Weihnachtskrimi - Weihnachtsgeschichten - Krimi
Weihnachtskrimi Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
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Die Dezemberstraße

© V. Wohlbold

Erstes Kapitel

Während ich genüsslich meinen 6-Uhr-Kaffee schlürfte, betrachtete ich voller Zufriedenheit die schneebedeckte Landschaft. Weiß in weiß wie Puderzucker. Weich wie Samt und perfekt für eine Schneeballschlacht. Ach ja.. Ich merkte wie ein kleines Schmunzeln über mein Gesicht huschte. Weihnachten … ja, das waren noch Zeiten … der sanfte Hauch eines wehmütigen Gefühls ergriff mich …

Plötzlich klingelte das Telefon. Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.

Ich wendete meinen Blick unfreiwillig von der Landschaft ab, räusperte mich würdevoll, und nahm sanft den Hörer des Telefons ab, welches neben mir auf einem Tischchen stand: "Professor Gluck, wer da? Wer wagt es, mich zu so früher Morgenstund' zu stören?" Immer noch beflügelt von meinen Gedanken ließ ich ein herzhaftes Gelächter ertönen.

"Hören Sie", es war eine tiefe Männerstimme, "es ist dringlich." Er klang verzweifelt: "Ein schreckliches Unglück ist geschehen. Begeben Sie sich in die Dezemberstraße und Sie werden sehen was ich meine. Vertrauen Sie mir." In der Leitung klickte es.

Entgeistert starrte ich den Hörer an, als könne er mir Auskunft über die Identität des Anrufers liefern. Schließlich atmete ich tief durch und legte ihn wieder zurück auf die Gabel.

Mein rundliches Hausmädchen Ida erschien mit einem herzlichen Lächeln in der Tür.

"Schmeckt Ihnen der Kaffee? Kann ich noch etwas für Sie tun, Herr Professor?"

Ida war eine Seele mit Herz. Ein Mensch, der mich schon lange begleitete und der mit Gold nicht aufzuwiegen war - aber das nur nebenbei bemerkt.

Betont langsam griff ich nochmals zu meiner Kaffeetasse, um einen beherzten Schluck daraus zu nehmen, blickte dann freundlich zu ihr auf und sagte: "Schmeckt wunderbar. Bringen Sie mir doch meinen Mantel. Und … ach ja, rufen Sie bitte meinen guten Freund, Professor Jopa an. Er solle sich unverzüglich in die Dezemberstraße begeben."

Ich kämpfte mich durch den Schnee, von weich konnte keine mehr Rede sein. Die Dezemberstraße befand sich nur wenige Minuten von meinem eigenen bescheidenen Heim entfernt. Auf Grund der Kälte und meines rheumatischen Leidens, welches sich - man war schließlich keine zwanzig mehr - auf schmerzvolle Weise bemerkbar machte, war es nicht weiter verwunderlich, dass ich als Letzter in besagter Straße und somit am Tatort ankam. Ich konnte noch nicht viel erkennen, da der Schneesturm mir die Sicht versperrte.

Abwesend grüßte ich einen mir entgegenkommenden Briefträger, dennoch bemerkte ich seinen kunstvoll gezwirbelten Bart, an dem sich bereits kleine Klümpchen gebildet hatten, wie die Miniaturform einer Eislandschaft.

Es war sehr dunkel. Meine Neugierde zwang mich dazu, voller Konzentration auf die schattenhaften Gestalten vor mir zu starren. Ich konnte einen breiten Männerrücken erkennen. Neben ihm stiegen kleine Rauchwölkchen in die Luft auf, weshalb es sich hierbei zweifelsfrei um meinen guten Freund Professor Jopa handeln musste. Als ich näher kam, erkannte ich neben ihm eine zierlichere Person, sie schien die Hände ans Gesicht zu halten und auf den Boden zu sehen.

Was allerdings meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, war ein großes viereckiges Ding, eine Art Gefährt, das in einiger Entfernung von ihnen stand. Was das sein konnte?

Schließlich breitete sich das gesamte Szenario vor mir aus: "Grundgütiger!", entfuhr es mir. Unter diesem Anblick vergaß ich die Begrüßung, sowie alle anderen guten Manieren, was normalerweise nicht meiner Art entsprach.

"Jaaah, das ist ein unglaubliches Verbrechen", erwiderte mein Freund Jopa, "ein Verbrechen, das die ganze Welt in Schrecken versetzen dürfte." Er paffte ein paar Mal ausdruckslos an seiner Zigarre.

Wie immer schien er verschlafen, sein Haar war ungekämmt und er hatte einen großen braunen Fleck auf dem Kragen seines Hemdes, welches unordentlich aus seinem Mantel hervorlugte. Trotz seines vernachlässigten Auftretens möchte ich hier anmerken, dass ich meinen Freund Jopa ungemein schätze und vor allem nicht unterschätze.

Die Frau neben ihm, welche ich als zierliche Gestalt ausgemacht hatte, schluchzte unerbittlich. Jopa, welcher meinem Blick gefolgt zu sein schien, sagte: "Das ist Fräulein Sybille Schmizz, Sie hat ihn hier gefunden." Die Frau konnte sich endlich dazu überwinden, die Hände von ihrem Gesicht zu nehmen und mir die Hand zu reichen. Überrascht stellte ich fest, dass sie außerordentlich hübsch war.

Unauffällig blickte ich mich um, um mir einen Eindruck über die Gegend zu verschaffen. Die Straße war recht schmal, an manchen Häusern entdeckte man bereits den Putz. Hier und da war die Gasse zu einem Hinterhof zu erkennen. Sie machte einen friedlichen Eindruck, doch ich spürte, dass dies durchaus ein Ort war, an dem sich Bösewichte wohl fühlen konnten. In einem Fenster erblickte ich plötzlich das Gesicht eines kleinen Mädchens. Doch es war genau so schnell wieder verschwunden, wie es erschienen war.

Zudem wurde meine Aufmerksamkeit durch herannahende Fußstapfen abgelenkt. Charmee nahte. Er war als Playboy bekannt, der seinesgleichen suchte. Trotz des Schnees schien seine blonde Haarpracht unverwüstlich. Er kaute an einer Mohnschnecke und krümelte dabei in den Schnee.

Unser Expertenteam, wenn ich das bei aller Bescheidenheit so nennen darf, war endlich vollständig.

Als er angekommen war, blickte er ungläubig auf die Gestalt zu unseren Füßen. Ein Krümel war an seinem Mund hängen geblieben, was ihn unglaublich lächerlich erscheinen ließ: "Ist der echt?", fragte er staunend.

Ich schaute auf den großen dicken Mann zu meinen Füßen. Obwohl er bereits in eine Decke gewickelt wurde, war sein roter Mantel unübersehbar. Sein langer weißer Bart verschmolz mit dem Weiß des Schnees. Trotz bleicher Gesichtsfarbe schimmerten die roten Apfelbäckchen durch. Seine rote Mütze war vom Kopf gerutscht und lag in einiger Entfernung auf dem Boden. Auf seiner Stirn prangte eine riesige aufgeplatzte Beule aus der Blut rann. Es strömte über sein Gesicht, was einen schauerlichen Anblick bot. Er war nicht bei Bewusstsein.

"Ist das DER Weihnachtsmann?", fragte Charmee und zog mit einer ungehaltenen Geste erst vorsichtig und dann immer ruckartiger an dem langen Bart.

"Natürlich ist das DER Weihnachtsmann", erwiderten wir im Gleichtakt.

Charmee hielt einen Moment inne, warf seine Mohnschnecke in hohem Bogen davon, stürzte sich dann wie verrückt auf den Arm des Weihnachtsmannes und zog und rüttelte daran so fest er konnte: "Wir müssen ihm helfen", keuchte er, "wir müssen ihn in Sicherheit bringen." Der kugelrunde Körper bewegte sich keinen Zentimeter.

Ich genoss den Anblick wortlos, bis ich befürchtete, es könne zu einem weiteren Unglück kommen. Um dem ganzen Spektakel ein Ende zu bereiten, drehte ich mich zu der zierlichen Frau um. Sie blickte auf Charmee und ich konnte nicht umhin, ihren schmachtenden Blick zu bemerken, was ein Gefühl des Ekels in mir auslöste. Ich räusperte mich höflich, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und sagte: "Sie können gehen. Wir werden Sie bald zu einer näheren Befragung aufsuchen und behalten Sie bitte Stillschweigen über den gesamten Vorfall. Sie werden verstehen, dass die Presse ein großes Interesse an diesem ungeheuerlichen Verbrechen haben dürfte." Sie nickte und zog ihre Kapuze über den Kopf, bevor sie davonging.

Ich machte mich an die Indizienaufnahme. Das viereckige Ding entpuppte sich als Weihnachtsschlitten. Es war ein Vierspanner, ein neues Modell. Eines der Rentiere fehlte, alle anderen schienen putzmunter zu sein. Neben dem Weihnachtsmann lag ein blutbefleckter Baseballschläger, welcher vermutlich die Tatwaffe darstellte. Mein Freund Jopa tütete ihn bereits für weitere Untersuchungen ein. Unter dem Ärmel des Weihnachtsmannes lugte fast unsehbar ein Brief hervor, der durch den Schnee bereits so durchnässt war, dass die Anschrift einem blauen Fleck glich. Ich hob ihn auf und steckte ihn zu den zahlreichen Geschenken und Briefen in den Sack, welcher sich unweit des Rentierschlittens befand. Ich konnte keinerlei Fußspuren entdecken - weder des Rentiers, noch des Verbrechers - da der Schnee sie bereits wieder verwischt hatte. Damit war die Indizienaufnahme vorerst abgeschlossen. Wie auf ein Kommando erschien ein Dutzend Männer, die sich um den Weihnachtsmann und seinen Schlitten kümmerten. Als ich sah, dass alles seinen Gang nahm, warf ich mir den Sack über die Schulter, verabschiedete mich und machte mich auf den Weg nach Hause.

Zweites Kapitel

Ich verbrachte den Nachmittag damit, den Sack und die Briefe durchzusehen. Darin befand sich jede Art von Spielzeug, die man sich nur vorstellen konnte. Verpackt und unverpackt- mit Schleifchen und ohne. In den Briefen standen Dinge wie:

Lieber Weihnachtsmann,
ch wünsch mir ein Pohni. Ich werde es auch jeden tag reiten.
Schick es bite zu Evi nach Hause
Danke!

oder

Lieber Weihnachtsmann,
fielleicht kannst du mir ja dieses Jahr die Supermanspielfigur schenken die ich mir letztes Jahr gewünscht habe. Sie ist leider nicht angekommen, was ich wirklich doof von dir fand.
Von Paul

Ich ordnete die Briefe nach dem Ort ihres - soweit er vorhanden war - Absenders. Da ich aber des Weiteren nichts Auffälliges entdecken konnte, widmete ich mich meinem zweiten 6-Uhr-Kaffee dieses Tages und dem Brief, der unter dem Weihnachtsmann versteckt gewesen war. Durch das getrocknete Wasser wellte er sich stark und raschelte, als ich ihn drückte. Obwohl die Anschrift leicht verwischt war ließ sich die "An den Weihnachtsmann"-Aufschrift noch gut erkennen. Der Absender hingegen war unleserlich geworden.

Um Näheres zu erfahren öffnete ich den Brief:

An den Weihnachtsmann,
mir fällt es schwer diesen Brief zu schreiben, denn meine Worte kommen von Herzen.
Wir wissen, dass du sehr viel zu tun hast und dennoch waren wir letztes Jahr sehr traurig, dass du nicht zu uns gekommen bist. (hier war wieder ein blauer Fleck)
Ich mache mir große Vorwürfe wegen unserem Streit und denke, dass es an der Zeit wäre unsere kleine Auseinandersetzung zu begraben.
Deshalb möchte ich dich gerne treffen und mit dir reden!!
Es wäre schön, wenn du am 23. Dezember zu uns kommen könntest!

Die Unterschrift war ein vollkommen unleserliches Gekritzel. Ich blickte auf meinen Kalender und sah, was ich bereits wusste. Der 23. Dezember war heute.

Drittes Kapitel

Noch am selben Abend machten wir uns zu der Befragung auf. Die Zeit eilte, denn spätestens am morgigen Abend würde jedem auffallen, dass mit dem Weihnachtsmann etwas passiert sein musste, was nach einer Erklärung verlangte. Ich konnte schon die weinenden Kinderaugen vor mir sehen und trieb mich zur Eile.

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu Frau S.. Mein Freund Jopa nutzte die Gelegenheit, um sich eine weitere Zigarre anzuzünden.

"Das Blut an dem Baseballschläger stimmt zweifelsfrei mit dem des Weihnachtsmannes überein", berichtete er nuschelnd, "Es handelt sich also um die Tatwaffe. Auf dem unteren Teil des Schlägers befanden sich Abdrücke, sie konnten allerdings nicht weiter identifiziert werden, da der Täter Handschuhe trug."

"Kein Wunder bei diesem Wetter", bibberte Charmee und ließ deutlich seine blitzweißen Zähne erkennen.

Ich erzählte ihnen von dem Brief, den ich gefunden hatte, und die beiden lauschten aufmerksam.

Wir klingelten an der Tür, welche sofort von einem großen Mann mit einem auffälligen Vollbart geöffnet wurde. Bei dem Anblick erinnerte ich mich an den Briefträger, welcher mir morgens entgegengekommen war, und machte mir eine geistige Notiz ihn bei meiner Personenbefragung einzuschließen. Fräulein Schmizz erschien an der Seite des Mannes und erklärte, dass es sich hierbei um ihren Bruder handele. Sie begrüßte alle, wobei sie Charmee ein strahlendes Lächeln schenkte. Er küsste charmant ihre Hand. Dann betraten wir die Wohnung und machten es uns im Wohnzimmer bequem.

Während ich meinen Notizblock zückte, begann Jopa seine Fragen zu stellen. "Können Sie mir sagen, was sich heute Morgen ereignet hat und warum Sie sich auf dieser Straße befanden?"

Während sie schüchtern in die Runde blickte, begann sie zu erzählen: "Ich befand mich auf dem Weg zu meiner Tante. Wir wollten für Heiligabend Plätzchen backen. Als ich in die Straße einbog, sah ich diesen riesigen Schlitten. Das Unglück war schon passiert und dann dieses ganze Blut, ich wusste nicht was ich tun sollte."

"Das heißt Sie konnten keinen Täter erkennen? Nicht mal aus der Ferne?"

"Nein, es war niemand zu sehen", sie schüttelte den Kopf und fuhr dann fort, "Danach ging alles ganz schnell. Ich überlegte, was zu tun sei, nahm schließlich die große Decke, die ich im Schlitten finden konnte, und wickelte sie um seinen Körper, um ihn warm zu halten. Noch während ich beschloss, um Hilfe zu eilen, trafen Sie ein." Dabei blickte Sie auf meinen Freund Jopa.

Verwundert wendete ich mich an ihren Bruder:" Das heißt, dass der Anruf an mich nicht von ihnen stammte?"

Ich hörte genau zu, als er verneinte, einen Anruf getätigt zu haben, und erkannte, dass die Stimmen keinerlei Ähnlichkeiten aufwiesen.

"Haben Sie irgendetwas angefasst?", schaltete Charmee sich ins Gespräch ein.

"Nichts außer der Decke", antwortete Sie.

"Was ist mit dem Rentier?", fragte Jopa, "Konnten Sie irgendetwas entdecken? Fußspuren oder ähnliches?"

Es war unübersehbar, dass Sie rot wurde:"Wissen Sie", sagte Sie, "ehrlich gesagt befand es sich noch am Tatort, als ich dort ankam. Denn als ich die Decke aus dem Schlitten zog, sah ich, dass sich die Halterung gelöst hatte. Es nutzte die Gelegenheit und rannte davon ehe ich es aufhalten konnte." Sie blickte beschämt zu Boden.

Wir beendeten die Unterhaltung damit und begaben uns zurück in die Dezemberstraße, um sogleich am Haus zu klingeln, welches dem Ort des Geschehens am nächsten lag.

Um das verblichene Türschild besser lesen zu können, setzte ich mir meine Lesebrille auf. "Victor Frankens…" die letzten Buchstaben des Nachnamens konnte ich nicht erkennen.

Da wurde die Tür auch schon mit einem gewaltigen Schwung aufgerissen und vor mir stand… Erschrocken trat ich ruckartig einige Schritte zurück, wobei die Brille von meiner Nase rutschte und nun schief mitten auf meinem Gesicht saß. Charmee war vor Schreck rückwärts die Treppe hinuntergestolpert und lag mit aufgerissenen Augen im Schnee. Lediglich mein guter Freund Jopa hatte Haltung bewahrt und folgte der Aufforderung die Wohnung zu betreten. Charmee und ich folgten nur widerstrebend. Der Mann, wenn man ihn so nennen konnte, hatte ein markantes Gesicht, welches eine gewaltige Narbe zierte. Seine Gesichtsfarbe glich der eines Totengräbers. Er war riesig und sein Kopf schien nur mit der Hilfe von Schrauben auf dem Hals festzusitzen. Ich vermochte mir nicht vorzustellen, was passierte, wenn man sie herausdrehte. Nachdem ich mich nach einigen Sekunden an sein Äußeres gewöhnt hatte, gewann ich seltsamerweise den Eindruck, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben.

"Der Hausherr ist leider nicht daheim", erwiderte er unaufgefordert. Seine Stimme glich einem unbeschreiblichen Ächzen.

"Das macht nichts", antwortet Jopa, "Wir haben lediglich ein paar Fragen zu einem Vorfall, der sich heute Morgen vor ihrem Haus ereignet hat."

Ich zwang mich zu einem heißeren:"Haben Sie in der Früh irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt?"

Als er sich zu mir herabbeugte, räusperte ich mich so unauffällig wie möglich. Ich hatte erfahren, dass dieses Prinzip des "Sich-tot-Stellens" auch im Tierreich erfolgreich angewandt wurde.

"Ich war schon sehr früh wach, weil ich starke Schlafprobleme habe", teilte das "Monster" mit, "als ich mich in die Küche begab, um Schlaftabletten einzunehmen, sah ich vor dem Fenster eine Rauferei. Darin waren zwei oder drei Personen verwickelt, genau konnte ich es nicht erkennen. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, so etwas kommt in dieser Gegend ständig vor." Er nickte zwei Mal langsam und bedächtig, wobei er einem treuen Hund glich. "Später hörte ich noch einen dumpfen Schlag", fuhr er fort, "Doch, wie gesagt, es wirkte nicht weiter ungewöhnlich. Außerdem begannen die Schlaftabletten bereits zu wirken." Er lachte mit einer seltsamen Mischung aus einem tiefen Glucksen und Kichern.

"Können Sie sagen, wann das ungefähr gewesen ist?", fragte ich.

Er antwortet: "Das muss so gegen sechs Uhr gewesen sein, vielleicht auch ein bisschen früher."

In Geistesgegenwart fragte ich ihn, wo der Briefträger dieses Viertels wohnen würde und er nannte uns seine Adresse.

Wir stellten noch einige Fragen, doch wir konnten keine neuen Details erfahren. Schließlich verabschiedeten wir uns. Ich warf einen letzten Blick auf den Mann und wurde das Gefühl nicht los, dass er eine bekannte Persönlichkeit war.

Auf unserem Weg nach draußen trafen wir auf einen jungen Mann. Im grell wirkenden Laternenlicht konnte ich einen der Laufburschen des Polizeireviers dieses Viertels erkennen. Er schnauft lautstark: "Endlich habe ich Sie gefunden. Mir wurde befohlen, ihnen auszurichten, dass sie sich sofort aufs Revier begeben sollen. Die zwei Rentiere sind aufgekreuzt."

"Zwei?", entfuhr es Charmee verwundert.

Der bereitgestellte Rentierexperte wartete bereits ungeduldig neben den beiden Tieren und begann sofort ohne Umschweife seine Rede, wobei er auf das linke Tier deutete: "Rentiere, also Rangifer tarandus, haben kleine Ohren und besitzen sowohl als Männchen, sowie als Weibchen ein Geweih."

Er zog an dem Geweih des einen Tieres, welches sich problemlos löste: "Hierbei handelte es sich folglich um eine Fälschung und somit wohl um einen schlechten Scherz, auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie jemand von dem Vorfall erfahren haben sollte. Dieses hingegen", er deutete auf das rechte Tier, "wurde ebenfalls heute Nachmittag vor dem Revier aufgefunden und ist echt. Zudem ist es von derselben Art wie die anderen Rentiere des Schlittens. Ihr entlaufenes Tier dürfte somit nicht weiter als vermisst gelten." Der Mann schloss mit einem zufriedenen Lächeln.

"Dann hatte es wohl keine Lust mehr, jedes Jahr Geschenke zu verteilen und nutze die Gelegenheit zur Flucht", sagte Charmee mit einem schallenden Lachen, "Können die eigentlich auch reden?". Der Rentierexperte betrachtete ihn mit einem Blick völligen Unverständnisses, welcher peinliche Unannehmlichkeit verbreitete. Charmee selbst war damit beschäftigt, das Rentier zu tätscheln und bemerkte von all dem nichts.

Wir betraten das Revier, um uns auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen, doch schon auf halbem Weg kam mir wieder ein Laufbursche entgegen und hielt triumphierend einen Brief in die Höhe:" Der ist soeben für Sie angekommen Professor."

Ich öffnete ihn und las:

Professor, dies ist ein anonymer Brief! Ich habe gesehen, wer den Anschlag verübt hat. Sie suchen an der falschen Stelle!

Keine Unterschrift, lediglich die Zeichnung eines kleinen Skalpells, an dem Blut klebte.

Der Umschlag war schmutzig und am rechten oberen Eck merkwürdig eingerissen. Es war offensichtlich, dass er schon mehrmals verwendet wurde.

"Meine Herren", sagte ich, " dieser Vorfall wird immer merkwürdiger. Folgen Sie mir, bitte!"

Mit diesen Worten rannte ich in die Dunkelheit davon, bis ich unweit der Dezemberstraße heftig an eine Tür klopfte. Der Briefträger mit dem gezwirbelten Bart öffnete uns.

"Wissen Sie, wo sich dieser Briefkasten befindet? Kennen Sie diesen Brief?", fragte ich und tippte aufgeregt auf das beschädigte obere Eck des Briefes.

Er schien überrascht, antwortet dann aber sofort: "Ja sicherlich. Diesen Briefumschlag habe ich schon öfter befördert. Er wurde so eingeworfen und auch wieder bei der Poststelle abgegeben. Der Briefkasten ist immer viel zu voll gewesen, deswegen ist er mir mal eingerissen, als ich ihn einwerfen wollte. Damals war er allerdings noch in wesentlich besserem Zustand." Er zeigt entschuldigend auf eine verblichene Stelle. Dann nannte er uns die Adresse und wir setzten unseren Weg fort. Ich hatte das Gefühl, dass dies noch eine lange Nacht werden würde.

Viertes Kapitel

Die Gegend wurde mit der Zeit immer schlechter und das einzige, was Licht spendete, waren die kläglichen Straßenlaternen und der hell leuchtende Schnee. Mein großer Schatten fiel auf eine verwüstete Hauswand auf die "The Juwes are the men that will not be blamed for nothing", oder so ähnlich, geschrieben wurde.

"Was das wohl zu bedeuten hat?", fragte Charmee und betrachtete die Wand eingehen.

Ich kümmerte mich nicht weiter darum, denn wir waren am Ziel angekommen. Durch Handbewegungen beschwor ich die anderen zu absoluter Stille, während wir uns an die Tür heranschlichen. Wie durch ein Wunder wurde sie gerade von Innen geöffnet. Der Herauseilende blickte erschrocken und wollte die Türe wieder ins Schloss werfen, doch ich stellte meinen Fuß blitzschnell zwischen Tür und Angel. Zur Strafe durchfuhr mich ein beißender Schmerz.

"Sagen Sie uns, wer die Tat begangen hat!", brüllte ich in der Hoffnung, den Gegner damit einzuschüchtern und meinen Fuß zu befreien. Zu meiner Überraschung schwand der Gegendruck tatsächlich langsam und die Tür wurde geöffnet. Aus dem Dunkeln lugte uns ein listiger Mann entgegen.

"Es war dieser Mann", wisperte er, "er wohnt gegenüber des Tatorts, in Hausnummer 22. Er hat eine kleine Tochter. Ich habe ihn gesehen!", zischte er hinterher und hatte die Türe, bevor ich nochmals reagieren konnte, wieder rasch geschlossen. Einen Moment lang kämpfte ich mit dem Gedanken, ihn dazu aufzufordern die Türe zu öffnen, besann mich dann aber darauf, dass wir die gesuchten Informationen erhalten hatten.

Ein weiteres Mal klopften wir an diesem Abend an eine Türe, es war die mit der Hausnummer 22. Ich war inzwischen unendlich müde und erschöpft, doch die Hoffnung der Lösung des Falles nahe zu sein, ließ mich neue Kraft schöpfen.

Diesmal öffnete uns ein süßes kleines Mädchen die Tür. Ich erkannte es als dasjenige wieder, welches ich heute Morgen kurz im Fenster erblickt hatte.

"Was möchtet ihr?", fragte sie schüchtern.

"Können wir mit deinem Vater reden?"

Sie nickte mit dem Kopf und ließ uns herein. Er saß schluchzend im Wohnzimmer und verdeckte sein Gesicht mit seinen großen Händen. Auf unser geräuschvolles Ankommen blickte er auf.

Überrascht stellten wir fest, dass er dem Weihnachtsmann bis auf das letzte Haar glich, lediglich sein weißer Bart war etwas kürzer.

Er hatte unsere Blicke wohl bemerkt und seufzte tief auf: "Wir sind Zwillinge. Eineiige Zwillinge, wie unschwer zu erkennen ist." Mit einer Geste gebot er uns, uns hinzusetzen. Er setzte sich seine kleine Tochter auf den Schoß und begann zu erzählen: "Ich habe Sie schon erwartet … Es ist eine komplizierte Geschichte: Mein Bruder wurde wenige Minuten vor mir geboren. Wie es in unserer Familie Brauch ist, übernahm er als ältester Sohn das Amt des Weihnachtsmannes. Es machte ihn zum Liebling der Menschen und mich zum schwarzen Schaf der Familie. Mit der Zeit gerieten wir über dieses Thema immer öfter in Streit, bis es schließlich zum Bruch kam. Wir hatten keinen Kontakt mehr und er besuchte uns auch nicht mehr an Heiligabend. Meine kleine Tochter und ich selbst waren sehr traurig darüber, deshalb schrieb ich ihm den Brief und bat ihn herzukommen." Er sah sehr niedergeschlagen aus. "Aber ich habe ihn nicht erschlagen wollen, es war alles ganz anders als sie denken. Ich sah ihn gerade vor dem Haus mit seinem Schlitten ankommen, als eine vermummte Gestalt sich auf ihn stürzte und versuchte, ihm den Sack aus der Hand zu reißen. Ich zog im Vorübergehen meine Handschuhe an, griff nach dem Baseballschläger und rannte aus dem Haus, um meinem Bruder zu Hilfe zu eilen." Das kleine Mädchen begann plötzlich zu schluchzen und drückte seinen Kopf an den dicken Bauch ihres Vaters, "Doch in der Sekunde als ich zuschlagen wollte, bückte die Gestalt sich, um etwas auf dem Boden aufzuheben und ich traf meinen Bruder mitten an den Kopf. Es war schrecklich, er fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Die andere Person rannte davon und ich tätigte den anonymen Anruf bei Ihnen, um Hilfe für meinen Bruder zu bekommen. Ich kann nur hoffen, dass er wieder gesund wird".

"Konnten Sie die andere Person erkennen und uns zu ihr führen?", fragte mein Freund Jopa.

Er nickte: "Es war die Betreuerin des Waisenhauses hier in der Nähe. Sie müssen nur der Straße bis ans Ende folgen, dann finden Sie es ohne Probleme. Meine Herren, Sie werden verstehen, dass ich sie nicht verraten konnte, sonst hätte ich mich selbst verraten."

Nach einem kurzen Schweigen klopfte ich ihm aufmunternd auf die Schultern: "Da wir noch keine neuen Nachrichten erhalten haben und davon ausgehen müssen, dass ihr Bruder immer noch im Koma liegt, können Sie wenigstens dieses Jahr der Weihnachtsmann sein. Sonst stehen wir vor einem großen Problem", schlussfolgerte ich und zwinkerte ihm zu.

Wir fanden die Betreuerin des Waisenhauses vor der Einrichtung mit einigen größeren Kindern in eine Schneeballschlacht verwickelt. Als sie uns kommen sah, ließ sie die Kinder alleine weiterspielen und lief uns entgegen: "Ich möchte Ihnen alles erklären", sagte sie, " Ich habe das alles nicht gewollt. Wissen Sie, der Weihnachtsmann hat uns letztes Jahr einfach vergessen und die Kinder waren alle furchtbar traurig, sie haben doch niemanden. Um dies zu vermeiden, beschloss ich, mich dieses Mal selbst darum zu kümmern. Ich wollte doch nur einige Spielsachen aus dem Sack nehmen, es waren so viele darin, dass es bestimmt nicht aufgefallen wäre."

Eine Woche später saß ich bequem mit einer Decke in meinem Schaukelstuhl und trank genüsslich meinen 6-Uhr-Kaffee. Weihnachten war vorbei und neben mir auf dem Tisch lagen zwei geöffnete Briefe.

Der eine war von der Betreuerin des Waisenhauses, sie wünschte mir nachträglich frohe Weihnachten und bedankte sich überglücklich für die Erlassung ihrer Strafe und die zahlreichen Spielsachen, die ihr Waisenhaus dieses Jahr bekommen hatte.

Der zweite Brief war vom Bruder des Weihnachtsmannes. Er berichtete darin, wie schön es gewesen war, die zahlreichen Kinder glücklich zu machen. Stolz erwähnte er, dass er sich sofort mit seinem Bruder versöhnt hatte, als dieser nach drei Tagen aus dem Koma erwacht war und sie die Weihnachtstage ab jetzt immer zusammen feiern würden.

Ich betrachtete in Ruhe den schmelzenden Schnee, nippte an meiner Tasse und hing meinen Gedanken nach: Ja, wie schön die Weihnachtsfeste immer gewesen waren!

***

Eingereicht am 16. April 2007
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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