mit vier dampfenden Tassen in der Hand. "Was ist denn so lustig?", fragte ich. "Oh, ihr beide erinnerte uns nur an uns selbst", sagte Kia und reichte uns die Decken. "Danke!", sagte ich und zog dabei Fu den zweiten Stiefel vom Fuß. Wir hatten beide unsere Jogginganzüge unter der Skikleidung getragen. Die waren eigentlich warm, aber im Moment war uns einfach nur kalt. Deshalb wickelte ich Fu in eine der Decken. Mir schlang ich die andere um die Schultern. "Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt", begann dann Fu das Gespräch. "Ich heiße Sei Fuyu Nichi, werde aber von den meisten einfach nur Fu genannt." "Ich bin Senekisu Yoru. Ihr könnte Sen sagen, wenn ihr wollt.", stellte ich mich vor. "Es ist wirklich sehr nett, dass ihr uns hier aufnehmt." "Das ist doch selbstverständlich", sagte Kia und lächelte sanft. "Ihr könnt euch einen Becher nehmen. Ich glaub, Umi hat jeweils zwei Tassen Tee und Kakao gemacht." Sie wies auf das Tablett, das Umi neben unseren Handschuhe, Fu Mütze und Schal gestellt hatte. "Danke", sagte ich und wandte mich dann an Fu. "Du nimmst Kakao, oder?" "Da fragst du noch?!", erwiderte er und nahm mir strahlen den Becher ab, den ich ihm reichte. Ich nahm mir Tee. Nicht, dass ich nicht gerne Kakao trank, aber im Moment hatte ich einfach mehr Lust auf einen Tee und außerdem war ich mir recht sicher, dass Umi den andern Kakao wollte. Bisher war sie Fu ziemlich ähnlich gewesen. Ich behielt Recht. Kaum hatte ich meinen Becher in der Hand, schnappte sie sich schon den Kakao. Kia griff nach dem Tee und schüttelte den Kopf. "Warum so schnell?", fragte sie. "Du weißt doch, dass ich lieber Tee trinke." "Man weiß ja nie", entgegnete die Blonde. "Na ja, ich bin jedenfalls Kia. Freut mich euch kennenzulernen." "Wie ihr sicher schon mitbekommen habt, ich heiße Umi", sagte sie über den Rand ihres Bechers. "Wie seid ihr eigentlich hierher gekommen? Diese Hütte liegt nun wirklich am Arsch der Welt.", sprudelte es neugierig aus ihr heraus. Ich lächelte und Fu tat es mir gleich. Ihm schien die Ähnlichkeit auch schon aufgefallen zu sein. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich mich mit ihr blendend verstehen würde. Sie war schon fast ein weiblicher Fu - zumindest so weit ich das bis jetzt beurteilen konnte. Kia schien mir recht ähnlich zu sein. Sie war ruhig und geduldig, konnte aber auch ganz gut mal etwas sticheln. Genauso wie ich. Komischer Zufall, fand ich. Da Fu gerade sehr mit seiner Kakaotasse beschäftig war, erzählte ich kurz von den Ereignissen der letzten Stunden. Die beiden nickten nachdenklich. Nach einer Zeit des Schweigens ergriff Umi das Wort: "Ihr habt riesiges Glück, dass wir hier sind. Bis zum nächsten Dorf ist es noch ein gutes Stück. Das hättet ihr vermutlich nicht geschafft." Kia hatte eine Weile aus dem Fenster geblickt und nickte jetzt zustimmend. "Schon gar nicht bei dem Schneesturm, der gerade aufkommt. Ihr solltet eine Weile hier bleiben. Zumindest über die Nacht. Vielleicht ist es morgen schon wieder besser." "Das ist sehr nett", sagte ich dankbar. "Ich hoffe, wir bereiten euch keine Umstände." "Ach was!", winkte Umi ab. "Und wenn würden wir euch auch nicht wieder vor die Tür setzen." "Danke. Das wissen wir wirklich zu schätzen!", sagten Fu und ich aus einem Munde. Die beiden Mädchen mussten abermals lachen. "Ihr beide seit wohl auch so etwas wie seelenverwandt, was?", meinte Umi kichernd. "So könnte man das bezeichnen", erwiderte ich grinsend. "Also, wenn ihr wollt, könnt ihr ein Bad nehmen um wieder ganz aufzutauen." "Hört sich gut an", sagte ich. Das war genau das, wonach mir der Sinn jetzt stand.
Weihnachten
Fu ging als erster ins Bad. Er brauchte das heiße Wasser dringender als ich. Ich ließ mir währenddessen von Kia Bettwäsche geben und bezog unser Bett. Ja, wir mussten uns ein Bett teilen. Mir gefiel das ganz und gar nicht. Fu und ich, wir hatten beide unsere Schlafangewohnheiten: Fu gehörte zu den Leuten, die gerne mal im Schlaf um sich schlugen und furchtbar viel Platz brauchten. Ich hingegen war eher die Sorte Mensch, die sich im Schlaf recht klein machte und noch gute Reflexe hatte. Jetzt sollte man eigentlich denken, dass sich das ganz gut ergänzte, aber irgendwie tat 's das nicht. Wenn wir mal auf engem Raum zusammenschlafen mussten, hatten wir es oftmals doch geschafft uns in die Quere zu kommen. Man denke da zum Beispiel an den kleinen Zelturlaub, den wir mit unseren Freunden gemacht hatten. Ich wusste bis heute nicht wie, aber irgendwie hatten wir unser Zelt beinahe zum Einsturz gebracht. Deshalb war es meiner Meinung nach etwas unglücklich, dass es nur ein Gästezimmer mit einem Bett gab. Allerdings war das noch tausendmal besser, als draußen schlafen zu müssen.
Aber ich war positiv überrascht worden. Als ich aus dem Bad kam, schlief Fu schon tief und fest. Bewundernswerterweise sogar ruhig. Na ja, vielleicht war das doch nicht ganz so bewundernswert, wenn man bedachte, wie erschöpft er gewesen war. Am nächsten Morgen, als ich aufwachte, war Fu schon auf den Beinen. Komisch eigentlich, normalterweise schlief er viel länger als ich. Noch schlaftrunken tapste ich ins Bad, um mir dort erstmal eine Ladung Wasser ins Gesicht zu klatschen. Das sorgte dafür, dass ich wenigstens so wach war um zu realisieren, dass heute ja schon Heiligabend war. Oh.
Unten in der Küche herrschte ein riesen Tumult. Auf dem Tisch lag ein blutüberströmter Hase. Im ersten Moment dachte ich, dass er für Weihnachtsessen gedacht war, aber dann fiel mir auf, dass er sich noch bewegte und ziemlich bedauernswert klingende Geräusche von sich ab. "Wo habt ihr den denn her?" Mit diesen Worten machte ich auf mich aufmerksam. "Fu hat ihn heute Morgen in der Nähe des Hauses gefunden", erklärte Kia. "Sieht nicht gut aus. Glaubt ihr, dass ihr den wieder hinbekommt?" "Ja, so schlimm ist es nicht. Er hat sich nur irgendwo das linke Hinterbein aufgeschnitten. Die Wunde ist nicht tief.", erläuterte sie. "Dafür blutetet es aber wie Sau." "Denk nicht immer so pessimistisch", mischte sich Fu ein. "Das war einfach nur eine Feststellung", gab ich zurück. "Kann ich irgendwie helfen?" "Ich glaub, Kia hat's gleich. Aber du könntest Frühstück machen.", meinte Fu. "Ja, das ist eine gute Idee. Ich bereite gerade ne Kleinigkeit für unseren kleinen Hüpfer zu.", sagte Umi. Sie stand an der Küchenzeile und bearbeitete ein paar Möhren und einen Salatkopf mit einem Messer. Ich nickte und suchte mir einige Sachen in der Küche zusammen. Brot, Butter, Eier, Schinken, eine Pfanne, vier Teller und ein Messer. Ich hatte gerade spontan beschlossen, dass ich Rührei machen würde. "Wozu brachst du denn die ganzen Eier?", fragte Umi verwundert. "Fu verdrückt eine ganze Menge", antwortete ich schlicht und begann damit die Eier aufzuschlagen. "War nicht gahr!", sagte Fu mit einem Unterton in der Stimme, der seine eigenen Worte Lügen strafte. Daraufhin mussten wir alle lachen.
Umi und Kia hatten dem Hasen im Wohnzimmer nahe beim Kamin ein kleines Lager aus einem Korb und einige Decken gebaut. Sie hatten ihm für den Fall, dass er Hunger bekam eine Schale mit Wasser und eine mit Salatblättern und Möhrenstückchen hingestellt. Als wir nach ihm schauten, nachdem wir die Küche gemacht hatten, schlief er eingerollt unter den Decken. Die beiden Schüsseln waren fast geleert. Da schien ja jemand ganz schön Hunger gehabt zu haben, dachte ich schmunzelnd. "Es schneit immer noch", murmelte Fu vor sich hin. "Oma macht sich bestimmt tierische Sorgen." Damit sprach er das aus, was mir beim Frühstück auch schon durch den Kopf gegangen war. Wenn das so weiter ging, würden wir heute nicht mehr zurück ins Dorf kommen. Aus unserer Sicht war das zwar halb so wild, Kia und Umi hatten bestimmt nichts dagegen, wenn wir auch noch heute bleiben würden, aber Oma wusste das ja nicht. Sie musste davon ausgehen, dass wir von der Lawine verschüttet worden waren. Und deshalb machte sie sich natürlich Sorgen. Ich seufzte. Mir fiel beim besten Willen nichts ein, um sie zu verständigen. Die Handys hatten kein Netz und andere Telefone gab es hier nicht. "Wir können nichts tun, oder?", brach Fu die Stille, die zwischen uns geherrscht hatte. Seine Stimme klang niedergeschlagen. "Nein, ich denke nicht", erwiderte ich ruhig. Ich hörte wie Fu tiefdurchatmete. "Gut", sagte er dann wieder fröhlich, "dann machen wir jetzt etwas, was Spaß macht." Fu strahlte mich mit seinem typischen Grinsen an. Ich stöhnte innerlich. Warum hatte ich nur so ein ungutes Gefühl? Ich hasste Fus Stimmungsschwankungen.
Anfangs war ich mehr als angenervt gewesen, als Fu mich zu unseren Sachen schleifte. Nur widerwillig hatte ich sie mir angezogen. Ich hatte überhaupt keine Lust gehabt nach draußen zu gehen. Aber noch weniger wollte ich mich mit einem schmollenden Fu herumärgern, deshalb war ich mit hinausgegangen. Inzwischen war mir aber wieder eingefallen, wie viel Spaß es machte Fu mit Schnee einzuseifen. Ich war gerade dabei einen Schneeball in Fus Haaren zu verteilen, als mich ein anderer an der Wange traf. Ich hatte mich noch gar nicht richtig verwundert umgedreht, da hörte ich schon Umis triumphierende Stimme: "Volltreffer!" Im ersten Moment musste ich wohl ziemlich dumm geguckt haben, denn Kia sagte entschuldigend lächelnd: "Nimm es ihr nicht allzu übel. Aber sie mag es nun mal gar nicht, wenn eine Schneeballschlacht ohne sie stattfindet." Ich grinste verstehend. Ziemlich Fu ähnlich, bemerkte ich abermals. "Mädchen gegen Jungen?", fragte dieser jetzt. "Okay", erwiderte Kia achselzuckend und warf ihn den Schneeball ins Gesicht, den sie bisher in der Hand gehalten hatte. "Das war ein Fehler!", brachte er hervor, während ich ihn hinter einen nahen Baum zog. Jetzt begann die Schneeballschlacht erst richtig.
Am Ende gewannen wir doch ganz deutlich. Die Klamotten von Umi und Kia trieften nur so vor Wasser. Aber man musste wohl zugeben, dass Jungen gegen Mädchen nicht ganz fair gewesen war. Dennoch trotteten wir zufrieden lächelnd zurück ins warme Haus. Alle hatten ihren Spaß gehabt. Unser kleiner Hüpfer, wie Umi so schön gesagt hatte, war inzwischen auch wieder wach. Neugierig blickte er uns an, als wir ins Wohnzimmer traten. Es schien ihm jetzt etwas besser zu gehen. Hunger hatte er - wie wir schnell feststellen mussten - immer noch. Fu, den der Hase anscheinend am liebsten mochte, blieb bei ihm sitzen und fütterte ihn mit weiterem Grünzeug. Ich ging mit den beiden Mädchen in die Küche und gemeinsam kümmerten wir uns ums Mittagessen. Wir unterhielten uns über dies und das. Ich erzählte viel von unserer Schule und auch von den Sachen, die wir angestellt hatten. Die beiden mussten mehr als nur einmal lachen und die Stimmung war wirklich ausgelassen. Sie schienen nicht darüber reden zu wollen, wo sie herkamen und ich akzeptierte es. In meinem Leben gab es auch so einiges, dass ich lieber ganz vergessen würde und worüber ich wirklich nur selten sprach. "Sag mal Sen, kannst du so gut backen, wie du kochst?", fragte Umi irgendwann vollkommen ohne Zusammenhang. "Fus Meinung nach schon" "Toll, dann können wir ja heute Nachmittag noch neue Plätzchen machen", meinte sie begeistert. Ich war eher skeptisch. Warum? Wegen Fu. "Habt ihr denn keine mehr?" "Doch. Zwei Dosen noch.", erwiderte Kia. "Hast du keine Lust?" "Das schon. Aber mir fällt nichts ein, womit wir solange Fu beschäftigen können.", gab ich wahrheitsgemäß zurück. "Der kann doch mitmachen!" Nach diesem Satz musste ich unweigerlich lachen. Da kannte jemand Fu nicht. "'Schuldigung, wenn ich lache, aber das will ich weder ihm noch mir antun." Daraufhin sahen sie mich nur noch fragender an. Ich erklärte es ihnen. Es gab zwei Dinge, warum Fu fürs Kochen oder Backen nicht sonderlich geeignet war. Erstens: Alles was Fu essbar erschien, verschwand noch bevor man wusste wie einem geschah in seinem Magen. Besonders dann, wenn man ihm es verbot. Zweitens: Fu war nicht geduldig. Es war ihm schon oft genug passiert, dass er ‚mal kurz' etwas anders machen wollte und dabei dann die Zeit vergessen hatte und ihm das Essen angebrannt war. Deswegen sollte man ihn nie in der Küche allein lassen und es wenn möglich vermeiden, dass er irgendetwas kocht oder backt. Normalerweise war das auch kein Problem. Er war sowieso der Meinung, dass er nicht kochen konnte und alles was ich machte tausendmal besser schmeckte, als alles andere. "Okay", stimmte Kia zu, "dann machen wir doch lieber einen dicken Spiele Nachmittag."
Das machten wir dann auch. Fu fand die Idee auch gleich super. Aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Er war und blieb eben ein Spielkind. Als erstes spielten wir ‚Vier gewinnt'. Das wurde aber ziemlich schnell langweilig. Derjenige, der gegen Fu spielte, verlor ausnahmslos immer. Was eigentlich nicht verwunderlich war. Schließlich war ‚Vier gewinnt' ein Denkspiel. Selbst zu dritt hatten wir kaum eine Chance gegen ihn. Deshalb wählte Kia als nächstes ‚Mensch ärger dich nicht' aus. Das war ein Glücksspiel. Na ja, eigentlich zumindest. Aber wir vier gehörten alle eher zu den Leuten, die da auch liebend gern mal schummelten. Das machte die Sache meines Empfindens nach nur noch spannender. Irgendwie war es doch jedes mal wieder erstaunlich, wie verlockend (und meistens auch einfach) es war, Spielfiguren zu seinen Gunsten zu verschieben. Ich hatte wirklich ein Händchen dafür. Und ich gewann am meisten. Selbst das Spiel, in dem mich Umi dabei erwischte, wie eine ihrer Figuren vom Ziel wieder zurück zum Start schob, und sie mich dazu verdonnerte mit all meinen Spielsteinen noch mal rückwärts zu gehen. Danach spielten wir noch allerlei anderes und jeder hatte so seine Sachen, wo er am Besten war. Alles in allem wirklich ein super Nachmittag.
Erinnerungen
Der Weihnachtsabend war einfach wunderschön! Umi und Kia hatten die verschiedensten Sachen gekocht. Es gab mehrere Salate, Fleisch mit Soße, überbackene Kartoffeln und andere kleine Dinge, wie zum Beispiel Weintrauben-Käse-Spieße. Und von allem viel zu viel. Wir bekamen nicht alles auf. Das sollte wirklich was heißen, schließlich hatten wir Fu mit am Tisch sitzen. Wir hatten es uns im Wohnzimmer auf dem Fußboden am niedrigen Couchtisch bequem gemacht. Schon während des Essens hatten wir begonnen Geschichten zu erzählen. Weihnachtsgeschichten natürlich. Wenn sie auch stark veralbert wurden. Fu war darin wirklich herrlich. Als er seine Variante von der Geschichte mit den drei Weihnachtsgeistern erzählte, lachten wir alle Tränen. Und auch als Fu geendet hatte kicherten wir noch vor uns hin und versuchten uns einigermaßen zu beruhigen. Schließlich war es Kia, die die Stimmung unabsichtlich ins Kippen brachte. Prustend hatte sie hervorgebracht: "Der Typ hätte ebenso gut mein Vater sein können." Fu, der nicht mitbekommen hatte, dass die beiden heute Mittag nicht über ihre Familie hatten sprechen wollen, fragte ahnungslos: "Wieso? Ist der so schlimm?" Mit einem Schlag waren sie ruhig. Kia schien erst jetzt bewusst zu werden, was sie gerade gesagt hatte. Sie starrte etwas abwesend vor sich hin. Umi war auch etwas abwesend, allerdings schaute sie dabei Kia fragend an. Ihr Blick sagte: "Warum ist dir das rausgerutscht?" Fu beobachtete erst die beiden Mädchen verwundert und sah dann mich an. Er verstand nicht, was er falsch gemacht hatte. Wie denn auch? Ich hätte es ihm gerne erklärt, aber das ging vor den beiden nicht. "Entschuldigung, wenn ich etwas falsches gesagt habe!", brach Fu irgendwann das Schweigen. "Es ist nicht deine Schuld", erwiderte Kia leise. "Du konntest ja nicht wissen, dass ich mich mit ihm nicht gut verstehe." "Ich mich auch nicht.", gab jetzt Umi auch noch ihren Senf dazu. Sie klang ziemlich verbissen. "Das hört sich so an als wärt ihr Geschwister", sprach ich ohne nachzudenken. Im nächsten Moment ärgerte ich mich schon über mich selbst. Ob das so eine gute Idee gewesen war? Ich bezweifelte es. Normalerweise passierte mir so etwas doch auch nicht. "Stiefschwestern", sagte Kia schlicht. Sie schien nicht sauer zu sein. Da hatte ich wohl noch mal Glück gehabt. Es hatte sogar den gegenteiligen Effekt. Umi begann traurig zu erzählen: "Meine Eltern sind vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie waren meine letzten Verwandten. Das hat mich wirklich fertig gemacht. Im Gegensatz zu Kia hatte ich ein echt gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Und die Vorstellung jetzt in irgendein Heim zu kommen, war auch nicht gerade aufbauend. Na ja, ich war letztendlich nur zwei Tage da. Kia hatte ihren Vater irgendwie überredet mich zu adoptieren." Sie brach ab und starrte abwesend aus dem Fenster. "Mein Vater ist ein Geschäftsmann, wie er im Buche steht", erzählte jetzt Kia weiter. "Meistens ziemlich kalt und unangenehm. Er versucht mich immer mit irgendwelche materiellen Dingen glücklich zu machen. Wirklich um mich kümmern, tut er sich allerdings nicht. Entweder er macht mir irgendwelche Geschenke oder meint mir sagen zu müssen, wie ich mein Leben zu leben hätte. Deshalb kommen wir so schlecht mit einander klar." Ihr Tonfall war trocken. Sie stellte das einfach nur fest. Aber trotzdem stand es ihr ins Gesicht geschrieben, wie unzufrieden sie war und wie weh ihr das tat. Sie tat mir schrecklich Leid. "Jedenfalls hasst er Weihnachten!", sagte Umi. Sie wirkte schon wieder etwas munterer. "Letztes Weihnachten war wirklich" Sie überlegte einen Moment. "schrecklich - um es kurz zu beschreiben. Deswegen sind wir dieses Jahr abgehauen. Das wird noch Ärger geben.", fügte sie am Schluss noch schulterzuckend hinzu. Fu schmunzelte in sich hinein. Er dachte wohl gerade an sich selbst. "Erinnert mich etwas an meine Eltern.", sagte er und bestätigte meine Gedanken. "Auch so schrecklich?", fragte Umi. "Schrecklich genug um eine waghalsige Reise auf die andere Seite der Erde zu unternehmen." Fu lachte, als er das sagte. Aber ich wusste, dass es nicht zum Lachen gewesen war und er es nur mit viel Glück geschafft hatte. "Das sagt alles!", antwortete Kia und lächelte wieder etwas. Auf dieser Reise hatte ich Fu kennengelernt. Und es war eigentlich ein Wunder, dass er hier angekommen war. Ein noch größeres Wunder war es allerdings, dass ICH hier angekommen war. Mit den Gedanken an mein erstes Zusammentreffen mit Fu, sickerten auch andere Erinnerungen langsam wieder in mein Bewusstsein. Erinnerungen an DEN Tag. Am Liebsten hätte ich sie gar nicht, gerne würde ich alles vergessen. Nur der Gedanke daran jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Plötzlich erschienen mir die lächelnden Gesichter der anderen so unwirklich. Ich konnte sie nicht weiter ansehen und wendete meinen Blick abwesend zum Fenster. Im nächsten Moment wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Draußen herrschte ein Schneesturm. Man konnte kaum etwas erkennen. Es erinnerte mich unweigerlich an DEN Tag. Auch wenn es damals geregnet hatte. Die Sicht war genauso miserabel gewesen. Das Wetter war schlecht gewesen - grottenschlecht, aber nicht zu vergleichen mit den Ereignissen des Tages. Mit ihnen hatte sich mein Leben gewendet - zum Positiven - dennoch, es war einfach grauenhaft gewesen. Und das war es auch jetzt noch - fast sieben Jahre später. Am Rande nahm ich wahr, dass Fu mir mit einer Hand vor den Augen herum wedelte. Ich bemerkte es zwar, konnte aber nicht reagieren. Erst als Fu meinen Name sagte und mich mit seinem besorgten Blick - den man wirklich nicht häufig sah, Fu gehörte zu den Leuten, die sich nur selten Sorgen machten - musterte, tauchte ich aus meinen trübseligen Gedanken wieder auf. "Was ist?", fragte ich und es klang ziemlich erstickt. "Sen, ist alles in Ordnung?", erwiderte er wirklich besorgt und ließ mich keine Sekunde aus den Augen. "Ja klar. Ich war nur kurz in Gedanken.", sagte ich so locker wie möglich. "Das habe ich gemerkt. Na ja, Umi und Kia wollen Punsch machen. Möchtest du auch?" Ich sah zu Umi hinüber. Kias Platz war frei. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie gegangen war. "Gerne.", sagte ich dann zu ihr und lächelte. Es fiel mir etwas schwer. So ganz war ich wohl doch noch nicht in der Realität angekommen. Sie blickte noch einmal zwischen mir und Fu hin und her, dann verschwand sie in der Küche. Fu sah mich immer noch skeptisch an. Er war so ernst, wie ich ihn lange nicht mehr gesehen hatte. "Ich weiß woran du gedacht hast!", sagte er nach einem Moment. "Ja?" Ich tat unschuldig. Ich wollte nicht mit ihm darüber reden. Schon gar nicht an Weihnachten. "Du brauchst gar nicht so zu tun. Du starrst dann immer mit leeren Augen ins Weite.", beharrte er. Natürlich wusste ich, dass er wusste, woran ich gedacht hatte. Mir war selbst klar, dass ich sonst nie so abwesend war. Andere würde das wohl nicht auffallen, aber Fu kannte mich inzwischen so lange, dass er merkte, dass etwas nicht stimmte. Und er war auch der Einzige, der wusste, WAS nicht stimmte. Nur ihm hatte ich erzählt, was damals vorgefallen war. Das war schwer genug gewesen und ich hatte nicht vor es zu wiederholen. Ich seufzte tief. "Fu, du weißt es und ich weiß es. Also wo ist das Problem?" "Es gefällt mir nicht!", sagte er eindringlich. "Glaubst du mir?", bluffte ich ihn an. Fu zuckte zusammen. Ich hatte überreagiert und jetzt tat es mir auch schon wieder Leid. Ich brachte es nicht fertig ihn anzusehen. "Entschuldige. Du kannst ja nichts dafür, dass ich allein bin.", sagte ich leise. "Rede nicht so einen Stuss!", antwortete er aufgebracht. "Du hast doch MICH! Und Oma." Ich wusste, dass er Recht hatte und normalerweise war ich auch zufrieden, doch in diesem Moment war es in meinem Kopf nicht dasselbe wie Verwandte. Ich schwieg und sah ihn immer noch nicht an. "Nun komm schon", sagte Fu und pikste mich in die Seite. "Jetzt sei nicht so pessimistisch. Es ist Weihnachten!" Abermals drückte er mir den Finger in die Seite. Ich fluchte innerlich. Warum wusste der nur so genau, wo ich kitzelig war? Zwar versuchte ich ihn zu ignorieren, aber es gelang mir nicht. Irgendwann konnte ich mich nicht mehr halten und prustete los. Da ich sowieso verloren hatte, wollte ich mich mit einem Satz von ihm weg in Sicherheit bringen, aber Fu war ausnahmsweise mal schneller als ich. Er hielt mich fest und kitzelte mich solange durch bis ich vor Lachen kaum noch Luft bekam. Gemein eigentlich, aber in diesem Moment tat es gut. Meine Stimmung hatte sich deutlich gehoben. Die trübsinnigen Gedanken waren verschwunden. "Fu", sagte ich nach Luft ringend, "du bist der Beste!"
Der restliche Abend verlief gut. Wir tranken Punsch und verdrückten selbst gemachte Plätzchen, obwohl wir eigentlich noch vom Abendessen fast platzten. Umi und Kia konnte wirklich gut backen und man konnte kaum aufhören zu essen. Dabei erzählten wir uns wieder Geschichten. Wir hatten alle keine Lust uns noch einmal über etwas Persönliches zu unterhalten. Deshalb wählten wir Gruselgeschichten. Die machten normalerweise eh keinen Sinn. Eigentlich hatte ich vorgehabt mich einfach zurückzulehnen, aber Fu drängte mich solange bis ich doch eine Geschichte erzählte. Er sagte, ich könnte das so gut. Vielleicht stimmte das sogar. Jedenfalls machte es Spaß.
Als wir uns dann irgendwann doch dazu entschlossen schlafen zugehen, war es weit nach Mitternacht und inzwischen waren wir todmüde. Dennoch konnte ich nicht schlafen...
Freundschaft
Ich lag eine ganze Zeit wach. Obwohl ich eigentlich müde war, fand ich einfach keinen Schlaf. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere, aber dennoch gab es anscheinend keine Position, in der ich gemütlich lag. Ich war so schrecklich ruhelos. Keine Minute konnte ich einfach nur ruhig daliegen. Irgendwann hielt ich es dann überhaupt nicht mehr aus und stand auf. Einige Zeit lang lief ich von einer Seite des Zimmers zur anderen. Langsam wurde mir bewusst, dass es eine geistige Unruhe war, die mich wach hielt. Mein Unterbewusstsein ließ mich nicht einschlafen, weil ich Angst vor dem hatte, was ich träumen würde. Mir war klar, was für ein Traum mich verfolgen würde. Es war immer wieder derselbe. Ich seufzte abgrundtief und blieb vorm Fenster stehen. Es schneite immer noch, aber der Sturm hatte sich gelegt. Der Schnee rieselte langsam zu Boden. Und in diesem Moment wirkte es stark beruhigend auf mich. Ich setzte mich halb auf die Fensterbank und folgte mit den Augen einzelnen Schneeflocken bis sie am Boden nicht mehr von den anderen zu unterscheiden waren. Ich versuchte an nichts zu denken außer an den Schnee. Mit jeder Minute, die verging, wurde ich schläfriger. Und als ich mich dann irgendwann vom friedlichen Anblick draußen losriss um ins Bett zu gehen, hatte ich Schwierigkeiten dieses überhaupt zu erreichen, so müde war ich. Sofort nachdem ich mich hingelegt hatte, schlief ich ein. Ich hatte auf einen traumlosen Schlaf gehofft, aber der wurde mir nicht gewährt. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich ruhig geschlafen hatte, doch irgendwann holten mich meine Erinnerungen wieder ein.
Ich wusste, dass es ein Traum war - so wie jedes Mal -, aber ich konnte nur das tun, was ich damals vor etliche Jahren auch getan hatte: laufen. Ich fühlte den Regen auf meiner Haut, der innerhalb von Sekunden meine ganze Kleidung durchnässt hatte, hörte die Schritte und Rufe hinter mir und spürte die Angst, die mich trotz meiner Erschöpfung weitertrieb. Wie automatisch lief ich immer weiter, sprang hier über eine Mülltonne und dort über eine zerfallende Mauer, rannte immer mal wieder ein Stückchen im Zickzack durch die Gassen und manövrierte mich irgendwann in eine Sackgasse. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich hörte das Rauschen meines Blutes in den Ohren. Panisch sah ich mich um und entdeckte eine morsche Feuerleiter, die aufs Dach führte. Geschwind kletterte ich hinauf ohne weiter auf das bedrohlich Knacken der Leitersprossen zu achten. Oben angekommen, setzte ich meine Flucht fort. Waghalsig sprang ich von einem Dach zum anderen oder balancierte über dünne Holzplanken... Alles war genau wie damals. Es fühlte sich schrecklich real an und es erschien mir unglaublich, wie genau diese Stunden in meinem Kopf abgespeichert waren. Mein Körper war gefangen in diesem Traum, nur meine Gedanken waren frei, wenn man mal davon absah, dass sie stark von meiner Furcht beeinflussend wurden. Ich war dazu verdammt den Tag, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen würde, noch einmal zu durchleben. Als die Häuser endeten und ich am Fluss angekommen war, geschah etwas Seltsames: Ich hörte Fus Stimme. Eigentlich nichts ungewöhnliches, aber in diesem Traum kam Fu gar nicht vor. Merkwürdig. Kurz nachdem ich gesprungen war, spürte ich ein Rütteln an meiner linken Schulter. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Fu versuchte mich aufzuwecken. Ich versuchte krampfhaft meine Augen, die ich während des Sprunges geschlossen hatte, zu öffnen. Es gelang mir, ich blickte genau in Fus strahlendblaue Augen. Er musterte mich besorgt. Der erste Teil von mir war wieder in der Wirklichkeit angekommen. "Alles in Ordnung?", fragte er. Ich wollte antworten, aber meine Stimme gehorchte mir nicht. Also nickte ich nur. Fu blickte mich skeptisch an. "Du zitterst wie Espenlaub", sagte er mit einem komischen Unterton. Ich wusste nicht, ob es einfach nur eine Feststellung sein sollte oder ob es ein Hinweis war, vielleicht wollte er damit auch nur ausdrücken, dass er mir nicht glaubte. Er seufzte, als ich nicht antwortete. "Warte einen Moment. Ich hol von unten noch eine zweite Decke." Mit diesen Worten wickelte er mich in die Bettdecke und verschwand dann aus dem Raum. Die Decke war warm, aber ich fröstelte trotzdem. So als wäre ich wirklich in das eiskalte Wasser des Flusses gesprungen. Ich kuschelte mich noch tiefer ins Bett und bemerkte dabei, dass ich gar kein Kopfkissen hatte. Ich griff rüber auf Fus Seite und nahm es mir. Es war total kalt, stellte ich verwundert fest. Dann wurde mir klar, woran das lag. Eigentlich passte alles zusammen. Fu, der mitten in der Nacht normalerweise seine Tiefschlafphase hatte, in der man ihn so gut wie gar nicht aufwecken konnte, aber jetzt trotzdem wach war und das kalte Kopfkissen. Ich seufzte. "Du hast mich mal wieder als Kopfkissen benutzt!", sagte ich zu Fu, der gerade mit zwei Decken zurück in Zimmer kam. Fu legte den Kopf etwas schief und grinste mich mit seinen typischen Fu Grinsen an. Ich spürte regelrecht, wie ein weiterer Teil von mir wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrte. Abermals seufzte ich. "Sorry", sagte er, "aber du weißt doch, dass ich diese Labberdinger nicht mag. Deshalb hab ich auch noch ne zweite Decke mitgebracht." Fu faltete sie so, dass wir sie als Kopfkissen benutzen konnten. Ich starrte die ganze Zeit auf die andere Decke und aus ihr starrte es zurück. "Fu, in der anderen sitzt der Hase" Er blickte erst zur Decke und sah mich dann unschuldig an. "Tatsächlich, was für ein Zufall." "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir das abkaufe, oder?" Fu kletterte wieder ins Bett und nahm sich die Decke samt Hase. "Fu, das ist doch nicht wirklich dein Ernst?", fragte ich drohend. "Wieso nicht? Der Kleine hatte solche Angst alleine. Du glaubst gar nicht, wie freudig er auf mich zugehumpelt ist. Da konnte ich ihn einfach nicht zurücklassen.", erklärte er und schaute mich mit seinem treuherzigen Dackelblick an. Ein weiterer Teil kehrte in die Realität zurück. "Er kann nicht im Bett schlafen", erwiderte ich energisch. "Wieso nicht?" "Wie würdest du es finden, wenn ein Hase in deinem Bett schlafen würde?" "Nicht schlimm." Ich seufzte. Dann eben anders. "Stellt dir vor, du wärst ein Mädchen." Fu blickte mich skeptisch an. "Wie würdest du es dann finden?" "Nicht schlimm?" Wieder entwich mir ein Seufzer. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich schlug mir mit der Handfläche gegen die Stirn. Das-war-mal-wieder-typisch-Fu! "Fu, erinnerst du dich noch daran, wie du dich beim DVD-Abend bei Funny auf ihr Bett geschmissen hast und Kekse gegessen hast." Fu verzog das Gesicht. Er erinnerte sich wohl sehr genau. Funny war ausgerastet und zwar so richtig. "Nicht schön." "Okay, was denkst du wie Funny reagieren würde, wenn ein Hase in ihrem Bett schlafen würde?" "Das stell ich mir lieber gar nicht erst vor!" "Und denkst du Kia und Umi werden anders reagieren?", fragte ich mittlerweile genervt. "Ich bezweifel es", meinte er seufzend und blickte in seinen Schoß, wo der Hase saß. "Sen, guck mal", sagte er dann mit einem sehr komischen Unterton. Neugierig blickte ich ihn an. Er drehte den Hasen so, dass er mich ansah. Ich gab einen zugleich ungläubigen und genervten Ton von mir und zog mir die Decke über den Kopf. Das war ja kaum zu glauben. Der Hase hatte mich mit einem fast so treuherzigen Blick angesehen, wie sonst Fu es nur tat. "Dein schlechtes Verhalten färbt ab!", nuschelte ich unter der Decke. "Ich weiß gar nicht was du meinst", gab er unschuldig zurück. Ich riss die Decke zurück und setzte mich auf. "Gut", sagte ich langsam und kontrolliert, "lass uns einen Kompromiss machen." Fu sah mich fragend an. "Der Hase kann hier bleiben, aber nur wenn du den Korb hochholst und er in dem schläft", sprach ich meine Bedingung aus. "Einverstanden!" Mit diesen Worten verschwand Fu samt Hase und kam keine Minute später samt Hase und Korb wieder. Er redete gerade auf ihn ein. "Du kannst gerne bei uns bleiben, aber du schläfst im Korb", sagte er, während er den Korb auf den Nachttisch stellte. "Sonst werden Kia und Umi sauer." "Sonst stecken Kia und Umi dich in den Kochtopf.", verbesserte ich. Der Hase blickte mich aus großen Augen an. "Bleib einfach schön im Korb, dann passiert dir nichts.", erklärte ich und ließ mich wieder zurück ins Bett sinken. "Sen", sagte Fu entgeistert. "Was denn?", entgegnete ich unschuldig. Als ich aufblickte, sah ich, dass Fu verschmitzt lächelte. Auch der letzte Teil von mir kehrte aus meinen Erinnerungen zurück. "Dein Humor ist manchmal wirklich gewöhnungsbedürftig!", meinte Fu, als wir Schulter an Schulter nebeneinander lagen. "Deiner auch!" Er lachte. "Das mag schon sein", sagte er nach kurzer Zeit. "Geht es dir jetzt wieder besser?" "Ja!", antwortete ich und wusste dabei, dass der Traum mich heute nicht wieder verfolgen würde. "Das ist gut!", meinte Fu aufrichtig. "Ich bin froh, dass du mein Freund bist, denn du bist der beste, den man sich wünschen kann.", murmelte Fu schläfrig. "Danke!", erwiderte ich leise.
Am nächsten Morgen schien die Sonne. Wir konnten ins nächste Dorf laufen und von dort aus Oma anrufen. Umi und Kia kamen mit. Genauso wie der Hase. Fu hatte ihn unbedingt mitnehmen wollen. Er hatte mich wieder mit seinen verdammten Dackelblick angesehen. Ich ignorierte ihn einfach und drückte mich mit den Worten: "Klär das mit Oma!" vor einer Diskussion. Erstens hatte ich da wirklich keine Lust zu und zweitens war es letztendlich sowieso Oma, die es ihm erlaubte oder eben verbot. Oma war unglaublich erleichtert, als ich sie vom Nachbardorf aus anrief. Sie versprach, solange bei den Rettungskräften Druck zumachen bis die uns mit einem Helikopter abholen kamen. Sie konnte leider nicht mit dem Auto kommen, da die Verbindungsstraße verschüttet worden war. Wie gut Oma darin war, anderen Leuten Feuer unterm Hintern zu machen, zeigte sich daran, wie schnell der Hubschrauber bei uns war. Oma kam uns sofort entgegen gestürmt und wir wurden erst mal gaaaanz fest gedrückt. In ihrer Erleichterung ließ sie sich leicht von Fu überreden, dass er den Hasen mitnehmen durfte. Er strahlte danach übers ganze Gesicht. Zum Schluss verabschiedeten wir uns von Kia und Umi. Wir ließen ihnen unsere Adresse da und die beiden versprachen mal vorbei zuschauen. "Wenn wir das nächste Mal abhauen müssen, dann stehen wir bei euch auf der Matte! Verlasst euch drauf!", hatte Umi gesagt. Und wir vier hatten wieder mal alle lachen müssen.
Die Tage nach Weihnachten
Ich erinnere mich nur allzu gut an den ersten Schultag nach den Weihnachtsferien vor sechs Jahren. Fu und ich waren wie jeden Tag spät dran und in unserem Klassenzimmer waren die Gespräche über Weihnachten, eher gesagt, über die Weihnachtsgeschenke, schon im vollen Gange. Damals konnte ich kaum glauben, was ich hörte. Einige hatten dutzende Geschenke bekommen und maulten jetzt immer noch herum, dass einige ihrer Wünsche nicht in Erfüllung gegangen waren. Ich war wirklich sprachlos und konnte nur den Kopf schütteln. Für mich waren die Weihnachtstage alleine ein einziges Geschenk gewesen. Die Tatsache, dass überhaupt jemand mit mir zusammen Weihnachten feierte, war unglaublich wunderschön gewesen. Ich hatte nur eine Sache bekommen, die für meine Klassenkameraden in die Kategorie ‚Geschenk' gehörte. Fu und Oma hatten mir die gesamte ‚Herr der Ringe' - Trilogie geschenkt und danach war ich, für mein Empfinden, der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt gewesen. Deswegen hatte ich beim besten Willen nicht begreifen können, dass andere, die noch mehr bekommen hatten und noch dazu eine Familie hatten mit der sie die Weihnachtstage verbringen konnten, nicht zufrieden waren. Seitdem waren meine Gefühle ihnen gegenüber zweigeteilt, einerseits taten sie mir etwas Leid, weil sie nicht zu schätzen wussten, wie gut sie es hatten und auf der anderen Seite beneidete ich sie auch, da sie von ihren Eltern wohl gehütet und geliebt aufwuchsen.
Die Erinnerung an diesen Tag tauchte plötzlich in meinen Gedanken auf. Wie jedes Jahr, wenn ich nach den Festtagen wieder in unser Klassenzimmer trat. Heute war das Gesprächsthema, wie immer am ersten Schultag nach Weihnachtsferien, mal wieder Geschenke. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe hinzuhören. Es war eben jedes Jahr das gleiche. Inzwischen regte ich mich nicht mehr darüber auf. Schon gar nicht nach diesem Weihnachtsfest. Es war einfach zu schön gewesen, als dass ich es mir jetzt verderben würde, weil ich mich über diese materiell orientierten Menschen ärgerte. Sie kannten es einfach nicht anders, dachte ich, und das war eigentlich schade.
"Sen! Fu!" Diese Worte rissen mich aus meinen Gedanken. Funny kam gerade ins Klassenzimmer gestürmt. Sie hatte zwei kleine Geschenke in der Hand. "Frohe Weihnachten!", sagte sie und reichte Fu und mir je ein Päckchen. "Ist zwar ein bisschen spät, aber früher ging's nicht. Ihr wisst ja, dass ich an dem Tag weggefahren bin, als ihr wiedergekommen seid." "Danke!", sagten wir aus einem Munde und machten uns daran das Geschenk zu öffnen. "Wie war denn euer Urlaub?", fragte Fu. Funny verzog etwas den Mund. "Eigentlich ganz okay. Ich hatte nur wieder Ärger mit meinem Bruder." "Also das übliche.", bemerkte ich. Sie lachte. "Ja, so könnte man das sagen." "Was ist das?" Fu hatte das Geschenkpapier einfach aufgerissen und hielt nun eine Kette in der Hand. An ihr baumelte ein Anhänger, der ungefähr die Form eines Schneekristalls hatte. Als ich mein Packet öffnete, kam mir ein sternförmiger Anhänger samt Kette entgegen. "Das Amulette kann man öffnen", erklärte sie. "Da sind Fotos von euch drin. Ich dachte sowas fehlt euch noch. Eigentlich wollte ich ja 'nen Herz nehmen, da ihr euch ja öfter mal benehmt wie ein altes Ehepaar." "Na danke", erwiderten wir. "Seht ihr, das meine ich unteranderem. Jedenfalls hab ich mir gedacht, dass ihr die Ketten dann eh nicht tragen würdet. Also hab ich mich halbtot gesucht, bis ich endlich die Schneeflocke und den Stern gefunden hab." "Danke, das war eine schöne Idee", sagte ich. Fu hatte sich die Kette schon umgemacht. Ich tat es ihm gleich. "Freut mich, wenn es euch gefällt", meinte Funny strahlend. "Ich muss jetzt los, sonst komm ich zu spät zum Unterricht. Wir sehen uns in der Pause." "Bis nachher!", rief Fu ihr noch nach. Ich drehte den Anhänger in meinen Finger. Es war wirklich ein schönes Geschenk. Und man hatte Funny angesehen, dass es wirklich von Herzen kam. SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle
Weihnachtsgeschichten von Patricia Koelle
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