Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten Band 3 Dr. Ronald Henss Verlag ISBN 978-3-939937-07-4 beim Verlag bestellen bei amazon bestellen
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Der kleine Engel© Diana BreitmaierWie sanfte Federn fielen die vollen Schneeflocken aus den dicken schwarzen Wolken hinab auf die kalte graue Erde. Ihre strahlenden weißen Eiskleider hoben sich von der düsteren Umgebung ab und bedeckten in Massen die farblose Welt, tauchten sie in herrliches Weiß. Rafael saß am Fenster und starrte gelangweilt in den Garten hinaus, ohne die vollkommene Schönheit der Schneeflocken zu beachten. "Mama", seufzte er. Ein "Ja" drang als Antwort aus der Küche, wo die Mutter in festlichen Kleidern am Herd stand und emsig den letzten Schliff am Weihnachtsessen vornahm. Rafael kam zu ihr, setzte sich an den kleinen mit Geschirr und Besteck beladenen Küchentisch und sah seine Mutter eindringlich an. Der Duft von Essen strömte ihm in die Nase und lockte zu Naschen. "Mir ist langweilig. Erzählst du mir eine Geschichte, bitte." "Ich kann nicht mein Schatz, ich hab noch viel zu tun, bevor unsere Gäste eintreffen." Sie bröselte etwas Rosmarin in die Bratensoße für die Gans, welche so herrlich duftend im Ofen backte. "Warum erzählst du mir nicht mal eine Geschichte zur Abwechslung." Fügte sie hinzu und zwinkerte ihren Sohn vergnügt an. "Ich? Und was soll ich erzählen?" Die Mutter zuckte mit den Achseln und drehte sich wieder dem Herd zu. "Wie wäre es mit einer Weihnachtsgeschichte, so wie sie dir am besten gefallen würde." Ihr Vorschlag gefiel Rafael, eine Weihnachtsgeschichte von ihm und für ihn. Doch kam ihm, trotz starkem Nachdenken nichts in den Sinn, worüber es sich lohnen würde eine Weihnachtsgeschichte zu erzählen. Gedankenverloren nahm er eine Gabel in die Hand und drehte sie hin und her, so dass sich das Licht der Lampe in ihr fing und über das kalte Metall tanzte. Eine Geschichte über eine Gabel. Nein, Rafael schüttelte den Kopf, über eine Gabel gab es nicht viel zu erzählen, außer dass sie mehrere spitze Zacken hatte und eine geniale Erfindung für das Mittagessen war. Er sah sich in der Küche um, konnte aber nichts finden, was eine Geschichte wert war. So verließ er grübelnd die Küche und trat ins benachbarte Wohnzimmer, wo seine Mutter bereits den großen dunklen Eichentisch mit den besten Tüchern und den silbernen Kerzenhaltern geschmückt hatte. Langsam trat Rafael vor den großen Weihnachtsbaum, der würdevoll in der Ecke stand und den sein Vater vor einigen Tagen mit nach Hause gebracht hatte. Die Mutter hatte den schönen und stattlichen Baum geschmückt und mit Lichtern versehen, die nur darauf warteten, in ihrem Glanz zu erstrahlen. Auf Rafaels Augenhöhe baumelte ein kleiner Engel an einer goldenen Schnur, die aus seinem mit blonden Engelslocken übersäten Kopf heraus wuchs. Gekleidet war er in ein samtenes weißes Gewand, das ihm bis zu den Beinen reichte und im Schein der Deckenlampe funkelte. Dicke, flauschige und goldene Flügel zierten seinen Rücken und ließen ihn Anmut versprühen. Rafaels Mutter kam mit Geschirr beladen ebenfalls in das große Wohnzimmer und deckte mit dem edlen Festtagsservice den Tisch. Rafael gab dem Engel einen leichten Stoß und er tanzte und hüpfte um seine Schnur herum. "Sei vorsichtig mein Schatz, dieser Engel ist sehr alt und hat bereits am Weihnachtsbaum deiner Großeltern gehangen." Rafael staunte den Engel an. Er wirkte so schön und strahlend, als ob er eben erst gekauft worden wäre. Die Zeit hat keine Spuren am ihm hinterlassen. Das ist es, dachte Rafael, über einen Engel, einen kleinen Engel konnte man eine gute Geschichte erzählen. Rafael ging ein Weilchen auf und ab und setzte sich dann im Schneidersitz auf die Couch. So sehr er nachdachte, es fiel ihm nicht ein, mit was die Geschichte beginnen sollte. Die Mutter war zurück in die Küche geeilt und kam wieder ins Wohnzimmer gelaufen, diesmal mit Besteck bewaffnet. Sie blieb vor der Couch stehen und betrachtete ihren jüngsten Sohn. "Ich dachte du erzählst mir eine Geschichte." Rafael schüttelte seinen Kopf. "Ich wollte etwas über einen Engel, einen kleinen Engel erzählen, aber mir fällt nichts ein." "Hm", sagte die Mutter und legt sorgsam das Besteck beiseite, um sich zu ihrem Kind auf die Couch zu setzten. "Und wenn ich dir einen Anfang gebe, erzählst du mir dann eine Geschichte?" Rafael überlegte kurz und nickte lächelnd. "In Ordnung lass mich überlegen." Begann die Mutter und kratze sich an der Nase, eine Geste die sie immer machte, wenn sie überlegt.
Es war einmal ein kleiner Engel, der hoch oben im Wolkenland lebte, wo alle Engel leben. Er war der bravste und liebste kleine Engel den man sich vorstellen konnte. Tat immer, was die großen Engel ihm sagten, war höflich und hilfsbereit und das, obwohl er noch sehr jung war, so jung, dass er noch keine Flügel hatte. Er freute sich über alle Maßen auf den Tag, an dem er seine Flügel bekommen würde und träumte oft stundenlang davon, zu fliegen und über den Wolken zu schweben, so wie es die großen Engel taten. Doch bis dahin war es noch eine lange Zeit und der kleine Engel musste sich damit begnügen, die Welt der Mensch von weit ob zu beobachten.
Die Mutter grinste Rafael liebevoll an, gab ihm einen feuchten Kuss auf die Stirn und stand auf. Rafael wischte sich in einer schnellen Geste die Stirn ab und dachte angestrengt über den kleinen Engel nach, bis schließlich ein Bild vor seinen Augen entstand. Erst war es klein und unscharf, doch wurde es immer deutlicher und deutlicher und er begann weiter zu erzählen.
Der kleine Engel liebte nichts mehr als die Menschen zu beobachten, am liebsten sah er den Kindern beim Spielen zu. Ihr lustiges und fröhliches Lachen, das bis hinauf zu den Wolken schallte, steckte den kleinen Engel an mit zulachen und wenn die Kinder tanzten, tanzte auch er auf seiner Wolke. Am Heiligabend, tollten die Kinder wie so oft von Sinnen in dem frischen Schnee, der in der Nacht gefallen war, herum. Der kleine Engel sah ihnen sehnsüchtig zu, da er auch zu gerne im Schnee herum gesprungen wäre. Einige Kinder bauten einen Schneemann, mit großen Kohleknöpfen, einer riesigen Karottennase und einem alten löchrigen Hut, andere veranstalteten eine Schneeballschlacht. Der kleine Engel beobachtete sie freudig, bis er ein Kind entdeckte, das weitab von den anderen stand und im Schnee wühlte. Von Neugier gepackt, wollte der kleine Engel wissen, was das Kind im Schnee suchte und beugte sich über die Wolke weit nach unten. Doch konnte er nichts Genaues erkennen und so beugte sich noch weiter herunter. Mit einem Mal geschah es, der kleine Engel bekam Übergewicht und stürzte zur Erde hinab. Zum Glück des kleinen Engels waren Engel so sanfte Geschöpfe, dass ihr Gewicht einer Feder gleichkam und er zart zur Erde sank, wo er auf einem Schneehaufen landete. Die Kälte der Erde ließ in frösteln und er zog sein seidenes Gewand fest um sich. Die Kinder, welche er beobachtet hatte, waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie den Neuankömmling nicht bemerkt hatten, nur das abseits stehende Kind, ein junges Mädchen, sah verwundert auf den kleinen Engel, der neben ihr gelandet war. Sie war soeben dabei gewesen eine Nuss im Schnee zu vergraben, weil der Großvater ihr erzählt hatte, dass dort dann ein Baum wachsen würde. Verwundert blickten die beiden sich einige Zeit musternd an. Dann fragte das Mädchen, ihr Name war Anna, den kleinen Engel woher er kam. Von dem langen Fall noch etwas benommen, zeigte der kleine Engel mit dem Finger in die Wolken. Anna sah ihn erstaunt an und betrachtete den kleinen Engel genau, er trug außer einem seidenen Gewand, was für sie wie ein Nachthemd aussah, noch einen goldenen Reif um den Kopf, sonst nichts. Ganz langsam kam Anna näher und fragte flüsternd, ob er ein Engel sei. Der kleine Engel nickte.
Die Türglocke läutet und riss Rafael aus seiner Geschichte. Seine Mutter hatte inzwischen den Tisch fertig gedeckt, die Lichter des Weihnachtsbaums anzündet und allerhand andere weihnachtliche Dinge vollbracht, während sie ihm zu gehört hatte. Nun rannte sie eilig zur Tür und öffnet dem läutenden Gast. Rafael lauschte und vernahm freudig sogleich die fröhliche Stimme seines Onkels. Seine Mutter jauchzte auf, wie sie es immer tat, wenn ihr großer Bruder sie packte, hochhob und einmal im Kreis drehte. Kurz danach trat der Onkel in das festlich geschmückte Wohnzimmer und lachte Rafael breit an. Seine Hände waren reich mit Tüten und Taschen beladen, in denen, das wusste Rafael, die schönsten Geschenke nur darauf warteten, ausgepackt zu werden. Der Onkel entledigte sich der herzerfreuenden Päckchen, trat mit zwei großen Schritten auf seinen Neffen zu, zog ihn an die Brust und wirbelte Rafael, wie die Mutter, durch die Luft. Rafael lachte heiter und fröhlich, während er seine kleinen Arme um den Hals des Onkels schlang. "Na alter Freund, was macht das Geschäft?", grunzte der Onkel und pickte mit seinem Finger in Rafaels Bauch. "Ich hab doch kein Geschäft", lachte Rafael, während er versuchte den Finger seines Onkels abzuwehren. "Mein Papa hat ein Geschäft. Ich bin doch erst achteinhalb." "Oh, dann hab ich dich doch glatt verwechselt. Na du siehst ja auch aus wie dein Vater und bist ja auch fast erwachsen." Rafael schwellte die Brust und nickte er eifrig. Der Onkel stellte ihn wieder auf den Boden und sah sich um. "Donnerwetter, hier sieht´s aber fein aus." Die Mutter kam zu den beiden und nahm ihrem Bruder den dicken Wintermantel ab. "Du riechst nach Glühwein, warst du etwa noch vor dem Essen auf dem Weihnachtsmarkt. Schäm dich!" Der Onkel grinste sie an, gab ihr einen Kuss und meinte. "Ich hab ein paar alte Freunde getroffen und mich kurz mit ihnen unterhalten. Den Glühwein hab ich nur getrunken, damit es mich auf den kalten Straßen nicht friert." Die Mutter zog streng beide Augenbrauen nach oben, entschied sich aber, nichts darauf zu erwidern. Der Onkel wandte sich wieder Rafael zu. "Was machst du den, an so einem schönen Tag wie heute? Hilfst du deiner lieben Mutter beim Essen kochen?" Rafael schüttelte den Kopf und berichtete stolz. "Ich habe ihr eine Geschichte erzählt." "Aber den Anfang hat Mama erzählt." Fügte er Gerechtigkeitshalber dazu. "Da schau an. Und um was geht es in deiner Geschichte?" Rafael erzählte seinem Onkel die Geschichte bis zu jenem Moment, wo es geläutet hatte. "So und wie geht es weiter?", wollte der Onkel wissen. Rafael setzte zum Weitererzählen an, hielt aber dann inne. "Du musst sie weiter erzählen." "Ich?! Nun wenn ich muss", sagte der Onkel, setze sich auf die Couch, zog Rafael auf seinen Schoss, kratze sich an der Nase, genau wie es die Mutter tat, und führt die Geschichte weiter.
Ein kalter Wind zog an den beiden vorbei und ließ den kleinen Engel erneut zittern. Anna bemerkte dies, zog ihren dicken Wollmantel aus und hängte ihm über die Schultern des kleinen Engels, ergriff seine Hand und führte ihn durch die Stadt zu sich nach Hause. Unterwegs kamen sie an einem Weihnachtsmarkt vorbei, dort gab es viel zu sehen. Von den Wolken aus hatte der kleine Engel alles nur als Bilder sehen können, nun war er ein Teil in mitten dieser Pracht und atmete die unterschiedlichsten Düfte ein. Es war einfach herrlich für den kleinen Engel. Dort auf dem Markt, gab es Zuckerwatte, Weihnachtsplätzchen in Hülle und Fülle, wunderbar duftende Bienenwachskerzen, allerlei glitzernder Weihnachtsbaumbehang, gläserne Weihnachtskugeln, es roch nach frisch gebackenen Maronen und an jeder Ecke standen Männer, die miteinander lachten und jeder von ihnen hielt einen heiß dampfenden Glühwein in den Händen. Der kleine Engel war so überwältigt von der Flut an Dingen, die alle so wundervoll waren, dass er gar nicht mehr aufhören konnte, Anna über alles auszufragen. Diese kicherte die ganze Zeit über die Frage, beantwortete sie aber hingebungsvoll und zufriedenstellend. Dann passierten die beiden einen Marktstand, der über und über mit kleinen Engeln geschmückt war. Hier musste der kleine Engel stehen bleiben und betrachtete ehrfurchtsvoll und fasziniert, seine kleinen Geschwister, die allesamt mit Flügeln ausgestattet waren. Eine tiefe Sehnsucht nach Zuhause durchzog den kleinen Engel, diese war aber sofort wieder vergessen, als einige Kinder, mit Zuckerwatte und gebrannten Nüssen bewaffnet, an ihnen vorbei rannten. Ein Junge blieb stehen, redete kurz mit Anna, schenkte ihr ein paar seiner gebrannten Nüsse und hetzte den anderen nach. Anna gab die Nüsse an den kleinen Engel weiter und während die beiden ihren Weg fortsetzen, verspeiste er diese genussvoll. Sie schmeckten einfach köstlich. Schließlich erreichten sie das Haus, in dem Anna mit ihrem Vater, die Mutter war seit einigen Jahren tot, wohnte.
Es hatte erneut an der Tür geläutet und nur wenig später standen der Vater und seine Schwester, die er vom Bahnhof abgeholt hatte, im Wohnzimmer, worauf es eine freudiges Hallo und eine Menge Umarmungen gab. Die Tante überreichte Rafaels Mutter einen großen Weihnachtsstern, den sie selbst aus rotem und gelbem Ölpapier angefertigt hatte. Die Mutter nahm ihn dankbar entgegen und hielt den Stern anerkennend in die Luft. Während es sich die Tante auf der Couch, neben Rafael und seinem Onkel bequem machten, holte der Vater, zu Feier des Tages, jedem ein Glas Sekt und Rafael bekam einen Becher Traubensaft. Fröhlich stießen alle auf ihr Wohl ann. Nachdem die Mutter den Stern ins Wohnzimmerfenster gehängt hatte, kehrte sie zu den anderen zurück, klatsche eifrig in die Hände und meinte. "Das Essen ist fertig, sobald meine Mutter kommt, können wir beginnen." "Und was machen wir bis dahin?", wollte die Tante wissen und nippte ausgelassen an ihrem Schaumwein. Rafael, der seinen süßen und klebrigen Traubensaft gleich zu Anfang mit einem Zug ausgetrunken hatte, erzählte seinem Vater und der Tante begeistert, von der Geschichte, bei der jeder ein Stück erzählt hatte. Die Tante fand seine Idee hervorragend und entschied zusammen mit Rafael, dass der Vater der nächste in der Runde sein müsse. Die Mutter zog zwei Stühle vor die Couch und setzte sich auf den einen. Auf dem Anderen nahm der Vater Platz und begann zu erzählen.
Das Haus, in dem Anna mit ihrem Vater wohnte, war zugleich ein kleiner Hauswarenladen. Hier verkaufte der Vater Geschirr, Küchenzubehör, Besteck, Gläser und kleinere Elektrogeräte. Die beiden betraten das Haus durch den Ladeneingang, wo der Vater, umringt von Utensilien aller Art, tüchtig hinter der Theke mit einem nicht funktionierenden Mixer hantierte. Als die Glocke der Tür bimmelte, sah er freundlich auf, um den hereingetretenen Kunden zu begrüßen und erblickte seine Tochter. Er trat hinter der Theke hervor auf Anna zu und lächelte erfreut über ihren rotbackigen Anblick und fragte, was sie denn so den ganzen Morgen getan hätte. Anna erzählte ihrem Vater vom dem kleine Engel und wie er vom Himmel in den Schnee gefallen war. Der Vater lachte auf und gab seiner Tochter ein Kompliment für ihre gute Geschichte. Anna zeigte mit dem Finger auf den kleinen Engel und fragte den Vater, ob er ihn denn nicht sehen könne. Ihr Vater lächelte abermals über die Fantasie seiner Tochter und strich ihr mit den Worten über das Gesicht, sie solle doch die Weihnachtstanne, die er gekauft hatte, im Wohnzimmer schmücken. Hocherfreut über diese Nachricht vergaß Anna die Ungläubigkeit ihres Vaters und klatsche voller Tatendrang in die Hände. Im selben Moment trat eine betagte, vornehme Frau in den Laden, der Vater wandte seine Aufmerksamkeit ihr zu und beeilte sich, wieder hinter seine Theke zugelangen. Als die Frau zur Theke schritt, um ihre Bestellung aufzugeben, überrannte sie fast den kleinen Engel. Da erkannte Anna, dass Erwachsene den kleinen Engel nicht sehen konnten. Sie nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm ins Wohnzimmer hinauf, dort stand der wunderschönste Weihnachtsbaum von allen und …
"Jetzt bin ich daran", unterbrach die Tante ihren Bruder und zupfte ihren langen roten Rock zurecht. Sie räusperte sich und sprach weiter.
In dem Zimmer angekommen, fielen dem kleinen Engel, außer dem buschigen Baum, die bunten Papiere, die glitzernden Bänder und die vielen Stifte auf, die sorgfältig auf dem Esstisch gestapelt lagen. Anna erzählte ihm, dass, als ihre Mutter noch lebte, diese den Weihnachtsschmuck immer selber gebastelt hatten und sie nach dem Tod der geliebten Mutter diese Tradition weiter führte. Der kleine Engel war ganz angetan von den vielen bunten Papierkugeln, Sterne aus Silber- und Goldpapier, dem selbstgemachten Glitzerlametta und den Strohsternen, die bereits fertig gestellt worden waren. Die beiden setzten sich auf den Boden und schnitten weitere Sterne und Kugeln aus, bastelten Strohsterne und flochten Lametta. Das Basteln machte dem kleinen Engel so viel Spaß, dass er darüber alles vergaß. Langsam zog der Abend übers Land. Nach getaner Arbeit schmückten sie den Weihnachtsbaum mit ihren selbstkreierten Werken und steckten Kerzen an die Tannenzweige des Baumes. Annas Vater kam herein, betrachtete den Baum und lobte seine Tochter für den schönen Schmuck. Kurz nach ihm betrat die alte Köchin das Esszimmer und verkündete, dass der Heiligabendbraten fertig wäre und wünschte allen Anwesenden ein fröhliches Weihnachten. Der Vater nickte ihr dankend zu, schickte Anna sich umzuziehen und verräumte die übrig gebliebenen Bastelutensilien.
Ein weiteres Mal schellte die Türglocke und die Mutter rannte zur Tür. Nur einen Augenblick später kam die Großmutter ins Wohnzimmer, umarmte alle und wünschte gesegnete Weihnachten. "Bitte entschuldigt meine Verspätung meine Lieben. Der Heiligabendgottesdienst war so herrlich und die Predigt des Herrn Pfarrer so verheißungsvoll, dass ich nicht anders konnte, als ihm nach dem Gottesdienst meinen Dank auszusprechen. Ein wahrhaft frommer Mann der Herr Pfarrer." Der Onkel stand auf und machte für seine Mutter Platz auf dem Sofa, welche sich dankbar setzte und über ihre schmerzenden Knie jammerte. Kurze Zeit später versammelten sich alle um den weihnachtlich geschmückten Tisch, setzten sich und die Mutter trug das Essen auf. Hungrig und mit bester Laune beglückt, wurde das Festmahl schnell verschlungen und der Onkel lobte seine Schwester in den Himmel für ihre unvergessliche Bratensoße. Nachdem Essen brachte der Vater Cognac für den Onkel und für sich und Sekt für die Damen. Rafael durfte Traubensaft in Mengen trinken. Als alle versorgt und faul, bis auf die Mutter, auf ihren Stühlen saßen, erinnerte sich die Tante an die Geschichte. "Wir haben unsere Weihnachtgeschichte ja noch gar nicht zu Ende erzählt." "Ja genau", stimmte der Onkel ihr zu. Die Mutter kam aus der Küche zurück und trug ein Teller mit Weihnachtsplätzchen herein. "Ich finde", begann sie, "den Schluss muss die Mama erzählen." Alle stimmten ihr zu, vor allem Rafael, der sich die Backen mit Gebäck vollgestopft hatte. Die Großmutter sah verwundert in die Runde. "Was soll ich erzählen?" Rafael kletterte auf ihren Schoß und erzählte ihr, Kekse mampfend, die Geschichte. Auch die Großmutter fand die Idee toll und machte sich sogleich ans Werk weiter zu erzählen.
Der kleine Engel stand am Weihnachtbaum und begutachtete voller Stolz sein eigenes Werk, als die Köchin ein zweites Mal ins Zimmer trat, gefolgt von einem betagten alten Mann mit Stock und Hut. Der Vater umarmte den Gast liebevoll und küsste ihn auf beide Wangen. Anna kam in ihr Sonntagskleid gehüllt zurück in die Stube und erblickte sogleich den Großpapa. Sie rannte ihm in die Arme und küsste und umarmte ihn herzlich. Der Großpapa überreichte ihr ein großes Geschenk, das Anna sogleich freudig an sich nahm und auspackte. Zum Vorschein kam eine wunderschöne Porzellanpuppe, die in Seide und Spitze gekleidet war und einen dazu passenden Hut hatte. Durch die Freude und die Aufregung vergaß Anna ihren kleinen Gast. Der kleine Engel stand neben dem Weihnachtsbaum und betrachtete das freudige Geschehen still und ehrfürchtig. Während die Menschen sich miteinander über die weihnachtlichen Geschenke freuten, trat ein großer Engel ungesehen durch die Tür. In seinen Armen trug er ein goldenes Kästchen, welches den Geist von Weihnachten beherbergte. Der kleine Engel sah ehrfürchtig zu ihm auf und bewunderte sehnsüchtig dessen große und goldene Flügel. Der große Engel schritt in den Raum, öffnete die Schatulle und ließ den Geist von Weihnachten herausströmen. Er erfüllte das Zimmer und die Herzen der drei Menschen mit seinem Glanz. Dann schloss der Engel die Schatulle wieder und wandte sich dem kleinen Engel zu. "Es ist Zeit wir müssen gehen", sprach er und reichte dem kleinen Engel die Hand. Dieser nahm sie entgegen und sah noch einmal freundlich zu Anna hin. Im Stillen wünschte er ihr, gesegnete Weihnachten. Dann verließen die beiden Engel unbemerkt das Zimmer und begaben sich hinauf in die Wolken.
"So" sagte die Großmutter zu Rafael "den Schluss musst du jetzt machen."
Zurück im Himmel bekam der kleine Engel wenig später seine Flügel, damit er nicht noch einmal auf die Erde hinunter stürzte. Er freut sich sehr über dies Geschenk und probierte es sogleich aus. Er flog hoch über die Wolken und betrachtete die kleine Welt unter sich. Er würde nie vergessen, was er schönes bei den Menschen erlebt hatte, und er erinnerte sich noch lange an den Geschmack der gebrannten Nüsse. Hoch oben zwischen den Wolken entschied der kleine Engel, dass wenn er einmal groß war, auch zu den Menschen hinabzufliegen, um ihnen zu Heiligabend den Geist von Weihnachten zubringen.
Die anderen klatschten Applaus und die Mutter drückte Rafael einen dicken Kuss auf die Nase, worauf er diese kräftig abwischte. "Jetzt machen wir Bescherung", lachte sie, "und unser Meistererzähler darf beginnen." Alle lachten mit ihr und einer nach dem anderen überreichte Rafael sein Geschenk, das er sogleich mit hochrotem Wagen und glänzenden Augen, voller freudiger Erwartung aufpackte.
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SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle
Weihnachtsgeschichten von Patricia Koelle
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