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"Die Leiche befindet sich in einem Plastiksack". Die Telefongeräusche machten die Stimme fast unhörbar. Der Sturm draußen schwoll noch stärker an. Meine Hände umklammerten das Handy, als hinge mein Leben davon ab. "... es ist nur der Torso ... Hände, Beine und Kopf sind sauber abgetrennt ...", erzählte die Stimme ungerührt weiter.
Ich wollte all das nicht hören, es ging mich nichts an. Ich bin nämlich Psychiater.
"... Wir fahren die Leiche in das Leichenschauhaus und warten auf die Autopsie. Halten Sie sich bereit, Herr Dr. Franke, wir sind ziemlich sicher, dass einer Ihrer Patienten damit zu tun hat. Können wir Sie jederzeit erreichen? Gerade jetzt zu Weihnachtszeit ist es schwer, die richtigen Mitarbeiter zu aktivieren, von Ärzten ganz zu schweigen. Wir würden es ...." Meine Versuche, das Gespräch zu beenden, wurden nicht registriert. Mein unsichtbarer Ansprechpartner sprach weiter ins Telefon. ".... sehr begrüßen, Sie im Team zu haben. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Franke". Noch bevor ich etwas antworten konnte, legte der Anrufer auf und ich starrte auf das Telefon in meiner Hand, welches aus meinen weihnachtlichen Feiertagen einen ungelösten Fall machte.
Nach dem Tod meiner Frau war es das erste Weihnachten, das ich alleine verbringen sollte. Die Adventszeit hatte mir sehr zugesetzt. Marla, meine Frau, hatte aus der vorweihnachtlichen Zeit stets eine Zeit der intensiven Vorfreude gemacht. Jetzt war sie nicht mehr da. Meine Augen wanderten zu Marla's Bild auf der Kommode. Ihr Lächeln erwärmte mein Herz noch immer. Ich hatte das Wohnzimmer weihnachtlich geschmückt, alles war an seinem Platz. Der Tannenbaum erstrahlte, in goldenes Licht gehüllt, mit Marla's Lächeln um die Wette. Ich spürte wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Langsam, als wollte ich die Erinnerungen nicht stören, schlich ich im Wohnzimmer umher und versuchte aus dem Anruf schlau zu werden.
Merkwürdig, dass man mich angerufen hat. Sicherlich, in meiner doppelten Funktion als Psychiater und Gutachter vor Gericht, brauchte mich die Kripo schon. Aber sie waren zu schnell auf einen Verdächtigen gekommen. Und dass die Wahl auf einen meiner Patienten gefallen war, musste ich erstmal verdauen. Als wäre das schon das Stichwort, meldete sich mein Magen lautstark zu Wort. Zum Glück hatte ich einen Tag vorher eingekauft und ein festliches Menü für Weihnachten vorgeplant. Ich wollte diese Weihnachten mit Marla feiern, nur wir zwei. Ich wollte mit ihr feiern, um sie trauern, von ihr Abschied nehmen. Als Psychiater wusste ich, wie wichtig die Trauerarbeit war.
Im Esszimmer war der Tisch für zwei Personen gedeckt. Ein Kaffee wäre nicht schlecht, meldete sich mein Gehirn zu Wort. Ich marschierte durch das Esszimmer, weiter in die Küche und brühte mir dort einen frischen Kaffe auf. Der Kaffeeduft verteilte sich im ganzen Haus und mir wurde warm ums Herz. Ich liebte Kaffee. Den bereitete ich immer mit Kardamon oder Zimt auf, ein Brauch, den ich den Arabern während meines Studiums abgeschaut habe. Noch bevor ich eine Tasse Kaffee genießen konnte, klingelte es an der Haustür. Der Tag wurde dadurch nicht besser. Herr Gott noch mal, Leute, es ist Weihnachten, habt ihr nichts Besseres zu tun!
Missmutig marschierte ich zur Haustür. Unterwegs warf ich einen Blick durchs Fenster. Der Sturm hatte sich gelegt. So schnell, dass ich es gar nicht bemerkte, hatte die Sonne die Regie übernommen. Der Garten, voller Schnee, war unberührt und glänzte in der Sonne. Abertausende Diamanten spalteten das winterlichweiße Licht auf und reflektierten es zurück in den Himmel. Die Bäume waren pudergezuckert mit Schnee, das ganze Bild war überirdisch schön. Nur an meiner Haustür stand ein ungebetener Gast.
Ich öffnete die Tür in der Absicht, meine Meinung ungeniert kundzutun, als mir der gehetzte Anblick von Mila Svensson entgegen kam. Mila ist eine meiner Patienten.
"Herr Dr. Franke, bitte helfen Sie mir. Er will mich töten ..." Milas Blick schweifte gehetzt umher, als sie versuchte, sich an mir vorbei zu schleichen, um ins Haus zu gelangen.
"Guten Morgen, Mila. Was ist ..."
"Hier, Herr Doktor, das habe ich gerettet." Mila unterstrich ihre Worte indem sie mir einen Rucksack in die Hände drückte.
"Komm herein Mila, was hast du gerettet?"
"Den Kopf, Herr Doktor. Nur den Kopf habe ich retten können ..."
"Einen Kopf, wovon redest du denn?"
"Sind Sie schwer vom Begriff, Doktor, oder was ist mit Ihnen los?" Milas Stimme hatte einen anderen, tieferen Ton bekommen und ihre Augen blickten selbstbewusst und herrschend.
Ich wusste sofort Bescheid. Mila leidet an dissoziativer Identitätsstörung, früher auch als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt. Patienten mit einer dissoziativen Identitätsstörung weisen zwei oder mehrere unterschiedliche Persönlichkeiten auf, die abwechselnd, aber nie gemeinsam sichtbar sind und zum Teil getrennte Gedanken, Erinnerungen, Verhaltensweisen und Gefühle äußern. Jetzt war es "Jan", der die Führung übernommen hatte.
Schweigend wich ich zur Seite und ließ Mila ins Haus treten.
"Er hat sie umgebracht, ich musste zusehen. Er hat uns im Badezimmer am Stuhl festgebunden und hat sie dann getötet. Ich habe sie alle verdrängt, denn die sind schwach und ich muss sie beschützen."
Mila, besser gesagt, Jan blieb im Flur stehen und wartete darauf, dass ich was dazu sagte. Mit trockener Stimme führte ich sie ins Wohnzimmer und ließ sie Platz nehmen. Ich legte den Rucksack auf den Boden und ging in die Küche, um meinen Kaffee abzuholen. Ich konnte nicht eine Sekunde länger denken, ohne vorher einen Schluck Kaffee getrunken zu haben. Erst holte mich dieser merkwürdige Anruf zu früher Stunde aus dem Bett, und keine zwei Stunde später bekam ich Besuch von meiner Patientin. Und das am Weihnachtstag.
Mein Blick wanderte zum Weihnachtsbaum, dessen Beleuchtung noch an war. Die Sonne strahlte jetzt allerdings so hell, dass der Tannenbaum verblasst in die Ecke thronte. Mila saß inzwischen auf dem Sofa und schielte verängstigt in alle Richtungen. Jan war weg. Ich sprach wieder mit Mila.
"Was ist passiert, Mila, wovon redest du nur?"
Mila schluckte schwer und fing an zu erzählen.
"Mein Mann und ich feierten gestern den Heilligenabend. Ich bin auf seinem Wunsch aus der Klinik entlassen worden, um Weihnachten gemeinsam feiern zu können. Als ich zuhause ankam, war alles sehr merkwürdig. Nichts war vorbereitet. Keine Dekoration, kein Tannenbaum ... nichts ... "
Mila hatte große, graue Augen und schwarzes Haar. Sie wäre eine Schönheit, wäre ihre Krankheit nicht gewesen. Diese Augen blickten verloren durch mich durch, während Mila ihrer Erinnerung nachging. Ab und zu lief ein Zittern durch ihren Körper und sie fiel mehr und mehr in sich zusammen.
"... mein Mann verhielt sich nicht minder wunderlich", fuhr Mila fort. "Er erzählte mir, er hätte jetzt einen Weg gefunden um mich loszuwerden, ohne auf mein Erbe zu verzichten. Und wenn er schon beim Aufräumen wäre, könne er Katja auch gleich loswerden. Auf meine Frage, wer Katja sei, grinste er unverschämt und sagte: Keine Sorge, das wirst du früh genug erfahren. Kurze Zeit später, ich konnte mich von meinem Erstaunen gar nicht erholen, klingelte es an der Tür und eine Frau gesellte sich zu uns. Sie war klein und zierlich, mit blondem Haar und himmelblauen Augen. Ganz anders als ich."
Mila schaute während sie sprach fest auf den Boden, zitterte ununterbrochen und zuckte ängstlich mit den Schultern.
"Sie sagte, sie wäre da, um meinen Platz einzunehmen. Ich war zur Säule erstarrt und blickte verwirrt die beiden an. Mein Mann fasste mit einer Hand nach mir und zerrte mich Richtung Badezimmer. Katja folgte ihm mit einem Stuhl in den Händen. Sie sprachen nicht miteinander. Ich vermutete, sie hatten das alles schon vorher geplant, und dachte, meine letzte Stunde habe geschlagen. Katja stellte den Stuhl mitten in das Badezimmer, so dass man die Badewanne sehen konnte. Ich zitterte und schluckte schwer. Was wird nur mit mir geschehen? Mein Mann schaute mich angewidert an und drückte mich fest auf den Stuhl. Katja reichte ihm die Fesseln und er band mich am Stuhl fest. Dann ..."
Mila stockte, änderte ihre Sitzposition und verharrte einen Augenblick in halb aufrechter Haltung. Ihr Kopf war nach unten geneigt, ihr Blick am Boden verankert. Mein Kaffee war inzwischen kalt, doch ich verfolgte gebannt Milas Geschichte.
"... dann übernahm ich die Steuerung ... " Jan's Stimme tönte aus Milas Körper und ihr Kopf schnellte nach oben. "... die anderen sind so schwach, ich musste sie beschützen ..."
Die "anderen" waren Mila, Marvin und Maria. Sie waren zu viert in Milas Kopf, doch Jan war der Stärkste. Maria war das kleine Mädchen und Marvin war ein notorischer Angeber. Ich kannte sie alle, aber am allermeisten habe ich mit Mila und Jan gearbeitet.
"Dann nahm der Unhold diese Katja behutsam in die Arme, hob sie hoch und trug sie zur Badewanne." Jan schüttelte sich, als würde ihn das ganze anekeln. "Festgebunden am Stuhl sah ich zu, wie er Katja auszog, in die Badewanne legte und ihr dann kräftig den Kopf einschlug. Sie verlor sofort das Bewusstsein, denn sie rührte sich nicht mehr. Er zog ein Jagdmesser aus der Hosentasche und trennte ihr, mit nur einem festen durchgezogenen Schnitt den Kopf vom Hals ab. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte ich das ganze und konnte mir keinen Reim darauf machen. Er hob den Kopf an den Haaren und hielt ihn mir vor der Nase. Ich musste mich übergeben. Er lachte voller Schadenfreude und sagte: Was habt ihr denn geglaubt? Dass ihr davonkommt? Jetzt wisst ihr, wie meine Rechnung aussieht. Eine in die geschlossene Anstallt und die andere tot. Und ich frei! Dann drehte er sich um und vollbrachte unter meine Augen seine Arbeit. Er trennte die Arme und die Beine vom Körper ab und suhlte sich in einem Meer aus Blut. Ich versuchte mich loszubinden, doch die Fesseln waren zu fest verschnürt. Als er fertig mit dem Schnippeln war, holte er Plastiksäcke hervor und packte die Leiche ein. Die Beine in den ersten Sack, die Hände in den zweiten, und den Körper oder das, was noch übrig war, in einen dritten Sack. Den abgetrennten Kopf legte er mir auf dem Schoss. Die vollgepackten Plastiksäcke trug er zum Auto und fuhr davon. Ich weiß nicht, wie lang es dauerte, ich verlor jegliches Zeitgefühl. Ich konnte nur noch auf den Kopf auf meinem Schoß starren. Irgendwann kam er zurück, band mich los, hielt mir ein Stück Papier unter die Nase und zwang mich zu unterschreiben. Dann ging er duschen. Ich packte den abgetrennten Kopf in meinen Rucksack ein, zog mich um und rannte aus dem Haus. Es war dunkel und stürmisch und ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Die Katholiken feierten die Mitternachtsmesse und die Kirchenglocken erfüllten die Nacht mit ihrem Gesang. Und ich ..."
Jan blickte mich direkt an. Tränen glitzerten in seinen Augen.
"... und ich spazierte mit dem Kopf einer mir unbekannten Frau im Rucksack durch die heiligen Nacht."
Jan hörte auf zu reden.
Gebannt starrte ich den Rucksack am Boden an. Ich konnte mich nicht rühren. Erstarrt saßen wir da, schwer beladen von dem Wissen. Konnte ich Mila trauen? Langsam stand ich auf, um in die Küche zu gehen.
Mila griff nach meiner Hand und flüsterte leise: "Sie helfen mir doch, Herr Doktor ... Sie glauben es mir, oder?"
Jan war verschwunden, Mila kam an seiner Stelle wieder zum Vorschein. Die Verzweifelung in ihren Augen ließ mich mein Berufsethos vergessen. Zärtlich strich ich ihr die Harre aus dem Gesicht und sprach sanft auf sie ein: "Sicher Mila, mach dir keine Gedanken, du bist hier in Sicherheit".
Leider hatte ich keine Ahnung, was ich machen sollte. Ich versuchte Zeit zum Nachdenken zu finden, indem ich in das Arbeitzimmer ging und dort den Computer und das Tonband-Gerät einschaltete. Das sind für mich ganz normale Arbeitschritte, die ich auch jetzt automatisch absolvierte, während mein Gehirn nach einer Lösung suchte.
Inzwischen war es schon weit nach Mittag. Zurück im Wohnzimmer stellte ich fest, dass Mila sich nicht vom Platz gerührt hatte. Ich ging in der Küche, stellte eine Platte mit Brot und kaltem Braten zusammen, holte zwei Gläser aus dem Schrank und brachte alles ins Wohnzimmer zurück. Dann schaltete ich die Lichter des Tannenbaums aus und die Musikanlage ein. Zusätzlich zündete ich eine Weihnachtskerze an. "Stille Nacht, heilige Nacht" ertönte sanft durch den Raum, in dem zwei Menschen und der Kopf einer Leiche Weihnachten feierten.
Die Stille wurde durch das Bersten vom Glas jäh gestört. Noch bevor ich mich richtig in Bewegung setzten konnte, trat ein Mann durch das Terrassenfenster ins Wohnzimmer ein und hielt mir eine Waffe an den Kopf.
Mila schrie auf.
"Was ist Schätzchen, du hast wohl nicht mit mir gerechnet ..."
Mila schaute ihn hypnotisiert an.
"... allerdings habe auch ich nicht damit gerechnet, dass du davonläufst. So selbstständig warst du ja sonst nicht. Du! Setz dich wieder!"
Die letzten Worten galten anscheinend mir, denn der Mann stieß mich auf das Sofa zurück. Die Waffe war noch immer auf mich gerichtet.
"Du solltest Selbstmord begehen, liebe Mila. Nachdem du meine Geliebte umgebracht hast. Natürlich aus Eifersucht und weil du so verrückt bist. Ballaballa ... kaputt ... geschlossene Anstalt. Aber keine Sorge, ich bekomme das wieder hin. Auch wenn der gute Doktor hier dran glauben muss. Weißt du liebe Mila, wie gut das tut, jemanden umzubringen? Steht alle beide auf! Aufstehen!"
Wir taten, was der Mann sagte.
Er schaute sich um und entdeckte das Arbeitszimmer. "Na, das ist ja wunderbar, der gute Doktor kann in seinem Arbeitszimmer sterben. Und du, Mila, wirst ihn umbringen. Wie nach dem Drehebuch: Patientin bringt während der Sitzung den geliebten Arzt um! Die Waffe fest in meinen Rücken gebohrt, stolperte ich in das Arbeitszimmer, wo ich mich in meinen Stuhl fallen ließ. Unverhofft ließ in meinem Rücken nach. Ich hörte ein Poltern und die Stimme Milas, die sagte ich soll ihr helfen. Als ich mich umdrehte, lag der Mann am Boden ausgestreckt.
"Ich habe ihm den Rucksack mit dem Totenkopf auf den Schädel geschlagen. Schnell, Herr Docktor, wir müssen ihn fesseln, bevor er zu sich kommt."
Milas Worte holten mich aus der Starre heraus. Schnell holte ich ein Bettlaken, das ich in Streifen schnitt und damit den Mann fesselte. Dann drehte ich mich zu Mila um und nahm sie in meine Arme.
Wir riefen die Polizei an. Die Nummer des Beamten, der in der Früh bei mir angerufen hatte, war noch in der Anrufliste des Handys gespeichert. Als die Polizei kam, stand die Eingangstür offen. Mila und ich saßen im Wohnzimmer, aßen kalten Braten und tranken Champagner. Aus den Lautsprechern ertönte noch immer die Weihnachtmusik. Allerdings waren wir schon bei "Leise rieselt der Schnee" angelangt.
Die Beamten schauten verwirrt von Mila zu mir. Immer noch schweigend stand ich auf und stellte die Musik ab. Dann lief ich in das Arbeitzimmer und stellte das Tonband auf "Abspielen" ein. Aus den Boxen kam jetzt, anstelle der weihnachtlichen Musik, die Stimme eines Mannes.
"Du solltest Selbstmord begehen, liebe Mila. Nachdem du meine Geliebte umgebracht hast. Natürlich aus Eifersucht und weil du so verrückt bist. Ballaballa ... kaputt ... geschlossene Anstalt. Aber keine Sorge, ich bekomme das wieder hin. Auch wenn der gute Doktor hier dran glauben muss. Weißt du liebe Mila, wie gut das tut, jemanden umzubringen?"