eBook-Tipp
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Das letzte Weihnachtsessen© Marcel MellorIch hatte Onkel Philipp immer um seine Fähigkeit, Freunde zu gewinnen, bewundert und jedes seiner berühmten Weihnachtsessen, an denen auch ich des Öfteren sein Gast war, genossen. An dem vorerst letzten dieser Einladungen war ich vor den anderen erschienen, hatte mir von dem einzigartigem Hausmädchen Philipps, Waltraud, das Gartentor öffnen lassen und war gedankenversunken unter den verschneiten Birken, die sein Landhaus umzingelten, spaziert. Durch das beschlagene Fenster sah ich meinen Onkel in seinem Arbeitszimmer auf- und abgehen und die Vorfreude versüßte mir das Warten auf die drei anderen Gäste, die nach einer halben Stunde eintrafen. Eine Gruppeneinladung war im Hause Zirn eher selten, weswegen ich meine Mitbesucher auch nur flüchtig kannte. Rebecca, die einzige Frau in der Runde, war eine braungebrannte Mittdreißigerin, deren Leben voller Geldsorgen und Männern war, letztere hauptsächlich um das erste zu lösen; dann war da Daniel Cillis, von Beruf ein aufstrebender Arzt von arrogantem Wesen und schließlich noch der blondgelockte Oliver, dessen Nachnamen ich nicht kannte. Er war ein typischer Onkel-Philipp-Freund, diese Sorte von Sonderlingen die introvertiert und nervös durch die Welt laufen, nur zu Weihnachten von ihren Verwandten registriert werden und allein bei besonderen Menschen wie meinem Onkel die Hüllen fallen lassen. Nicht nur zu Weihnachten. Innerhalb der wenigen Augenblicken unserer Begrüßung hatte Oliver schon zweimal seine Brille mit schweißverklebten Händen auf- und wieder abgesetzt und beunruhigt zum Himmel gesehen. Es sah nach weiterem Schnee aus. Rebecca sah auf die Uhr. "Wir sind früh. Wollte ihr im Pavillion kurz einen Augenblick warten? Dann hole ich noch mein Geschenk aus dem Auto." Wir stimmten zu und setzten uns in die Laube. Cillis fing an zu rauchen und erzählte von seinem Arbeitstag. Danach herrschte Schweigen. Umso aufgeschreckter waren wir, als nach einigen Minuten die Haustür, etwa zwanzig Meter von der Laube entfernt, aufgerissen wurden, und eine Waltraud, die von jeglicher Gelassenheit und allem, was das herzensgute Hausmädchen noch ausmachte, verlassen schien, durch den Schnee stapfte. "Frau Gersten, ist etwas nicht in Ordnung?", fragte Cillis und steckte seine zweite Zigarette wieder ein. "Sie müssen unbedingt reinkommen", ächzte sie. "Es ist etwas schlimmes ... ich glaube jedenfalls ... von Anfang an war ich beunruhigt." "Ist ein Unfall geschehen?", versuchte ich, der verwirrten Frau auf die Sprünge zu helfen. Sie watschelte schon wieder ins Haus. Wir liefen hintendrein, überschüttet von mir sich nicht erschließenden Satzfetzen seitens der beunruhigten Haushälterin: "Er war die ganze Zeit im Zimmer, eingeschlossen und zum Schluss hat er nach mir gerufen, ganz schwach und dumpf ... an der Tür, als ob er an ihr gelegen hatte ... und geklopft hat er die ... die ganze Zeit hab ich ...und dann konnte er nicht ... einfach nicht mehr." "Onkel Philipp ist in seinem Zimmer, und die Tür ist verschlossen?" Waltraud nickte und schnäuzte sich. Cillis und sie gingen über die Treppe im Eingangsflur in das Obergeschoss und hinterlassen Pfützen auf den Läufern. Ich blieb mit Oliver unten stehen. Er sah mit zusammengekniffenem Mund zur Erde, als ob er die Fliesen zählen wollte. Vielleicht tat er es wirklich. Nach wenigen Minuten ließ uns ein von oben kommender dumpfer Krach zusammenzucken. Wir erschraken gleich ein zweites Mal als Rebecca im selben Moment zur Tür hereingeschneit kam. "Was ist denn hier los?", fragte sie ungehalten. "Mit Onkel Philipp stimmt irgendetwas nicht. Er hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen ... und jetzt haben sie, dem Getöse nach, die Tür eingeschlagen." "Das muss ich sehen", konstatierte Rebecca und stiefelte die Treppe hinauf. Gerade hörte man Waltraud erneut aufheulen. Natürlich konnten wir uns denken, was geschehen war, aber als Cillis nach weiteren langen Minuten mit Waltraud nach unten kam und uns vom Tod Philipps unterrichte, spürte ich einen tiefen Schmerz in der Hüfte. Oliver zählte die Fliesen. "Er ist gestorben?", sagte ich schließlich. "Einfach so? Daniel, können Sie irgendetwas sagen, als Arzt meine ich?" Cillis rieb sich die Hände, als ob er sich gewohnheitsmäßig die Handschuhe ausziehen wollte und sagte ebenso gewohnt sachlich: "Es nützt niemandem, wenn ich die Tatsachen verschweige. Er hat einen Messerstich im Rücken und lag mit dem Gesicht an der Tür. Philipp wurde ohne Zweifel ermordet." Waltraud wimmerte nur noch, beinahe fühlte ich mich versucht, wie Oliver meine Brille abzunehmen. Ich war nicht imstande, so viele Überraschungen auf einmal zu verarbeiten. "Ermordet? Von wem nur?" "Das soll die Polizei herausfinden", sagte Cillis. Gerade war Rebecca wieder heruntergekommen. "Rebecca, wollen Sie bitte die Polizei verständigen?" "Natürlich", sagte sie. "Oliver, zeigen Sie mir das Telefon, Sie kennen sich hier besser aus." Kaum waren die beiden verschwunden, als Cillis einen Brief aus der Tasche holte. "Das hat Philipp bei sich in der Brusttasche gehabt. Es ist offensichtlich, dass wir ihn finden sollten, denn ihm nützt er nichts mehr." Er faltete das Papier auseinander und ich las die in dunkelroter Tinte geschriebenen Worte:
Lieber Philipp,
Ich wartete auf einen Kommentar des Arztes zu diesem erschütternden Schriftstück, doch er wandte sich an die aufgelöste Haushälterin: "Ach, Waltraud, wenn Sie doch bitte das Essen im Wohnzimmer auftragen würden? Das Warten auf die Polizei ist ohne Ablenkung unerträglich." Rebecca war soeben mit Oliver zurückgekommen und starrte Cillis mit offenem Mund an. "Sie wollen jetzt zu Abend essen?" "Dafür sind wir gekommen, oder etwa nicht? Es ist besser als hier im Flur zu stehen und depressiv zu werden. Essen wir etwas und schauen den Baum an." Mir wurde Cillis immer unsympathischer. Möglicherweise hat man als Arzt eine kühlere, vielleicht auch vernünftigere Nähe zum Tod als andere, aber seine Reaktion auf den plötzlichen Mord an unserem gemeinsamen Freund schien mir völlig unangebracht. Die anderen aber waren von seinem Vorschlag angetan. "Vielleicht ist es wirklich das beste", sagte Rebecca. "Wie gesagt, besser als einfach zu warten." Oliver nickte. Es gab Ente. Eine Schüssel mit Beilagen und Desserts nach der anderen tischte die Haushälterin, genervt durch den Tannenbaum in der Mitte des Raumes, auf. Ich aß nichts, sondern versuchte, die Stille, beziehungsweise die sie durchbrechenden Essgeräusche durch eine Unterhaltung zu vertreiben. "Nun, wir sind alle drei nicht dumm. Wir wissen, dass Philipp ermordet wurde und dass er sich eingeschlossen hatte. Geht es nur mir so, oder versteht jemand von Ihnen, wie derjenige, der ihn ... also...." "Der Mörder", half Rebecca mit vollem Mund. "Haben Sie Furcht vor diesem Wort?" Sie las gerade den Brief, der gefunden worden war. Ehe ich etwas erwidern konnte, sagte Cillis: "Sie fragen sich, wie der Mörder in das verschlossene Zimmer gekommen ist?" "Ja, das tue ich. Ich denke mir, dass er in das Haus eingedrungen ist, ihn erstochen hat, und in dann in seinem eigenen Arbeitszimmer eingeschlossen hat." Rebecca kicherte. "Christian, ich fürchte, Sie sind etwas durcheinander. Sie vergessen, dass Philipp in seinem Zimmer in Todesqualen gestöhnt hat. Dadurch ist Waltraud doch erst alarmiert worden." "Außerdem ist die Wunde dafür noch zu frisch. Der Tote ist an einem Messerstich gestorben, der höchstens eine halbe Stunde alt ist", sagte Cillis. Rebecca sah ihn von der Seite an. "Also ist er erst vor einer halben Stunde ... ermordet worden?", fragte Oliver mit näselnder Stimme. "Seltsamer Gedanke." Mehr schien er nicht zu sagen haben. Cillis lächelte überlegen: "Der seltsame Gedanke ist vielmehr der, dass einer von uns der Mörder ist." Das Kauen verstummte. Rebecca zog die Stirn kraus: "Wie bitte?" "Ich dachte mir schon, dass Sie diese Tatsache noch nicht erkannt haben. Das Haus ist von einem hohen Metallzahn umgeben, das Tor war verschlossen, beziehungsweise von uns bewacht. Irgendwann, seit wir hier sind, hat ihn einer von uns ermordet. Einer von uns ist durch das Fenster gestiegen - denn eine andere Möglichkeit eröffnet sich mir nicht - hat Onkel Philipp erstochen und hat sich dann wieder zu uns gesellt." "Aber wir sind doch alle zusammen durch das Tor gekommen. Waltraud hat uns aufgemacht", wandte Rebecca ein. Dann sah sie mich an. "Das heißt, Sie waren schon vor uns da." Ich wurde rot. "Na und? Natürlich war ich früher da. Ich bin unter den Birken spazieren gegangen und habe mir den Rodedendrohn angesehen." Oliver sah mich scheel von der Seite an und sagte nur: "Rodedendrohn, soso." Ich bemühte mich verbissen, ruhig zu bleiben. "Bitte, wollen wir uns gegenseitig beschuldigen? Ich denke nicht. Dann könnte ich ebenso gut Rebecca vorwerfen, sie sei gar nicht zum Auto gegangen, sondern um das Haus herum zum Fenster des Arbeitszimmers. Ohnehin finde ich den Verdacht, einer von uns sei der Mörder, abstrus." "Inwiefern?", fragte Daniel Cillis spitz. "Sehen Sie das nicht selbst? Wir sind die vier besten Freunde Philipps. Und ausgerechnet einer von uns soll ihn, auch noch vor einem gemeinsamen Weihnachtessen, ermorden?" "Auch Freunde morden", belehrte mich Rebecca. "Solange sie ein Motiv haben. Ein Motiv findet einen Zeitpunkt, und sei es das Fest der Liebe." "Was sollte das für ein Motiv sein?", fragte ich. Bevor jemand antworten konnte, kam Waltraud herein, nicht mit Nachschub, sondern einer weiteren Überraschung - aus dem Arbeitszimmer waren drei Münzen aus Philipps Sammlung entwendet worden. Ihr Wert belief sich um die 30000 €. "Na bitte, da haben wir das Motiv", sagte Rebecca sofort. "Raubmord, ziemlich primitiv, aber einleuchtend." "Stimmt, Geld können wir alle gebrauchen. Es ist wohl ein offenes Geheimnis, das wir alle in finanziellen Schwierigkeiten stecken und gerade deswegen Philipp Zirn des Öfteren aufsuchten." Ich wunderte mich. Meine drei Tischgesellen waren alle gut betucht, das wusste ich. Aber wohlhabende Leute sind wahrscheinlich die Menschen mit den meisten Geldsorgen. Noch verwunderliche war, dass ich die Freundschaft mit meinem Onkel ohne jeglichen Hintergedanken gepflegt hatte. Damit schien ich Außenseiter zu sein. "Ich habe keine finanziellen Schwierigkeiten", beteuerte ich schließlich. "Zig tausend Euro können Sie auch gebrauchen. Selbst wenn nicht, für Sie finden wir noch ein Motiv", versprach Cillis. "Ich wüsste nicht ...." "Zum Beispiel, Philipp zum Schweigen zu bringen", unterbrach mich Rebecca, mit der Gabel auf mich zeigend. "Sie haben ihm, so wie wir alle, die größten Geheimnisse ihres Lebens erzählt. Deswegen sind wir zu ihm gekommen. Um uns auszuheulen und das Gefühl zu haben, einen Freund zu haben, der uns zuhört." "Mich auszuheulen war nie mein ...." "Die einzige Schwäche Philipps war, dass er nicht dicht halten könnte, auch nicht, was die Geheimnisse ... und sagen wir mal Neigungen seines Neffen anging." Ich wusste wirklich nicht, wovon sie sprach. War das einer ihrer psychologischen Kniffe? Aber Cillis sah mich ebenfalls an und nickte ernst. Ich versuchte es mit einem Gegenangriff. "Schön, ich habe wiederholt versucht, die gegenseitigen Beschuldigungen zu unterbinden, jetzt spiele ich mit. Rebecca, wie viel werden Sie von meinem Onkel erben?" Cillis lachte. "Bin ich noch gar nicht drauf gekommen, aber Sie haben Recht. Philipp war ein Mann, ein besonderer vielleicht, aber niemand, der sich von einer Frau wie Rebecca nicht um den Finger wickeln ließ. Oder hat er Ihre Taktik etwa durchschaut? Rebecca lehnte sich zurück. "Das geht euch gar nichts an. Wenn es um einen der anderen vielen Männer ginge, bei denen ich bereits im oberen Drittel des Testaments stehe, wäre ich bereit zu sprechen. Doch wie Sie schon sagten, Philipp war ein besonderer Mann." "Aber ihre anderen Affären leben alle noch. Sagen Sie schon, was springt für Sie raus?" Die Augen der Verführerin wurden klein. "Was seid ihr für Kerle? Sitzen diese Klischees von der Männer vergiftenden, geldgierigen Frau immer noch in euren Höhlengehirnen?" "Stimmt, vergiftet haben Sie ihn nicht." "Ich habe ihn auch nicht ermordet!", zischte Rebecca gefährlich. "Soll ich in den wenigen Minuten, in denen ich weg war, einen kräftigen Mann überwältigt haben und erdolcht haben? Ich fürchte, Ihr überschätzt mich. Um von sich abzulenken, müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen, Christian." Ich fragte, was sie damit meinte. "Ich bitte Sie! Sie waren wer weiß wie lange vor uns da. Waltraud war die ganze Zeit in der Küche, da hätten Sie genug Zeit gehabt, durch das offene Fenster zu steigen und ihren Onkel von hinten dreimal zu durchbohren." "Ich sagte doch, dass ich im Garten war." "Was hatten Sie da zu suchen? Ihre Version klingt hanebüchen." "Aber sie ist wahr. Ich habe Onkel Philipp doch noch im Arbeitszimmer gesehen - lebend." Gerade wollte ich fortfahren, als Oliver neben mir plötzlich aufstand, als ob er sich auf einen Nagel gesetzt hätte und im Laufschritt das Zimmer verließ. Ich sah ich gerade noch, wie am unteren Teil seines verschwitzten Hemdes ein großer roter Fleck prangte. Oliver murmelte etwas von "Füller ausgelaufen." Einen Augenblick war ich irritiert. Die anderen hatten aber offenkundig nichts bemerkt, weshalb ich fortfuhr: "Über noch etwas sollten wir reden: Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass in unserer Erklärung etwas nicht stimmt?" Ich machte eine künstliche Pause, um stolz meinen Einfall zu verkünden: "Waltraud hat wiederholt gesagt, dass Onkel Philipp in den letzten Minuten seines Lebens verzweifelt an die Tür geklopft habe. Warum tat er das? Weil er nicht hinauskonnte. Warum konnte er nicht hinaus? Ganz sicher nicht, weil er sich selbst eingeschlossen hatte. Er wurde vielmehr eingeschlossen." "Wie das?", fragte Rebecca skeptisch. Ich stocherte in meiner Ente herum. "Kann es nicht sein, dass ein Fremder in der Zeit als Waltraud weg war, denn das war sie den ganzen Nachmittag über, Onkel Philipp besucht hat?" "Christian", stöhne Cillis, "ich habe Ihnen doch gesagt, die Wunde ist erst eine halbe Stunde alt!" "Außerdem haben Sie Philipp erst vor einer halben Stunde gesehen - lebend", sagte Rebecca mit einer Stimme, mit der man kleine Kinder ermahnt. Ich spürte immer größere Unruhe in mir, von der mich auch ein neuer Gedanke nicht ganz befreien konnte: "Vielleicht habe ich auch nicht Philipp gesehen. Das Fenster war beschlagen. Ich habe einen Mann mit kurzrasiertem Nacken von hinten gesehen, das steht fest. Das können genauso gut Sie gewesen sein, Daniel." Cillis hörte zum ersten Mal auf, zu essen. "Christian Zirn, was soll das?" "Es habe lediglich gesagt, was möglich ist." "Das haben Sie nicht. Da ich nämlich erst nach Ihnen kam, ist Ihre These völlig haltlos." "Wo ist Oliver eigentlich hingerannt?", fragte Rebecca, absichtlich ohne Zusammenhang zu unserem Gespräch. Ich bot mich an nachzuschauen und lief durch den Flur Richtung Badezimmer, in dem Oliver meiner Meinung nach verzweifelt versuchte, sein Hemd zu reinigen. Stattdessen traf ich Ihn am Sekretär sitzend, mit dem altmodischen Telefon Philipps in der Hand. Ich hörte noch, wie unser Außenseiter im Quartett die Adresse unseres Gasthauses nannte, dann brach er erschrocken ab. Kein Wunder, ich packte ihn wütend am Kragen und schmiss den Telefonhörer beiseite. "Wenn haben Sie angerufen?", donnerte es aus mir heraus. "Den ... die Polizei", stammelte Oliver näselnd. Ich riss die Augen auf. "Sie haben die Polizei erst jetzt angerufen? Jetzt wird mir klar, warum sie so lange auf sich warten lässt - weil Sie uns alle hinhalten. Und den Grund dafür werden Sie mir schleunigst verraten, verstanden?" Oliver hatte sicherlich verstanden, aber er zog es vor, mich in den Arm zu beißen und in seiner einzigartigen Gangart den Flur entlang zu sausen. Die Überraschung bewirkte bei mir nur noch größere Wut - als ob der sichere Mörder vor mir auf der Flucht war, schrie ich: "Haltet ihn! Oliver darf nicht entkommen!" Dazu kam es auch nicht, denn Oliver landete - ob aus Absicht oder nicht - im Esszimmer und lief genau gegen den Weihnachtsbaum. Der fiel auf den Esstisch, die Ente versank in Nadeln und Lametta. Oliver wurde von den zweien festgehalten, sträubte sich aber verbissen, und als ich mich ebenfalls erregt einmischte, war das Gebalge perfekt. Heute schäme ich mich verständlicherweise für mein Verhalten, aber damals hatte ich keinen besseren Einfall, als an Olivers Locken zu zerren - um sie im selben Moment in der Hand zu halten. Vor uns stand ein kahlköpfiger, seiner Perücke entledigter Oliver, dem die Tränen über die Wangen liefen. Vor meinen Augen wurde alles klar. "Oliver, Sie durchtriebener Feigling! Jetzt weiß ich, wen ich von hinten gesehen habe: Sie, und zwar ohne diesen Mopp hier!" Während ich diese beleidigenden Worte von mir gab, riss ich Olivers Sakko ebenfalls herunter und nahm aus seiner Brusttasche einen goldenen Füller, der genau wie sein Hemd mit roter Tinte verschmiert war. "Mit diesem Füller haben Sie den freundschaftlichen Abschiedsbrief geschrieben. Dabei sind sie so ungeschickt, es uns alle sehen zu lassen, genauso wie Sie die Polizei mitten im Flur erst jetzt anrufen." Oliver heulte jetzt wie die Haushälterin meines Onkels. "Aber der Füller gehört nicht mir", blubberte es tränenerstickt aus ihm hinaus. "Irgendwer hat mir dieses verdammte Ding zugesteckt." Der Füllfederhalter wurde aus meiner Hand gerissen und von ihm wütend in die Ecke geschmissen. Rebecca hob ihn auf und besah ihn. "D.C.", steht hier", sagte sie schließlich ausdruckslos in die Runde. Cillis nahm den Füller, der wie ein Pokal die Runde machte, und legte ihn wortlos auf den Tisch. "Ich denke, wir sollten dem Füller nicht allzu große Bedeutung schenken." Rebecca bemerkte: "Natürlich nicht, es stehen schließlich Ihre Initialen drauf." "Ich bin nicht verkalkt", giftete Cillis. Zum ersten Mal verlor er seine arrogante Kühle und Sachlichkeit. "Rote Füller gibt es in diesem Haus reichlich. Der Brief kann mit irgendeinem Stift geschrieben worden sein." "Aber wie kommt der Stift in Olivers Tasche?", fragte ich. Rebecca setzte sich nah an Daniel Cillis heran und sah ihm direkt in die Augen. "Beantworten Sie mir eine Frage: Ist das Ihr Füller?" Cillis kniff den Mund zusammen. "Sie können mich nicht nervös machen, Rebecca." "Ich denke schon." Sie nestelte in ihrer Handtasche herum und brachte schließlich ein Messer, sorgfältig mit einem Taschentuch umwickelt, zum Vorschein. "Ich möchte gerne mit Ihnen wetten. Ich wette, dass dies Ihr Füller ist und, wenn wir ihn nicht schon alle angefasst hätten, auch Ihre Fingerabdrücke darauf wären. Und ich wette, dass dies Ihr Messer ist. Ich habe es oben im Arbeitszimmer gefunden, als Sie bereits wieder auf dem Flur waren. Hier werden wir, was Ihre Fingerabdrücke angeht, sicherlich fündig." Cillis schnaufte und kreischte unerwartet: "Jetzt erst recht!" Nachher wusste keiner mehr, wie es zugegangen war. Fest steht, dass Cillis nach wenigen Augenblicken das Messer in der Hand hatte und damit Rebeccas Hals bedrohte. Niemand bewegte sich. Ich wusste, dass die Situation eskaliert war. Wir waren da, wo wir am Anfang des Abendessens auch gewesen waren - jeder im Raum verdächtigte jeden. Nur dass jetzt nicht mehr mit verbalen Waffen gekämpft wurde. Cillis und Rebecca waren mir und Oliver gegenüber. Zwischen uns lag der Weihnachtsbaum. Cillis begann immer schwerer zu atmen. "Was wird hier gespielt, Rebecca? Ich weiß, dass Sie die Fäden in der Hand halten, von Anfang an habe ich es gewusst." "Was Sie in der Hand halten, ist offensichtlich", konterte Rebecca mutig. "Maul halten! Wie haben Sie es hingekriegt, Philipp zu ermorden? Wo haben Sie das Geld hingeschafft?" "Das Geld!", kam es auf einmal aus einer unerwarteten Ecke. Oliver, der sich vor Schreck unter dem Tisch verkrochen hatte, lugte vorsichtig hinter der Soßenschüssel, in der eine Weihnachtskugel schwamm, hervor. "Jetzt verstehe ich auch, warum Sie mir 20 000 € geboten haben!." "Wofür?", fragte ich, immer noch bewegungslos. "Dafür, dass ich die Polizei erst eine halbe Stunde später benachrichtige." "Darauf sind sie eingegangen?" "Auf eine halbe Stunde kommt es doch nicht an, oder? Und 20 000 € ...." "Maul halten", schnauzte Cillis erneut. Rebecca bekam immer weniger Luft. Und mir kam ein letzter Gedanke. "Eine halbe Stunde ... halbe Stunde ... ja, das ist es. Jetzt weiß, wie Sie es gemacht haben, Rebecca." "Erzählen Sie's mir, ich habe gerade nichts vor", krächzte Rebecca. "Sie haben sich selbst verraten. Haben von dem Klischee der vergiftenden Frau geredet, weil sie so selbstsicher waren, dass niemand darauf kommt. Sie haben Onkel Philipp vergiftet." Cillis sah mich mit krauser Nase an. "Christian, sind Sie verrückt geworden?" "Nicht mehr als ihr anderen drei auch, die ihr euch hier gegenseitig abmurkst. Dabei hätten wir schon eher darauf kommen können, dass Philipp bereits heute Morgen Besuch von Rebecca erhielt, als Waltraud in der Stadt war. Sie hat ihn wie immer um den Finger gewickelt und ihm irgendwann ein tödliches Getränk angedreht. So weit so gut, nur war das Gift, das sie Philipp verabreichte, ein langsam wirkendes Gift, das erst heute Abend wirkte. Philipp fühlte sich wahrscheinlich schon vorher schlecht, weshalb er sich in seinem Arbeitszimmer zurückzog. Dort schloss ihn Rebecca ein. Philipp bemerkte es nicht, auch nicht, als ich schon da war und ihn lebend sah. Ihn habe ich gesehen und niemand anders. Dann wurde ihm klar, dass etwas nicht stimmte. Zu spät, seine Kraft reichte gerade noch, um gegen die Tür zu pochen. Als Rebecca schließlich mit uns eintraf, brauchte sie nur noch mit einem Messer Philipp einen halbherzigen Stich zu verpassen, ihm den Brief zuzustecken und Oliver den Füller unterzuschieben. Das ist des Rätsels Lösung." "Warum sollte ich aber erst jetzt die Polizei anrufen?", erkundigte sich Oliver. Meine und Rebeccas Augen trafen sich. "Weil erst jetzt das Gift nicht mehr nachweisbar ist. Habe ich recht, Rebecca? Sie sagen ausnahmsweise nichts und das kann man wohl als Zustimmung deuten." Cillis ließ das Messer sinken. "Aber warum, Rebecca? Das gesamte Geld haben Sie Philipp angeboten. Hätten Sie es ihm gar nicht gegeben?" "Natürlich hätte ich. Sonst hätte er doch geredet, dieser Waschlappen." "Also hat es doch mit dem Testament zu tun?", hakte ich nach. "Sie werden beerbt." Rebecca stampfte mit dem Fuß auf. "Nein, verdammt noch mal, werde ich nicht! Ich habe für ihn mehr getan, als für irgendeinen anderen Mann. Ja, meine Gefühle für ihn waren einmal echt gewesen, was man sonst von keinem hier im Raum behaupten kann. Aber er es nicht gedankt. Die ganzen Jahre waren umsonst." Oliver flüsterte: "Und deswegen haben Sie ihn ermordet." Rebecca starrte ins Leere. "Er wird es mir verzeihen. Zu Weihnachten verzeiht man gerne einmal." Die Polizei traf ein. ***
Eingereicht am 10. April 2007
Unser Tipp: Weihnachts-e-Books
Weihnachtsgeschichten für Kinder und Erwachsene, Adventsgeschichten, kostenlos online lesen und veröffentlichen, Weihnachten, Weihnacht, Advent
|
Unser Tipp: Weihnachts-e-Books
© Dr. Ronald Henss Verlag Home Page