Als die letzte Kiste im Wagen verstaut war, atmete ich tief durch. Die Dämmerung brach herein und ein Blick zum Himmel sagte mir, dass es wohl bald schneien würde. Eigentlich hätte ich gleich losfahren müssen, um mein Ziel noch vor Einsetzen des Schneefalls zu erreichen. Peter hatte mir seine Waldhütte zur Verfügung gestellt, wo ich in aller Abgeschiedenheit an der Fertigstellung meines Romans arbeiten wollte. Aber auf einen Bummel über den Weihnachtsmarkt wollte ich auf keinen Fall verzichten. Der war für mich seit Jahren liebgewordene Tradition. An "Martha's Weihnachtsbackstübchen" wollte ich ein paar Tüten der leckeren Plätzchen kaufen, ohne die ich mir die Vorweihnachtszeit gar nicht mehr vorstellen kann.
Ich nahm die Abkürzung durch das Färbergässchen, in dem sich die mittelalterlichen Fachwerkhäuser so eng gegenüberstehen, dass man sie an einigen Stellen mit ausgestreckten Armen berühren kann. Das Gässlein war dunkel und menschenleer. Nur hier und dort fiel schwaches Licht aus einem der kleinen schiefen Fenster. Ein buckliges Mütterchen kam mir entgegen, den Blick auf das holprige Pflaster geheftet. Als wir aneinander vorbeigingen, hörte ich sie vor sich hinmurmeln: "Ein Wunder, ein Wunder, ein Wunder …"
Auf der Alten Brücke drängten sich die Menschenmassen. Am mittleren Brückenpfeiler blieb ich eine Weile stehen. Hier bot sich der schönste Blick zum Schlossberg und dem bunten Lichtermeer des Weihnachtsmarktes, der sich zu seinen Füßen ausbreitete.
Mein Bummel über den Weihnachtsmarkt war etwas kürzer als sonst, aber umso intensiver nahm ich Lichter, Farben, Klänge und Gerüche wahr. Zur Stärkung für die bevorstehende Fahrt genehmigte ich mir eine doppelte Portion Reibekuchen mit Apfelmus. Ich war gerade mit dem Essen fertig, da erhob sich ganz in der Nähe weihnachtlicher Gesang. Vor der üppig geschmückten Weihnachtsmarkttanne hatte sich ein Kinderchor aufgestellt. In der Mitte stand eine bildhübsche junge Frau, die wie ein Weihnachtsengel gekleidet war. Ich lauschte dem festlichen Gesang und war hingerissen von der Schönheit des Engels. Mit einem Mal setzte dichter Schneefall ein. Einen Moment lang war das Flockengestöber so stark, dass alles wie hinter einer weißen Wand verborgen lag. Der Gesang verstummte. Als sich die weiße Wand wieder auflöste, waren Chor und Engel verschwunden. Verwundert und verzaubert machte ich mich auf den Weg.
Wegen des starken Schneefalls ging die Fahrt nur im Schritttempo voran. Mehrere Male kam es zu Staus, die sich nur langsam auflösten. Da viele Verkehrsschilder zugeschneit waren, hätte ich fast die Zufahrt verpasst, die zu Peters Waldhütte führte. Es war schon weit nach Mitternacht, als ich endlich ankam. Ich war todmüde, suchte rasch ein paar dicke Decken zusammen und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen war es eisig kalt in der Hütte. Mit klammen Fingern entzündete ich ein Feuer und als die ersten Holzscheite knisterten, drängte ich mich dicht an den Kamin. Nach und nach wurde mir warm und mit der Wärme überfluteten mich Erinnerungen an den Engel auf dem Weihnachtsmarkt. Ohne dass ich dies beabsichtigte, formten sich die Erinnerungsbilder zu Worten, die Worte zu Versen, die Verse zu Strophen und die Strophen zu einem langen Gedicht. Am Nachmittag unternahm ich einen ausgedehnten Spaziergang durch den verschneiten Winterwald. Die ganze Zeit über ging mir das Gedicht durch den Kopf, das ich im Geiste immer und immer wieder aufsagte. Mit Einbruch der Dämmerung kehrte ich die behaglich warme Hütte zurück. Ich hatte das Gedicht gerade in mein Notizbuch eingetragen, da fiel mein Blick auf eine Gitarre, die hinter einer Kommode hervorlugte. Es dauerte eine Weile, bis ich als alte Stück gestimmt hatte, aber dann hatte es einen überraschend guten Klang. Obgleich ich schon längere Zeit außer Übung war, flossen einfache, zauberhaft weihnachtliche Klänge aus meinen Händen. Erst als ich die Worte laut vor mich hinsang bemerkte ich, dass die Melodie genau auf mein Gedicht passte. In freudiger Erregung notierte ich die Noten und spielte und sang das Weihnachtslied für meinen Engel bis spät in die Nacht.
Die folgenden Tage arbeitete ich hochkonzentriert an meinem Roman, unternahm lange Spaziergänge durch die abgeschiedene Wildnis und erfreute mich an den einsamen Abenden an meinem Weihnachtslied. Gelegentlich nahm ich kleinere Änderungen am Text oder der Melodie vor, doch stets merkte ich schon nach kurzer Zeit, dass jegliche Veränderung zu einer Verschlechterung führte. Die ursprüngliche Version war einfach vollkommen. Die Freude über dieses schlichte und dennoch herzergreifende Lied beflügelte meine Arbeit.
Wenige Tage vor Weihnachten kehrte ich nach Hause zurück. Der Roman war erfolgreich abgeschlossen. Aber es war das Lied, mein Weihnachtslied, das mich mit besonderem Stolz erfüllte.
Vergnügt machte ich mich auf den Weg zum Weihnachtsmarkt. An der Alten Schlosskirche vernahm ich gedämpfte Töne. Als ich die schwere Pforte öffnete, schlugen mir vollklingende Orgeltöne entgegen. Das Kirchenschiff war dunkel, nur der Altarraum lag im Licht einer festlich geschmückten Tanne. Anscheinend übte der Organist für das Weihnachtsoratorium. Ich nahm auf einer der vorderen Bänke Platz, schloss die Augen und gab mich dem Genuss der grandiosen Musik hin. Nach einer Weile verstummte die Orgel. Vom Altarraum her erklang ein helles Glöckchen. Ohne dass ich etwas bemerkte, hatte sich neben der Tanne der Kinderchor vom Weihnachtsmarkt aufgestellt. In der Mitte der Engel. Der Chor stimmte ein zauberhaftes Lied an, und ich sang still mit. Erst bei der zweiten Strophe wurde mir bewusst, dass dies mein Lied war - mein Lied, das ich in der stillen Abgeschiedenheit für den Engel gedichtet und komponiert hatte. Als der letzte Ton verklang, waren Chor und Engel verschwunden. Vom Turm erklangen die Glocken.
Draußen vor der Kirche herrschte dichtes Schneetreiben. Die Straße war menschenleer. Auf der gegenüberliegenden Seite glaubte ich schemenhaft das bucklige Mütterchen zu erkennen und mir war, als hörte ich ihr Murmeln: "Ein Wunder, ein Wunder, ein Wunder …"
***
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