Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
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Keine Zeit - oder Ein Lächeln zu Weihnachten

© Erika Hemmersbach

Georg Schwarz stand vor seinem Schlafzimmerspiegel und zog die Krawatte glatt. Er hatte heute den silberfarbenen Seidenschlips gewählt, der vorzüglich zu seinem dunkelblauen Blazer und der hellgrauen Hose passte. Zumindest hatte die Verkäuferin in dem Herrenausstattergeschäft nach langem Suchen endlich den richtigen Schlips gefunden. Georg ertappte sich lächelnd dabei, dass er leise ein Weihnachtslied vor sich hin pfiff. Nachdenklich betrachtete er sich. Sein Spiegel zeigte ihm einen gepflegten Mann in vorgerückten Jahren. Das dunkle Braun seiner Haare ging an den Schläfen in silbernes Grau über. Noch waren seine Haare dicht und Georg legte großen Wert auf einen akkuraten Schnitt. Kleine Fältchen lagen um seine Augenwinkel, Krähenfüße nannte man die wohl. Seine Gesichtshaut war von den vielen Spaziergängen in der Herbstsonne noch leicht gebräunt und sah gesund aus. Georg knöpfte das Jackett zu, drehte sich einmal um sich selbst, erblickte selbstzufrieden seine sehnig-athletische Figur, überlegte kurz und griff dann nach dem Zerstäuber mit dem neuen Herrenduft, den ihm Marion geschenkt hatte. Er blickte auf die Uhr und seufzte leise. Er hatte noch eine gute Stunde Zeit, bis der Weihnachtsgottesdienst begann. Georg setzte sich in seinen Lieblingssessel am Fenster, nahm die Tageszeitung zur Hand und blätterte mechanisch darin herum. Die Nachrichten interessierten ihn heute nicht. Isabella kam herbeigeschnurrt, strich zärtlich um seine Beine, sprang dann auf seinen Schoß und rollte sich gemütlich zusammen, wobei sie viele weiße Haare auf seiner grauen Hose hinterließ. Georg kraulte ihr sanft den weichen Nacken und legte die Zeitung beiseite. Blicklos starrte er eine Weile hinaus in den Garten, während seine Gedanken zurückwanderten. Vor einem Jahr hatte seine Welt noch ganz anders ausgesehen.

Lange Jahre hatte Georg Schwarz zufrieden in seiner kleinen Doppelhaushälfte gewohnt. Seine Nachbarn waren ein älteres Ehepaar, das sehr still für sich lebte und bis auf wenige sommerliche Kontakte im Garten sehr zurückhaltend blieb. Georg selber übte einen anstrengenden Beruf aus und war froh, wenn er spätabends endlich seine Ruhe hatte. Bekannte oder Freunde oder gar eine Familie erlaubte er sich aus zeitlichen Gründen nicht. Sein Beruf war sein Lebensinhalt und für die Firma hatte er viele unbezahlte Überstunden erledigt. Er fühlte sich wichtig und unentbehrlich.

Georg erinnerte sich wieder an den schlimmen Tag, als der Personalchef zu ihm kam und ihm dringend nahe legte, seine Frührente einzureichen. Die Firma baute aus Kostenersparnis Personal ab und bot den langjährigen Mitarbeitern eine Abfindung an. Georgs Welt brach zusammen. Er wurde nicht mehr gebraucht, sondern einfach wegrationalisiert. Er hatte dann nach längerem Zögern und gründlichen finanziellen Überlegungen der Rente zugestimmt und saß nun plötzlich beschäftigungslos und verbittert alleine zu Hause. Seine Nachbarn gingen zur gleichen Zeit in ein Seniorenheim und die leer stehende Haushälfte wurde nach längerem Renovieren zur Miete angeboten. Georg hatte sich über die Lärmbelästigung der Handwerker aufgeregt, einen heftigen Beschwerde-Briefwechsel mit der ausführenden Firma geführt und außerdem die Arbeiten behindert, wo er nur konnte. Überall in der Siedlung war er bald als Griesgram bekannt, der den ganzen Tag nur nach Fehlern seiner Mitmenschen suchte, um sich dann darüber zu beschweren. Die Grüße der Nachbarschaft blieben bald aus, man mied ihn, und wich ihm aus, sobald er in die Nähe kam.

Im Sommer stand dann eines Morgens ein Möbelwagen vor der Tür des Nachbarhauses. Eine junge Familie zog in das leer stehende Gebäude ein. Georg beobachtete den Einzug verstohlen hinter der Gardine stehend und bemerkte voller Entsetzen zwei kleine Mädchen, offenbar Zwillinge. Er hasste Kinder, weil sie nur Lärm und Unruhe mit sich brachten. Als schließlich auch noch ein Klavier in das Haus getragen wurde, war er außer sich vor Empörung. Denen wollte er gleich zeigen, wer hier die älteren Rechte besaß. Am nächsten Morgen schellte die junge Frau bei ihm und wollte sich vorstellen. Sie sprach ein wenig gebrochen Deutsch und erklärte, dass sie Aussiedler aus Weißrussland seien. Georg nutzte direkt die günstige Gelegenheit, um ihr zu erklären, dass man in Deutschland Ruhe schätzte und die Kinder gefälligst keinen Lärm zu machen hätten. Er wollte abends Ruhe haben und auch nachmittags nicht durch Klavierspiel gestört werden. Die junge Frau erwiderte ihm daraufhin, dass sie in einer Musikschule Klavierunterricht geben würde und auch tagsüber üben müsste. Ihr Hinweis auf das Klavierspiel ihrer Kinder kam für ihn einer Kriegserklärung gleich. Den ganzen Sommer über ärgerte er sich über das vergnügte Lachen der Mädchen in dem benachbarten Garten und schimpfte lauthals über die Ruhestörungen und unmöglich erzogene unverschämte Gören. Wenn er Klavierspiel hörte, klopfte er mit einem Besenstiel gegen die Wand und brüllte lauthals "Ruhe!" Nach einiger Zeit verstummte das Lachen der Kinder. Sie betraten den Garten kaum noch und wichen ihm scheu aus, wenn er sie zufällig vor der Haustüre traf. Auch von dem "Geklimper", wie er es nannte, wurde er nicht mehr gestört. Georg unternahm jeden Nachmittag einen längeren Spaziergang und vermutete, dass die Nachbarn in der Zwischenzeit auf dem Klavier üben würden. Als sie ihm keinen Grund mehr für weitere Aggressionen gaben, war ihm das jedoch auch nicht recht. Georg wurde immer mürrischer und unzufriedener mit sich und der ganzen Welt.

So kam die Adventszeit heran und Weihnachten, das Fest der Liebe rückte unerbittlich näher. Überall leuchteten liebevoll geschmückte Häuser. Kerzen brannten, Sterne funkelten aus dunklem Tannengrün hervor, das mit roten Herzen und Schleifen besteckt war. Auch die Nachbarn hatten ein kleines Tännchen vor der Hautür mit elektrischen Kerzen verschönert. Hell leuchtete das Bäumchen in die Nacht hinaus. Georg wollte es sich nicht eingestehen, aber er freute sich doch über den kleinen Lichtschein, wenn er von seinen Spaziergängen nach Hause kam. Seine Haushälfte blieb dunkel und ungeschmückt. Noch nie hatte er für diesen "Weiberkram" etwas übrig gehabt. Wenn er aber beim Nachhausekommen durch das erleuchtete Fenster die Nachbarfamilie am Tisch sitzen sah, die Mutter den Kindern liebevoll über die Haare strich oder ein großes Vorlesebuch aufschlug, fühlte er sich doch seltsam innerlich berührt. Im Büro hatte er mit den Kollegen Gespräche führen können, zwar meistens beruflicher Natur, aber jetzt vergingen die Tage, ohne dass jemand ein Wort zu ihm sprach. Die Einladung seines ehemaligen Betriebes zur Weihnachtsfeier hatte er gleich in den Mülleimer geworfen. Was sollte er dort, sie wollten ihn ja nicht mehr. Einsam und verbittert verkroch er sich in seinem Haus.

Einige Tage vor Weihnachten klingelte es abends an seiner Haustür. Als er öffnete, stand seine junge Nachbarin mit einem großen selbstgebackenen Hexenhaus im Eingang. Viele bunte Schokoladentaler und Kekse lachten lustig vom Dach und den Wänden. In der geöffneten Lebkuchentür stand das kleine Figürchen eines Zauberers, der auf seiner mit Monden bemalten Schulter eine weiße Katze trug. Die junge Frau lächelte Georg freundlich an, drückte dem Verblüfften das Häuschen in die Arme und meinte "Dies haben meine Mädchen für Sie gemacht. Sie sind traurig, weil Sie immer so alleine sind und wollten Ihnen zu Weihnachten eine Freude machen." Beschwichtigend hob sie die Hand, als er aufbrausen wollte. "Nehmen Sie es doch ruhig an, es verpflichtet Sie zu nichts. Ich wünsche Ihnen eine frohe Adventszeit und ein gesegnetes Weihnachtsfest!" Sie wartete noch einen Augenblick, aber als Georg nichts sagte und sie nur verblüfft anstarrte, drehte sie sich um und ging zu ihrem Haus zurück. Georg hörte leise Kinderstimmen, die ihre Mutter etwas fragten. Dann schloss sich die Tür hinter ihr. Georg wollte in einem ersten Impuls das Häuschen in die Mülltonne werfen, aber als er einen Schritt in die Richtung tat, sah er zu seinem Erstaunen, dass sich die kleinen Figuren bewegten. Der Zauberer drohte ihm mit der Faust und die Katze machte einen Buckel und fauchte ihn an. Kopfschüttelnd trug Georg das Hexenhäuschen ins Haus und stellte es auf seinem Wohnzimmertisch ab. Gleich wirkte das kühle Zimmer viel freundlicher. Georg versuchte sich vor sich selber zu rechtfertigen und brummte "Da haben sich die Mädchen aber viel Mühe gemacht!" Er erinnerte sich, dass er von seiner Mutter noch eine gestickte Weihnachtsdecke besaß. Nach längerem Suchen fand er sie auch in den Tiefen seines Wohnzimmerschrankes und breitete sie auf dem Beistelltisch aus. Dann stellte er vorsichtig das kleine Häuschen darauf. Die Figuren standen still und er hatte den Eindruck, dass ihn der Zauberer anlächelte. Georg rieb sich die Augen. Das konnte doch nicht möglich sein. Er hatte doch nur einen Cognac getrunken oder litt er bereits an Wahnvorstellungen? Der einsame Mann betrachtete das Häuschen genauer. Liebevoll waren die Fenster mit Zuckerguss verziert, sogar Fensterläden aus Marzipan besaß das Hexenhaus. Aus dem Schornstein rauchte weiße Watte und in dem Garten standen Marzipanbäume und Tiere. Ein rosa Ferkel hielt ein grünes Glückskleeblatt in der Schnauze und sogar ein Schornsteinfeger war zu sehen, der ihm mit seiner kleinen Leiter fröhlich zuwinkte. Wieder wischte sich Georg über die Augen, es musste ihm wohl etwas hinein geflogen sein, denn sie brannten und eine Träne kullerte verstohlen aus seinem Augenwinkel herab. Energisch benutzte er sein Taschentuch, räusperte sich und sagte laut: "Blödsinniger Kinderkram!" Dann goss er sich noch einen Cognac ein und beschloss schlafen zu gehen.

In der folgenden Nacht wachte Georg durch ein Geräusch unten in seinem Wohnzimmer auf. "Einbrecher", war sein erster Gedanke. Er zog schnell seinen Bademantel über, denn in seinem Haus war es kalt geworden, und schlich die Treppe hinunter. Wie groß war sein Erstaunen, als er im Wohnzimmer den Zauberer aus dem Lebkuchenhäuschen in voller Lebensgröße erblickte. Dessen imponierende Gestalt stand würdevoll vor dem Kamin, während die Katze es sich auf Georgs Lieblingssessel gemütlich gemacht hatte. Georg wollte zutiefst empört aufbegehren und ging drohend auf den Zauberer zu. Eine lässige Handbewegung scheuchte ihn jedoch zu einem freien Sessel, in dem er sich dann, über sich selber erstaunt, brav sitzend wieder fand.

"So", sagte der Zauberer mit tiefer hallender Stimme, "jetzt hörst du mir zu, was ich dir zu sagen habe!"

Georg schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. "Was soll das hier? Was bilden Sie sich ein. Sie brechen in mein Haus ein und kommandieren mich herum? Ich rufe jetzt die Polizei!"

"Schweig still", donnerte der Zauberer und kam mit bedrohlich mit wallendem Gewand auf Georg zu. Die Katze machte einen Buckel, bleckte ihre Zähne und fauchte giftig. "Du hast genug Leid verursacht und ich bin geschickt worden, um dich zu warnen!"

"Wovor warnen? Wovon sprechen Sie überhaupt?", stotterte Georg verängstigt. Dann räusperte er sich. "Was kann mir denn noch Schlimmes geschehen? Ich habe mein Leben lang pflichtbewusst gearbeitet und bin dafür einfach weggekürzt worden. Ich bin ein unliebsamer Kostenfaktor gewesen, sonst nichts. Keiner in der Firma hat mir je für die erwiesenen Dienste gedankt. Ich habe alles verloren, was für mich Bedeutung hatte. Mein Leben hat keinen Sinn mehr. Wovor wollen Sie mich denn noch warnen?" Er wiederholte: "Was soll mir jetzt noch Schlimmes passieren?"

Der Zauberer wurde rot vor Zorn und seine Stimme dröhnte tief und gefährlich. "Hör auf mit diesem sinnlosen Geschwätz. Ich warne dich vor dir selber und vor der Zukunft, die du dir selbst erschaffst. Sieh dich doch an! Was ist aus dir geworden! Ein Griesgram, ein Miesepeter, ein Fiesling! Du verursachst bewusst, dass deine Mitmenschen leiden oder in Schwierigkeiten geraten und du freust dich sogar noch darüber. Das Leid, das du verursachst, wird zehnfach auf dich zurückfallen."

Georg begehrte auf: "Nein, ich sehe nur, dass alles seine Ordnung hat."

"Wessen Ordnung? Deine? Wann hast du das letzte Mal gelacht, geweint, dich um jemanden gesorgt oder geliebt?" Der Zauberer sah Georg streng in die Augen.

Letzterer rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. Er wollte nicht antworten, fühlte aber den Zwang, sich vor dem Zauberer zu rechtfertigen. "Meine Arbeit", brachte er schließlich mühsam hervor, "Meine Arbeit hat mir keine Zeit für andere Dinge gelassen."

"Und deshalb hat man dich dann entlassen? Weil du so unentbehrlich warst? Georg, Georg, du hast dein Leben fast vertan. Steh auf, geh in die Diele und blicke dort in den Spiegel!" Der Zauberer deutete mit der Hand auf die Wohnzimmertür.

Sie schwang auf und Georg fand sich vor dem Spiegel wieder. Er blickte hinein und zuckte zusammen. Das war er? Tiefe Linien zogen sich von seinen Mundwinkeln herab. Seine Haut war grau und schlaff, die Augen trüb und ohne Leben. Ein verbitterter und verbiesterter alter Mann sah ihn aus dem Spiegel heraus an. Georg erschrak heftig. So hatte er sich bisher noch nicht gesehen. Er war doch erst Anfang Sechzig und fühlte sich noch als ein Mann in den besten Jahren. Wirklich? Der Stachel saß. Lange sah Georg in sein freudloses Spiegelbild. Je länger und genauer er es betrachtete, desto mehr schien sich der mürrische Ausdruck zu verstärken und sich tiefe Furchen in sein Gesicht einzugraben. Zeigte ihm der Spiegel etwa seine Zukunft? Sollte sie so einsam, leer und so entsetzlich kalt sein? Mit Tränen in den Augen kehrte er in das Wohnzimmer zurück. Seine Stimme war leise und kaum hörbar, als er den Zauberer fragte "Ist das mein Leben?" Georg sank in einem Sessel zusammen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Sanft erwiderte der Zauberer "Noch ist es nicht zu spät. Du kannst einen Neubeginn starten. Das Mitleid zweier kleiner Mädchen mit einem verbitterten alten Mann hat mich zu dir geschickt. Ihre Herzen sind voll von Liebe", als Georg ihn ungläubig anstarrte, nickte der Zauberer, sah dann Georg ernst an und bestätigte "ja, auch für dich. Du musst sie dir nur verdienen. Nutze deine Zeit gut, noch kannst du alles verändern, auch dich selber. Dein Glück liegt in dir. Du kannst es herauslassen oder für immer begraben." Nach diesen Worten verblasste die Gestalt des Zauberers und verschwand. Nur die Katze saß aufrecht auf dem Polster und sah den unglücklichen Mann aufmerksam an.

Georg ging in dieser Nacht nicht mehr ins Bett. Er saß zusammengekrümmt auf seinem Sessel und sein ganzes Leben zog im Geiste an ihm vorbei. Seine unbeschwerte glückliche Jugend auf dem Land. Wie hatte er seine Eltern geliebt. Leider waren beide früh bei einem Autounfall gestorben. Georg hatte zu dieser Zeit schon in seinem eigenen Haus gelebt und seine Eltern nur selten besucht. Seine Beschäftigung in der Firma nahm ihn voll und ganz in Anspruch. Um den Kummer über den Verlust der Eltern zu ersticken, stürzte er sich noch mehr in die Arbeit und ließ keine Zeit für unerwünschte traurige Gedanken aufkommen. Freundinnen hatte er nicht gehabt, so ab und zu einen kleinen Flirt, aber mehr wollte er nicht. Aus Zeitgründen, wie er sich immer sagte. Jetzt fühlte er, dass sein Leben doch einsam war, ohne Liebe und ohne Freundschaft. Sollte es so weitergehen? Als ob sie seine Gedankengänge mitverfolgt hätte, sprang die Katze bei dieser Überlegung von ihrem Sessel, stolzierte zu Georg und landete mit einem Satz auf seinem Schoß. Unverwandt sah sie ihn aus leuchtenden Augen an. Georg strich ihr über den Kopf "Du willst mir etwas sagen. Hat er dich deswegen bei mir zurückgelassen? Sollst du auf mich aufpassen? Du bist sehr hübsch und ich werde dich Isabella nennen." Die Katze schnurrte und rieb ihren Kopf an Georg Händen. Überrascht und gerührt von dieser zärtlichen Geste streichelte er behutsam ihr weiches seidiges Fell. Georg wurde es warm ums Herz. Es fühlte sich an, als ob eine eisige Hülle abgefallen wäre "Wenn du möchtest, kannst du bei mir bleiben", flüsterte er schließlich. Isabella rollte sich wie als Antwort zusammen und schlief auf seinem Schoß ein. Georg wagte nicht, sich zu rühren, um die schlafende Katze nicht zu stören. Ihre Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Georg lächelte still vor sich hin. Er merkte nicht, dass sein Kopf an die Sesselkante rutschte und ihm die Augen zufielen. Im Traum sah er sich in seinem Büro arbeiten und nachts Akten bearbeiten, die er auch ruhig noch hätte liegenlassen können. Mit der Klarheit des Träumenden erkannte er, dass er sich nur so stark in seine Arbeit gestürzt hatte, weil er Angst vor seinem dunklen leeren Haus gehabt hatte, wo niemand auf ihn wartete, Angst vor den langen einsamen Abenden daheim, Angst vor den Sonn- und Feiertagen, an denen die Stunden zäh wie dickflüssiger Sirup dahin krochen, Angst vor dem Kontakt zu anderen Menschen, weil er Zeit kostete. Zeit, die ihm dann für seine Arbeit gefehlt hätte. Im Traume meinte Georg wieder die Stimme des Zauberers zu hören: "Hattest du keine Zeit oder wolltest du nicht, hatte die Zeit dich vielleicht voll im Griff und du warst ihr Sklave? Jetzt hast du Zeit, nutze sie, denn sie schwindet mit jedem Tag dahin!"

Georg erwachte mit einem Ruck. Hinter den Bäumen ging gerade eine rote Wintersonne auf und überhauchte den Schnee mit einem rötlichen Schimmer. Schon nach 8 Uhr, da hatte er aber lange geschlafen! Und er hatte so merkwürdige Dinge geträumt! Georg wollte schlaftrunken aus dem Bett springen, erkannte aber zu seiner Verwunderung, dass er steif und unbequem in seinem Sessel saß. Eine schneeweiße Katze saß auf seinem Schoß, sprang dann unwillig miauend hinunter und blickte auffordernd zur Terrassentür. Georg öffnete sie und trat ein paar Schritte hinaus. Die kühle Morgenluft erfrischte ihn und scheuchte den Nebel aus seinem Kopf. Dann hatte er also doch nicht geträumt. Die Katze setzte gerade ein sehr reales Häufchen unter seine gepflegte Tanne, machte einen besitzergreifenden Rundgang durch seinen Garten und stolzierte dann wieder ins Warme. Georg folgte ihr. Sein Blick fiel auf das niedliche Hexenhäuschen, das die Mädchen ihm geschickt hatten. Die Figürchen des Zauberers und der Katze waren verschwunden. Er sah ein dickes rosa Marzipanschweinchen mit einem grünen Glückskleeblatt in der Schnauze, das ihn angrinste und einen fröhlichen Schornsteinfeger, sonst nichts. Die Katze auf dem Teppich schien zu lächeln und ihre grünen Augen schimmerten vergnügt. Eine kleine rote Zunge erschien und Georg meinte in Gedanken ein "Ätsch" zu hören. Er nahm das Kätzchen auf den Arm und drehte sich mit ihr im Kreis, wobei er einen Walzer vor sich hin pfiff. Der Mann hatte das Gefühl, als ob eine schwere Last wie eine Hülle von ihm abfiel. Er fühlte sich jung und unbeschwert. "So, jetzt ist es Zeit, dass ich mich fertig mache. Du brauchst auch etwas zu essen!" Unaufgefordert wanderte das Tier zur Küche und setzte sich dann abwartend hin. Georg musste lachen. "Na, du hast auch Hunger, nicht wahr, meine Kleine?" meinte er dann und öffnete suchend die Kühlschranktür. Als er mit seiner dampfenden Kaffeetasse am Tisch saß, Isabella zufrieden Milch schlabberte und anschließend eine große Scheibe Wurst verspeiste, fühlte Georg sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Wieder meinte er, dass eine Last von ihm abfiel. Er redete mit dem Kätzchen und machte Pläne für den kommenden Tag. Schließlich fragte er die Katze "Was meinst du, sollte ich mich nicht bei den kleinen Mädchen bedanken, weil sie mir die Augen geöffnet haben? Ob sie mir wohl böse sind? Ich wage eigentlich gar nicht, dort zu klingeln. Hmm, vielleicht sollte ich ihnen etwas mitbringen. Viel Geld scheinen sie ja nicht zu besitzen." Isabella putzte sich, hielt kurz inne und sah ihn zustimmend an. Georg strich ihr wieder über ihren kleinen Kopf. "Der Zauberer hat dich zurückgelassen, damit du auf mich aufpasst, nicht wahr? Dafür muss ich ihm danken."

Georgs Tag verlief wie im Fluge. Er ging einkaufen, unterhielt sich am Katzenfutterstand mit einigen Frauen, die ihm von ihren Lieblingen berichteten und wertvolle Tipps zur Pflege seiner Katze gaben. Dann suchte er umständlich in einer Bücherei nach einer schönen Ausgabe von Feenmärchen. Endlich gefiel ihm ein älteres, reich illustriertes Buch. Besonders die Darstellung eines Zauberers, der in seinem blauen, mit goldenen Monden reich bestickten Gewand sehr prächtig aussah, hatte es ihm angetan. Georg erinnerte sich daran, dass seine Mutter ihm als Kind immer Geschichten aus einem ähnlichen Buch vorgelesen hatte. Mit dem Buch unter dem Arm und einem Weihnachtssternblumentopf in der Hand klingelte er nachmittags bei seinen Nachbarn. Die Mädchen öffneten ihm und waren offenbar überhaupt nicht erstaunt ihn zu sehen. Sie tauschten einen schnellen verständnisvollen Blick und sahen ihn dann freudestrahlend an. Auf Einladung der Mutter blieb Georg den Nachmittag bei ihnen, las aus dem Buch vor und freute sich an den großen Augen der Mädchen, die sich ängstlich hinter dem Rücken der Mutter verkrochen, wenn Prinzessinnen von bösen Feen verwandelt wurden oder beifällig lachten, wenn mutige Prinzen zu Heldentaten aufbrachen um die Verzauberten zu retten. Es wurde anschließend noch ein vergnügter Abend daraus, als der Vater nach Hause kam und in der Küche Glühwein braute. Nach einer Tasse des dampfenden Getränkes nahm Georg sogar die Einladung der Nachbarn an, mit ihnen den Heiligabend zu verbringen und vorher in die Kirche zu gehen. Sie gehörten einer kleinen evangelischen Freikirche an und beteuerten ihm, dass es ihn zu nichts verpflichten würde, wenn er den Gottesdienst dort besuchte.

Georg lächelte in Gedanken an diesen vergangenen Weihnachtsabend und hob Isabella vorsichtig von seinen Beinen herunter. Mit dem Weihnachtstag hatte vor einem Jahr die glücklichste Zeit seines Lebens begonnen. In dem damaligen Gottesdienst am Heiligabend hatte er Marion kennen gelernt. Sie war eine sehr liebenswerte Witwe und besaß zu Isabellas Freude einen dicken gemütlichen Kater namens Sir Amadeus. Georg und Marion hatten in dem vergangenen Jahr viele schöne gemeinsame Stunden verbracht. Georg lächelte wieder, diesmal voller Vorfreude. Er würde den heutigen Heiligabend zusammen mit Marion und den Tieren verbringen. Zufrieden vor sich hin pfeifend wusste Georg, dass noch viele lächelnde Weihnachtsabende vor ihm lagen.

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