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Der einsamste Tag© Julia Kersebaum"Weihnachten ist der einsamste Tag im Jahr", Dr. Megan Binding steht in der Mitte der Leichenkammer und tippt nervös mit dem Fuß auf. "Verdammte ...", ihr Fluch geht in dem Geräusch der ausfahrenden Bahren unter. Sie hat vor einigen Jahren beschlossen, dass Weihnachten ein schlechter Tag ist und hält bis jetzt an dieser Entscheidung fest. "Fünf für mich - fünf! Am ersten Weihnachtsfeiertag … wieso bekomme eigentlich ich immer die Selbstmörder?", fragt sie in den leeren Raum. Sie flucht heute mehr als an allen anderen Tagen im Jahr. Sie ist Mitte Vierzig, hat sich laut Aussagen ihrer Kollegen gut gehalten und ihr nervöser Blick zur Uhr verrät, dass zu Hause auf sie ein Festtagsessen wartet. Sie rechnet kurz aus, wie lange sie wohl brauchen wird und ihr fällt ein, dass dies einer der Tage ist, an denen sie sich selbst den Luxus gestattet, mit dem Taxi nach Hause, nach Long Island, zu fahren. Sie verabscheut nichts mehr, als an Feiertagen Bahn zu fahren und ununterbrochen von fröhlichen Menschen angesprochen zu werden, die ihr nach so einem Tag ein "Frohes Fest" wünschen. Mit einer ruppigen Bewegung bindet sie ihre schulterlangen blonden Haare zusammen und steckt sie hoch. Nach und nach öffnet sie alle fünf Kammern, lässt die Bahren schwungvoll herausfahren und wirft einen letzten Blick in die Unterlagen, bis sie endlich zur Ruhe kommt und sich die Toten ansieht. Fünf Frauen, alle am Heiligen Abend, dem Fest der Liebe, gestorben, alle in den Freitod gegangen und ein Maß von "noch gut erhalten" bis "kaum mehr identifizierbar" abdeckend. "Fest der Liebe, dass ich nicht lache!", sie schüttelt den Kopf und sucht ihr Operationsbesteck zusammen. "Vielleicht für diejenigen, die jemanden haben, der sie liebt - und den sie lieben - aber das werden immer weniger", sie seufzt, geht zur ersten Bahre und untersucht die erste Tote. "So jung und so verzweifelt", murmelt sie und streicht dem Mädchen einige Haare aus der blutverklebten Stirn. Sie öffnet die Akte, notiert einige offensichtliche Verletzungen und sieht die Augenzeugenberichte durch. "Wenn ihr fünf euch getroffen hättet …", sagt sie und versucht ihre verkümmerte Phantasie anzuregen. Was wäre geschehen, wenn diese fünf Frauen sich getroffen hätten? Was wäre geschehen, wenn sie geredet und gespürt hätten, dass ihnen jemand zuhört? Was wäre aus der jungen Mary Simmons geworden, die von einem Haus in der Nähe des Guggenheim Museums sprang? Was wäre aus Eve Adler geworden, von deren Perlenohrring gerade der letzte flüssige Tropfen Blut tropft? Was wäre aus Helen Watson, der schönen Drogentoten, geworden? Oder aus Melanie Kingston, deren Körper kaum mehr als zusammenhängende Masse identifiziert werden kann? Oder was wäre aus Susan Miles geworden, der kleinen zierlichen Frau, die auf den ersten Blick wirkt wie ein Kind? Vielleicht hätten sie in einer kleinen Bar gesessen. Die aufgeplatzten Lederbezüge der Sitzecke scheinen zu glühen und verbreiten eine wohlige Wärme, Mary streicht sich zum wiederholten Mal eine Strähne hinters Ohr und lächelt scheu als sie die Blicke der anderen spürt, Melanie trinkt ihr sechstes Glas Whiskey in Folge, Eve spielt verträumt mit ihrer Perlenkette, Susan sitzt zurückgezogen und versteckt in der hintersten Ecke und Helen denkt darüber nach, wie sie in Marys Alter war. Vielleicht beginnt Melanie mit ihrer immer etwas zu lauten Stimme zu erzählen, vielleicht aber auch Eve, die in aller Höflichkeit zuerst die anderen auffordert und dann selbst beginnt zu erzählen. Denn sie haben etwas zu erzählen! Jede von ihnen trägt eine Geschichte in sich, eine Geschichte, die so bedrückend ist, dass allein der Gedanke an sie das Herz schneller schlagen lässt und die Hände zum Zittern bringt. Eine Geschichte der jemand zuhören muss! Eine Geschichte, deren unerträgliche Last dieses Jahr, an diesem kalten Wintertag, zu schwer wiegt - zu schwer, um weiterleben zu können.
Ich möchte diese Geschichten erzählen! Nicht weil ihre Protagonistinnen tot sind oder weil Dr. Megan Binding zum ersten Mal in ihrer langen Zeit als Gerichtsmedizinerin Schuld empfindet, sondern weil Weihnachten ist und ich finde, dass diese fünf Menschen es verdienen, dass ihnen zumindest ein Mal jemand zuhört. Wenn Sie, lieber Leser, anderer Auffassung sind, dann sollten Sie diese Blätter beiseite legen, aufstehen und sich wieder voll und ganz dem Fest widmen - falls nicht, lassen sie uns zurückgehen zu dem Tag, an dem alles geschah: zum 24. Dezember - Heiligabend.
Helen Watson sitzt auf ihrem Sofa, den Kopf schief gelegt, ihr Blick haftet seit einiger Zeit auf der Uhr ihres Videorekorders ohne die Uhrzeit abzulesen und ihre etwas zu großen Hände fahren immer wieder über ihre Lippen. Sie sitzt da und denkt nach. In dem Haus gegenüber leuchtet der geschmückte Weihnachtsbaum auf und ihr Blick fährt herum. Für einen Moment versucht sie, jemanden bei dem Baum auszumachen, dann steht sie auf und geht in die Küche. Sie sieht flüchtig in den Spiegel im Flur. Sie fährt sich durch die Haare und zerstört damit die so mühevoll hergerichtete Frisur. Sie wird heute Abend nicht ausgehen. Ihr gefällt das Kleid, das sie eigentlich für die Party gekauft hat und sie beschließt aus einer Laune heraus es anzubehalten. Vielleicht weil es ihrem Mann immer gefallen hat, wenn sie Kleider trug, vielleicht, weil es sie an ihr Hochzeitskleid erinnert oder weil das Rascheln des Stoffs sie an den Übermut ihres Kindes denken lässt. Lange Zeit hat sie geglaubt alles könnte sich wieder ändern. Lange Zeit hat sie geglaubt, das Leben würde weiter gehen. Aber heute Abend hat ihr durchaus logisch funktionierender Verstand eine Gleichung aufgestellt: "Ihr Mann und ihr Sohn waren ihr Leben - beide sind tot, also ist ihr Leben beendet." Das plötzliche Klingeln des Telefons reißt sie aus ihrer Lethargie und eine Welle der Angst, der Wut und der Verzweiflung lässt sie zu Boden gehen. Sie hockt auf den kalten Fliesen ihrer Küche, das Gesicht in den Händen verborgen, so als schäme sie sich der Tränen, und klagt der riesigen, leeren Wohnung ihr Leid.
Melanie Kingston rutscht auf dem Sitz ihres Cadillacs hin und her, spielt an den Knöpfen des Radios und kaut übertrieben enthusiastisch Kaugummi. "Hey", sie spring förmlich auf als sie ihre Freundin Emma aus der Bank kommen sieht und will ihr die Beifahrertüre öffnen. "Mel…," Emma zögert. "Was?", Melanie sieht verblüfft auf und hält in der Bewegung inne. "Ich kann nicht mit dir feiern … ich werde zu meinen Eltern nach Hause fahren." "Wieso?", Melanie deutet auf den kleinen Tannenbaum auf der Rückbank des Autos und sieht fassungslos zu, wie Emma weitergeht. "Wieso?", ruft sie nun lauter. "Weil ich finde, man sollte Weihnachten bei seiner Familie verbringen." "Dann komm ich mit", schlägt sie vor und startet lächelnd den Motor. "Du gehörst nicht zu meiner Familie!" Für einen Moment bleibt Melanies kleine Welt, in der zur Zeit nicht viel mehr als ihr Auto und ihre Freundin Platz haben, stehen und mit halb geöffnetem Mund sitzt sie wie eingefroren da. Als sie wieder die Fassung erlangt, ist Emma fort und auch mehrmaliges Rufen nützt nichts. Melanie legt den Gang ein, fährt los und beschließt nach Hause zu fahren. Es ist nicht weit und der dichte Verkehr lässt ihr keine Zeit nachzudenken. Erst als sie beim Aufschließen der Türe sieht, wie ihre Finger zittern und den immer größer werdenden Kloß in ihrem Hals zu spüren beginnt, ahnt sie was passiert ist. Sie hat nie eine Familie gehabt, nie ein Zuhause und als sie in der großen, weißen Wohnung steht, versteht sie, dass auch dies hier nicht ihr Zuhause ist. Mit schnellen Schritten geht sie ins Schlafzimmer, zieht aus Emmas schönem Lederkoffer ihren alten, verschlissenen Seesack und stopft ihre wenigen Sachen hinein. Es ist nicht viel was mitnimmt aber sie lässt viel zurück, als sie die Stufen hinunter stürmt und sich ihr abermals verletzter Stolz einzureden beginnt, dass jetzt alles besser werden wird. Sie wischt die vereinzelten Tränen grob mit dem Ärmel weg, lässt ihre Habe unachtsam auf den Baum fallen und schwingt sich wieder in das Auto zurück. "Was soll's?", sagt sie laut zu sich selbst, zuckt mit den Schultern und zündet sich eine Zigarette an. Ihr Blick fällt durch das flackernde Licht der Flamme auf die Kneipe auf der anderen Straßenseite und sie beschließt, einen letzten Drink zu nehmen, bevor sie Emma und all das hinter sich lässt und wieder von vorne beginnt.
Eve Adler verlässt die Party, läuft schnell die Stufen der großen Eingangshalle hinauf und schließt sich oben in ihrem Zimmer ein. Genau darunter befindet sich der Salon mit den Gästen, die ihr Mann Edward angesichts seiner alljährlichen, unerträglichen Weihnachtsfeier für die Reichen und noch Reicheren der Stadt, eingeladen hat und ein leises Stimmengewirr erfüllt den Raum. Für heute reicht es Eve an inhaltsloser Konversation und erschöpft lässt sie sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und zieht sich die Perlenohrringe von den Ohren. Sie stöhnt leise auf und stützt für einen Moment das Gesicht in die Hände. Dann öffnet sie vorsichtig die Klappe des hölzernen Sekretärs und fischt das blaue Blatt hervor, dass sie in den letzten Tagen schon so oft angesehen hat und über das sie verzweifelt ist. Sie fährt mit dem Finger über die Worte und erinnert sich an ihr Telefonat mit der Krankenschwester, die ihr versichert hatte, dass alle Ergebnisse mit einer Wahrscheinlichkeit von neunundneunzig Prozent korrekt und auch tatsächlich die ihren seien. "Aber das war doch nur eine Routineuntersuchung", hört sie ihre eigene Stimme, dann das Seufzen der Schwester und den eigenen, rasenden Atem. Heute rast ihr Atem nicht mehr. Sie ist ganz ruhig. Sie hat in den letzten Tagen oft überlegt ob sie Edward vor all seinen Gästen bloß stellen sollte, ist aber zu dem Entschluss gekommen, es persönlicher zu gestalten. Sie möchte ihn treffen, möchte ihn wissen lassen, dass sie in den achtzehn Jahren ihrer manchmal erschreckend beschwerlichen Ehe nicht ein Mal fremdgegangen ist und dass es nur an ihm liegen kann. Sie möchte ihn wissen lassen, dass es seine Schuld ist - sie möchte, dass er weiß, dass er sie getötet hat.
Susan Miles dreht langsam den quietschenden Wasserhahn der Badewanne auf und hofft inständig, dass ihnen nicht wieder das warme Wasser abgestellt wurde. Dieses Jahr hat sie Glück und es dampft, als der Strahl auf die rostige Wanne trifft. Sie dreht sich zum Spiegel und erschreckt beinahe vor ihrem Spiegelbild. Er hat sie schon oft verprügelt, aber dieses Mal sieht es noch schlimmer aus als sonst. Zur Sicherheit geht sie nochmals zur Türe und dreht den Schlüssel im Schloss. Sie wohnen nun fast drei Jahre in dem kleinen, schäbigen Bungalow und nichts hat sich geändert. Sie hat mehrfach die Polizei rufen müssen, aber danach ist es immer nur noch schlimmer geworden und sie hat sich geschworen, niemals wieder um Hilfe zu bitten. Die mitleidigen Gesichter, die heulenden Sirenen und der unbändige Lärm, wenn sie versuchten ihn festzunehmen, all das ist schlimmer für sie als es seine Prügel je war. Abermals sieht sie in den Spiegel, fährt mit ihren dünnen Fingern über die aufgeplatzte Augenbraue, die eingefallene Wange entlang zu ihrer gebrochenen Nase und der blutenden Oberlippe. Der Geschmack des Blutes bereitet ihr Übelkeit und sie sucht in ihrer Hosentasche nach einem Kaugummi. Dann öffnet sie die Hose, lässt sie herunterfallen, beginnt vorsichtig die Bluse aufzuknöpfen, die von dem getrocknetem Blut ganz hart und steif ist und wirft beides in den Pappkarton, den sie als Wäschekorb benutzen. Sie setzt sich auf den Badewannenrand und lässt die Füße im Wasser baumeln. Das Wasser ist heiß, fast zu heiß und es dauert, bis sie sich traut, sich ganz hinein zu setzen. Einige Augenblicke sitzt sie da, dann lehnt sie sich zurück und schließt die Augen. In ihrem Hals hat sich ein Klumpen geronnenes Blut gesammelt und sie würgt ihn hinauf und spuckt ihn in die Toilette. Sie kommt nicht an den Knopf der Spülung und sieht einen Moment zu wie ihr Blut sich im Toilettenwasser verliert, dann schließt sie wieder die Augen.
Mary Simmons ist in einer merkwürdigen Stimmung. Sie sitzt auf dem Dach des Gebäudes, ihr Blick wandert über die Stadt, sie friert ein wenig und zieht die Beine an. Alles in ihrem Leben hat seinen Platz gefunden. Sie hat eine durchaus anständige Wohnung mit Strom und fließendem Wasser, einen liebevollen Freund der ihr angedroht hat, ihr bald einen Heiratsantrag zu machen und einen Beruf, dem sie meistens gerne nachgeht. Alles in allem wird sie von ihren Freunden als intelligent, zielstrebig, witzig und begabt beschrieben - und das ist sie auch! Mary Simmons ist ein fröhlicher Mensch, Mary Simmons ist gesund - auch wenn später all diejenigen, die es nicht verstehen können, die Vorgänge auf Depressionen schieben werden - Mary Simmons ist nicht sehr viel anders als all die anderen Mädchen in ihrem Alter. Doch heute, an diesen ungewöhnlich kalten 24. Dezember ist sie in einer eigenartigen Stimmung. Um ihre Nase spielt eine kleine Windböe und sie reibt ihre Ohren, um sie vor der Kälte zu schützen. Neben ihr auf dem Klimaanlagengitter liegt eine alte Ausgabe von Tschechows "Drei Schwestern", die sie in der U-Bahn gefunden hat und die ihren Freund zu der Aussage gebracht hat, sie sei die letzte Bildungsbürgerin. Sie hat eine Seite eingeknickt, schlägt sie nun wieder auf und ließt zum wiederholten Mal den Satz, der alles verändern wird - der bereits beim ersten Mal, als sie ihn las alles verändert hat: "Mein Leben ist ein Fehlschlag." Mary Simmons lächelt.
Dr. Megan Binding hat sich einen Kaffee geholt und leert den Becher in einem Zug. "Ein Grog wäre besser, was?", fragt ein Polizist, der ihr auf dem Gang entgegenkommt und zwinkert ihr aufmunternd zu. "Wenigstens haben sie nicht die Leute von dem Busunglück gekriegt, sehen ziemlich übel aus", sie bleibt kurz stehen. "Ob sie es glauben oder nicht, ich würde gerne tauschen." Dann geht sie weiter, stößt die Türe auf und steht wieder vor den Bahren. "Ich wünschte, ihr könntet es mir erklären", sagt sie und bleibt vor Eve stehen. "Wie verzweifelt muss man sein …?"
Helen Watson hat sechs Schmerztabletten genommen und die Welt vor ihren Augen verschwimmt langsam. Sie lässt sich zurück auf ihr Sofa fallen, legt den Löffel, den sie aus der Küche geholt hat, in ihren Schoß und sieht wieder auf die Uhr des Videorekorders. Dann löscht sie die Nachricht auf dem Anrufbeantworter, greift ohne darüber nachzudenken zu der auf dickem, teuerem Papier gedruckten Einladung mit dem Siegel der Firma, für die sie seit nunmehr fünfzehn Jahren arbeitet und klappt sie auf. Während sie sich mit einem Schnürsenkel den Arm abbindet, überfliegt sie ein letztes Mal den Text. Da steht tatsächlich "Ein frohes Weihnachtsfest Euch Dreien!" "Laden wir Euch zu unserer beschaulichen Feier" "Kinderprogramm". Sie muss sich sehr konzentrieren und die Worte beginnen vor ihren Augen zu tanzen. Edward hat diese Karte unterschrieben - ein Mann, den sie seit guten vierzehn Jahren kennt und durchaus nicht nur für einen Kollegen, sondern auch für einen Freund gehalten hat. Ein Teil von ihr versucht diese Karte als einen Fehler abzutun, sieht den unüberschaubaren Stapel Akten auf seinem Schreibtisch, sieht seine Sorgenfalten, ein anderer Teil ist es das Abtun leid. Sie weiß, er wird sich quälen wenn er seinen Fehler bemerkt und sie findet sich selbst abstoßend und selbstgerecht aber sie hat beschlossen sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken - nur dieses eine Mal. Wieder ergreift sie das unbändige Gefühl der Einsamkeit und erst der kalte Stich der Nadel holt sie in die Wirklichkeit zurück. Blut füllt die Spritze und vorsichtig drückt sie den ganzen Inhalt in die Ader. Sie lehnt sich zurück, löst den Schnürsenkel und versucht ihre Gedanken von der Karte abzulenken, denkt an den Dealer, dem sie hatte versichern müssen, dass der Stoff für mehrere Personen gedacht sei, versucht ihre Gedanken fort von all der Trauer und dem Gefühl, die letzten Jahre ohne Grund gelebt zu haben, hin zu Bildern aus der Vergangenheit, glücklichen Tagen und ruhigen Nächten zu lenken. Langsam wird Helen ganz ruhig. Wieder fährt ihre Hand zu ihren Lippen und es dauert noch eine Weile, bis ihr Atem stehen bleibt. Ein letztes Mal pumpt ihr Herz Blut durch die Adern, die Spritze ist in ihren Schoß gefallen, von der Einstichwunde perlt ein Tropfen Blut und färbt das weiße Sofa rot, ihre Augen haften wieder auf der Digitalanzeige des Videorekorders, in der Wohnung gegenüber darf das Kind ein erstes Geschenk auspacken und zum ersten Mal, seit dem Helen Watson alleine ist, lächelt sie.
Melanie Kingston trinkt einen weiteren tiefen Schluck aus der Flasche Whiskey, die sie in der Bar für übertriebene 20 Dollar gekauft hat und lässt sich hinter das Lenkrad des Wagens fallen. Sie denkt an Emma, die wahrscheinlich irgendwo in New Hampshire in einem vornehmen Kaff bei ihren Eltern am Tisch sitzt und Lügen über ihr Leben erzählt. Mit einem Grinsen dreht sie den Schlüssel und lässt den Motor aufheulen. In ihrem Kopf kämpft das letzte bisschen Selbstvertrauen, das ihr das Leben gelassen hat, gegen den Trennungsschmerz, und als sie mit dem Auto um die Ecke in Richtung Highway biegt weiß sie, was sie tun wird. Sie hat sich die Flasche zwischen die Beine geklemmt, der Deckel ist auf den Boden gefallen und ohne darauf zu achten, ob sie etwas verschüttet, trinkt sie weiter. Als die ersten Highway Schilder auftauchen, ist die Flasche leer und Melanie wirft sie aus dem Fenster. Vor ihr spaltet sich die Straße, die linke Spur führt hinauf auf den Highway, die rechte nach Brooklyn, in der Mitte steht ein Baum, der vollkommen fehl am Platz, da steht wie eine rettende Boje im Meer. Für einen Moment nimmt Melanie den Fuß vom Gaspedal, denkt nach was geschehen ist und rechnet kurz ihre weiteren Chancen durch. Eine unbändige Lebensangst beschleicht sie, dieselbe Angst, die sie mit vierzehn von zu Hause hat fortlaufen lassen, dieselbe Angst, die sie bei all den dreckigen kleinen Jobs gefühlt hat, mit denen sie sich immer über Wasser gehalten hat, dieselbe Angst, die ihre Welt hat stehen lassen, als Emma einen Schlussstrich gezogen hat. Diese Angst ist wie ein wütender Hund, der sich in ihrem Nacken verbissen hat und sie gegen ihren Willen zwingt Dinge zu tun, Kompromisse einzugehen, die ihr mehr schaden als nützen. Doch dieses Mal wird es anders sein, sie setzt sich gerade hin, schüttelt den wütenden Hund ab und tritt das Pedal vollkommen durch. Mit einem unbändigen Knirschen durchdringt der Wagen die Leitplanke und einige Autos hinter ihr fangen an zu hupen. Der Aufprall schleudert Melanie nach vorn. Das Lenkrad schlägt ihr die Zähne aus und ein Splitter der Frontscheibe bohrt sich durch ihre Schläfe. Als das Auto zum Stehen kommt, ist sie bereits tot. Es wirkt beinahe so als wäre sie ein Teil des Wagens, die Motorhaube ist aufgesprungen, der pinkfarbene Lack splittert ab und Melanie passt zum ersten Mal in die Welt, die sie umgibt.
Eve Adler schließt vorsichtig die Türe hinter sich und schaltet das Licht in seinem Arbeitszimmer ein. Alles ist aufgeräumt und sauber, so wie er es mag. In Gedanken zieht sie die Ohrringe wieder an, geht zu dem kleinen aus der Gründerzeit stammenden Schrank und öffnet die filigran gearbeiteten Türen. Aus seiner Waffensammlung sucht sie sich die Pistole aus, die sie ihm zum fünften Hochzeitstag gekauft hat, öffnet die Munitionskammer und lächelt, als sie die ordentlich geputzten Patronen sieht. Sie entsichert die Waffe und das Geräusch des kalten Metalls lässt ihr einen Schauer den Rücken hinunter laufen. Sein großer Ledersessel knirscht als sie sich setzt und sie lehnt sich für einen Moment zurück. Dann zieht sie aus ihrem Kleid das Schreiben und nimmt seinen Füller zur Hand. Mit gewohnt sauberer Architektenschrift schreibt sie vier Worte unter den Befund: "Es ist deine Schuld." Ohne zu zögern nimmt sie den Revolver, steckt den Lauf in ihren Mund und schließt die Augen. Erinnerungen tauchen auf und immer wieder die Frage: Wie konnte er es tun? Wieso konnte er und sie nicht? Aber sie ist müde weiter zu fragen und sie drückt ab, lässt die quälende Gewissheit, eine Närrin gewesen zu sein, hinter sich und als der Rückschub sie zurück in den Sessel wirft, gleitet die Waffe aus ihrer Hand. Die Party ist so laut, dass man ihre Leiche erst in einigen Stunden finden wird. Bis dahin wird das Blut an den Wänden, an seinen Trophäen und auf seinen Unterlagen getrocknet sein und ihre Hand, die immer noch auf dem Schriftstück liegt, wird leblos und kalt nichts mehr von der Person verraten, die Eve Adler wirklich war.
Susan Miles wäscht sich ganz vorsichtig das Blut aus dem Gesicht. Ihre Nase schmerzt so sehr, dass sie beinahe das Bewusstsein verliert und sie keucht auf. Plötzlich poltert es an der Türe. Er schreit, ruft etwas und sie meint den Geruch von Alkohol wahrzunehmen. Angst erfüllt sie plötzlich und sie wünscht sich nichts mehr als Beistand. Aber Beistand hat es nie in ihrem Leben gegeben - nie! Ihre Hand klammert sich an den Badewannenrand, so dass ihre Knöchel weiß hervortreten und ihr Atem überschlägt sich beinahe. Susan Miles möchte sich verlieren. Sie möchte Teil der Badewanne werden, unerreichbar und unverletzlich. Er hat von der Türe abgelassen, läuft durch das kleine Zimmer und lässt sich auf das quietschende Sofa fallen. Verlieren… Susan denkt an das Blut in der Toilette und dann fällt ihr Blick auf seinen Rasierer. Sie streckt sich um heranzukommen. Löst mit ihren kleinen Fingern die Klinge aus der Plastikhalterung und lehnt sich wieder zurück. Sie hat keine genaue Vorstellung davon, was sie tun wird und sie fährt einige Male mit der Klinge durch die Luft bevor sie sie am Arm ansetzt. Ihre Mutter hat sich so das Leben genommen und da Susan Zeugin dieses Vorgangs war, weiß sie wie sie es am besten anstellt. Es freut sie als sie sieht wie das Wasser sich rot färbt. Eine naive, kindliche Freude ohne einen Gedanken an Konsequenzen. Vielleicht denkt Susan Miles nicht an Konsequenzen, weil ihr nie jemand beigebracht hat, wie man an Konsequenzen denkt, vielleicht weiß sie nicht einmal was eine Konsequenz ist. Im Nebenzimmer sieht er fern, lacht laut und hat Susan vollkommen vergessen. Sie lehnt sich wieder zurück, schließt abermals die Augen und die warme Müdigkeit, die sie erfasst, beruhigt sie so sehr, dass sie einschläft. Susan Miles verschläft die Konsequenz ihres Handelns, sie verschläft ihren Tod und es ist der angenehmste Schlaf, den sie seit langer Zeit erlebt hat, denn die Angst ist fort.
Mary Simmons ist aufgestanden. Sie zieht ihre Jacke aus, geht ein paar Schritte herum und sieht hinüber auf das Guggenheim Museum. Sie nimmt ein weiteres Mal das Buch zur Hand, überfliegt abermals sie eingeknickte Seite und atmet die kalte Luft des Heiligenabends ein. Ihr Leben ist kein Fehlschlag, dass weiß sie nun und sie erinnert sich an den Moment in ihrer unschönen Jugend, als sie sich geschworen hat, es zu beenden wenn sie zum ersten Mal vollkommen glücklich ist. Dieser Moment ist jetzt. Sie steckt das Buch in ihre Hose, dreht sich in Richtung des Parks und läuft los. Ihr Blick hastet über das gekieste Dach, dann zu den Lichtern der Stadt, sie stellt sich ihren Freund beim Essen mit seiner Familie vor und als sie sich vom Rand des Daches abstößt und den Halt verliert, lacht sie auf. Vielleicht ist sie verrückt, vielleicht ist sie anders, aber sie möchte den Moment für immer konservieren, möchte nach diesem Gefühl nie wieder ein anderes verspüren und sie weiß, wenn er ihren Brief findet, wird er sie verstehen. Das Buch lockert sich und steigt neben ihr in die Luft, dann verschwindet es aus ihrem Blick. Unter ihr der Boden kommt immer näher, aber sie hat keine Angst. Sie läuft vor nichts davon, sie hat keine Schuld, keine Verpflichtung, sie tut es weil man aufhören soll, wenn es am besten ist. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle
Weihnachtsgeschichten von Patricia Koelle
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