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Ich glaube es ist jetzt 22 Jahre her.
Kann wirklich schon so viel Zeit vergangen sein, und vor allem ohne dass ich mich wirklich genau erinnere, wann sich diese denkwürdigen Tage ereigneten?
Aber was spielt das eigentlich auch für eine Rolle, man wird halt älter, vergisst!
Ach ja, Entschuldigung! Ich möchte Sie nicht mit meinen eigenen Reflektionen aufhalten!
Ich wollte Ihnen ja die Geschichte erzählen, die sich Weihnachten vor, ja wer weiß wie vielen Jahren ereignete.
Mit unseren Nachbarn, Betty und … hmmm … jetzt ist mir der Name entfallen. Peinlich!
Ah ja, jetzt fällt er mir wieder ein! Tom, heißt ihr Mann, und wir waren wirklich gut befreundet. Wir haben die beiden allerdings seit dieser unglückseligen Weihnacht nicht mehr wieder getroffen, daher haben Sie bitte Nachsehen mit meinem etwas mangelhaften Gedächtnis, für Toms Namen.
Oft verbrachten wir die Feiertage zusammen, und so auch dieses Jahr. Diesmal bei Betty und Tom - sehen Sie, so schlecht ist mein Gedächtnis nun auch wieder nicht!
Wir freuten uns schon auf das bevorstehende Fest, das gute Essen und darauf, die Kinderschar, mit glänzenden Augen, die Geschenke auspacken zu sehen.
War das immer ein Gejauchzte und ein heiteres Treiben, wenn wir zusammen waren, denn unsere Nachbarn hatten fünf Kinder und mein Mann Rufus und ich drei.
Ja, Sie können sich selbst vorstellen, wie ein Fest mit acht Kindern verläuft. Der Weihnachtsbaum war immer mit Drähten in der Wand verankert, denn mehr als einmal drohte das Haus in Flammen aufzugehen, wenn die kleinen Wilden unter ihm Verstecken spielten.
Ach ja, das waren schöne Zeiten! Also nicht, dass Sie jetzt meinen, ich fände es schön, wenn Häuser in Flammen aufgehen…
Nein, nein … aber wo wir gerade von Flammen sprechen: Rufus Darling, kannst du bitte noch ein paar Scheite Holz in den Kamin legen?, mich fröstelt.
Tja, wie gesagt, man wird älter.
Nun, an diesem Weihnachtsabend hatte es zu unserer großen Freude und Verwunderung geschneit und ganz London war in eine glitzernde, weiße Daunendecke gehüllt.
In den Fenstern leuchteten Tausende von Lichtern und im Radio wurde live aus der Westminster Abbey, der große Kirchenchor übertragen, der Stille Nacht zum Besten gab.
Aah, ein richtiger Weinachtsfrieden senkte sich über uns. Dass es eine Übertragung aus der Westminster Abbey war, weiß ich noch so genau, weil mein Rufus und ich uns dort 1974 das Jawort gaben. Es war so eine schöne Hochzeit, wir hatten eine Kutsche mit … nein, also jetzt müssen Sie mir wirklich versprechen, dass Sie mich einfach unterbrechen, wenn ich noch mal zu weit ausschweife!
Mindestens zwei Mal musste ich die Geschichte vom Weihnachtsmann erzählen, der sich in genau dieser Nacht, mit seinem vollgeladenen Rentierschlitten, auf den langen Weg aus dem fernen Finnland nach England machte.
Dass Kinder so vertrauensvoll sein können, dass sie an Märchen glauben … schön! Schade, dass wir diese Gabe verlieren, wenn wir älter werden.
Aber unsere Kinder waren ja so gespannt auf die Weihnachtsgeschenke, die sie am nächsten Morgen auspacken durften, dass sie wohl zu den Kindern gehörten, die den Weihnachtsfrieden nicht so richtig in vollen Zügen genießen konnten.
Endlich schlossen sich doch auch Simons und Katharinas Augen und ich verließ lautlos das Zimmer.
Na ja so lautlos ich konnte …
Ich stolperte nämlich über Simons ferngesteuertes Auto und schlug die rechte Schulter gegen die Tür.
Dass die Kinder davon nicht aufgewacht sind … Ich sagte nämlich außerdem noch ein paar wohl erwählte Worte, die ich jetzt nicht wiederholen werde.
Darling, machst Du uns bitte noch einen frischen Tee? Ich möchte jedenfalls noch einen frischen Tee, Sie doch sicher auch …
Simon muss damals so um die elf Jahre gewesen sein.
Am darauf folgenden Morgen wachten wir mit Schrecken auf! Unser Ehebett wäre fast zusammen gebrochen und wir dachten es wäre ein Erdbeben.
Es zeigte sich doch, dass es nur ein sehr kleines Beben war, denn Simon hatte einen Hechtsprung in unser Bett gemacht und berichtete mit Feuereifer, wie nur ein Kind erzählen kann, dass er Santa Claus in höchst eigener Person gesehen hätte.
Wir versuchten wirklich nicht zu lachen, stimmt das nicht Rufus? Wir haben uns ganz ernst verhalten und uns Simons Geschichte angehört:
- Heute Nacht ist der Santa im Schornstein von Tom und Betty eingestiegen. Ich habe wirklich den Santa Claus gesehen …, flüsterte er und sein kleines Gesicht war rot vor Aufregung.
- Und dann habe ich ganz ewig lange gewartet, aber er kam und kam nicht wieder raus, und zum Schluss war den Rentieren das Warten zu blöd und die sind einfach weggeflogen!
Simon hatte schon immer eine sehr lebhafte Phantasie gehabt, daher schenkten wir dieser Santa-im -Schornstein-Geschichte keinen weiteren Gedanken. Es ist gut, wenn Kinder Phantasie haben, es macht sie zu kreativen Menschen, meinen Sie nicht?
So gegen zehn Uhr machten wir uns dann mit allen Geschenken auf ins Nachbarhaus, um gemeinsam auszupacken, was Santa Claus in der Nacht bei uns gelassen hatte.
Betty bot uns Tee an, aber die Kinder waren nicht mehr zu halten. Die Geschenke sollten jetzt ausgepackt werden, unmittelbar!
Wie Sie es wahrscheinlich auch getan hätten, so gaben wir nach. Es war schließlich das Fest der Liebe und des Friedens.
Die Kinder waren jetzt glücklich und spielten und bewarfen sich mit Bällen, die sie aus dem Geschenkpapier gemacht hatten. Ich bekam auch ab und zu einen an den Kopf. Einmal sogar so, dass meine Brille runter fiel.
Aus der Küche kamen wunderbare Düfte und ich fragte was es denn Leckeres geben würde.
Betty sagte, es sei Toms Idee gewesen, ausnahmsweise keinen Putenbraten zu machen, sondern etwas richtig Exotisches.
- Ohne dass ich es wusste, hat Tom Kängurufleisch bei irgendeinem Nobelschlachter gekauft. Das ist jetzt wohl, was man servieren muss, wenn man in sein will, sagte sie lachend, und teuer war's wohl auch, obwohl ich das nicht verstehen kann. Kängurufleisch ist doch sowieso eine Überschussware in Down Under.
Na ja, Rufus und ich ließen die australische Handelsbalance außer Betracht und tranken lieber noch einen Martini. Es war doch Weihnachten!
Ich wollte mir gerade die Hände waschen gehen, als mir ein Haufen von Paketen auffiel, die unausgepackt unter der Treppe neben der Toilettentür standen.
Ich war natürlich neugierig und fragte Betty, als ich ins Wohnzimmer zurück kam, was das für Geschenke seien.
- Oh, sagte Betty, und gab ihrem Mann einen liebevollen Blick. Mein lieber Tom hat dieses Jahr auch an die weniger Bemittelten gedacht und Geschenke für sie gekauft. Hat er nicht ein gutes Herz mein Tom?
Sie streichelte ihm zärtlich die Wange. Ich weiß noch, dass ich neidisch hinschaute, denn Rufus hatte mich schon seit Jahren nicht mehr so über die Wange gestreichelt.
Ja, auch nicht anderswo, wenn nun schon die Stunde der Wahrheit gekommen ist, aber das geht Sie ja eigentlich nichts an.
Trotzdem war ich gerührt. Solch eine phantastische Geste von Tom. Wer hätte das geahnt!
Nun, ich hatte nie den Eindruck, dass er geizig war, durchaus nicht, aber diese Großzügigkeit erstaunte mich. Wie man doch einen Menschen falsch beurteilen kann!
Am nächsten Morgen saßen Rufus und ich beim Frühstück und lasen wie immer die Times.
Ich muss sagen, dass ich fand, es war eine sehr unpassende Schlagzeile, die uns von der Titelseite anstarrte.
Ich frage mich, wer will denn zu Weihnachten Schlagzeilen lesen wie diese?
Obdachloser an Knochen erstickt.
Die Zeitungen und auch die Nachrichten waren voll davon.
Menschenknochen!
Zwei Tage später berichteten die Zeitungen, dass Essenspakete, die von einem unbekannten Wohltäter, an Obdachlose ausgeteilt wurden, offenbar Menschenfleisch enthalten hatten.
Ist das nicht furchtbar? Mir blieb das Frühstück im Hals stecken, das können Sie mir glauben!
Die Nachforschungen waren nun schon seit mehreren Wochen im Gang, aber das Einzige, was die Polizei herausfand, war dass jemand als Weihnachtsmann verkleidet, in der fraglichen Gegend gesehen wurde und Geschenke verteilte.
Indizien dieser Art sind natürlich lächerlich, da geben Sie mir wohl recht. Was machen denn sonst Weihnachtsmänner, wenn nicht Geschenke austeilen, zu Weihnachten?
Die Zeit verging und damit auch das Interesse am Tod eines Obdachlosen. Heutzutage ist es nicht leicht. mit Schlagzeilen über Kriege und Steuererhöhungen und Prominentenhochzeiten zu konkurrieren.
Ich glaube, es kann so ungefähr in der ersten Aprilwoche gewesen sein, als Simon von der Schule nach Hause kam und berichtete, dass er und seine Klassenkameraden von der Polizei verhört worden waren.
Sie sagten, dass man ein weißes, langes Haar im Fleischpaket des Obdachlosen gefunden hatte. Jetzt gab es also zumindest einen Verdacht, wer das Opfer war.
Als Simon daraufhin berichtete, dass er Santa in der fraglichen Nacht im Schornstein des Nachbarn gesehen hatte, lachte man sehr über ihn. Ja die ganze Schule lachte über ihn.
Mein armer Sohn, er tat mir so leid! Die anderen lachten jetzt das Lachen, das Rufus und ich uns so verkniffen hatten.
Als er im Detail berichtete, wie der Weihnachtsmann mit seinem weißen, langen Bart im Kamin des Nachbarn verschwand, aber nicht wieder herauskam, machten die Polizeibeamten zumindest Ansätze ihm zu glauben.
Nun, ich kann der Polizei keine Vorwürfe machen. Ich hatte meinem Sohn ja selbst nicht geglaubt, als er in jener Nacht in unserem Bett rumhüpfte und verkündete, er hätte Santa gesehen.
Zwei Polizeiwagen und eine Ambulanz hielten eines sonnigen Morgens bei unseren Freunden vor der Tür.
Ich spähte erschrocken durch die Küchengardinen.
Tom schrie verzweifelt, als man versuchte, ihn in den Ambulanzwagen zu bekommen.
Ach, es war so scheußlich, Tom in diesem Zustand zu sehen.
Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss mir ein Taschentuch hervorsuchen.
Arme Betty!
Ich höre noch heute Toms Schreie, als sie ihm die Zwangsjacke anzogen:
- Ja aber ich konnte ihn einfach nicht mehr ausstehen! Jedes Jahr ist er in meinem Schornstein rumgekrochen und hat seine riesigen Stiefelabdrücke voller Ruß auf dem Teppichfußboden hinterlassen. Ruß! Auf dem neuen Teppichfußboden!!! Und darauf soll man sich dann auch noch freuen?! Und das Schlimmste von allem: Er sprach Finnisch! Wer zum Teufel versteht denn schon Finnisch?, schluchzte er. Verdammte finnische Weihnachtsmänner. Wer kann schon so eine Sprache verstehen?
Dann hörte ich Toms Stimme nur noch schwach, hinter den geschlossenen Türen der Ambulanz. Aber ich sah die Verzweiflung in seinem Gesicht, das er an die Rückscheibe drückte und ich konnte sie auch auf seinen Lippen lesen.
- ES GIBT NIEMANDEN, DER FINNISCH VERSTEHT, UND DESHALB IST JETZT SCHLUSS DAMIT!!!