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Die Christbaumkugel© Lisa PapicZuerst fuhr ich hinter dem Leitungsrohr, das mir als Versteck diente, zusammen, als sich die stählerne Tür quietschend öffnete, die unseren Unterschlupf von der Außenwelt trennte. Mein Herz schlug rasch, mein Atem ging schnell, doch ich hielt ihn an, um mich nicht selbst zu verraten. Meine Beine hatte ich eng an den Körper gezogen und die Arme darum geschlungen. Gespannt wartete ich ab. Doch als die Stimmen der Ankömmlinge zu mir herüber drangen, breitete sich Erleichterung in mir aus. Als ich hinter dem Rohr hervorlugte ließen die postierten Männer und Frauen die Schusswaffen, die sie in Händen hielten, sinken und halfen den Zurückgekehrten, die der Reihe nach unser Quartiert betraten, die gefüllten Säcke, die sie bei sich trugen, herein zu bringen. Dann war der Raubzug wohl erfolgreich gewesen, dachte ich bei mir, und schob mich langsam hinter dem Leitungsrohr hervor. Ich ließ die Ankommenden dabei nicht aus den Augen, betrachtete jedes Gesicht. Erst als ich das meines Vaters erblickte, zog sich ein Lächeln über meine Lippen und ich beeilte mich, ihn in Empfang zu nehmen. Er sah müde aus, erschöpft, und dennoch strahlte er mich an, als er mich näher kommen sah. Er ging in die Hocke, und schloss mich erfreut in die Arme. "Ich bin so froh, dass du wieder da bist", sagte ich, erleichtert, dass ihm nichts passiert war. "Und ich erst", erwiderte er. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es da oben zugeht, Skip!", fuhr er an einen Mann gewandt fort, der soeben zu uns getreten war. "Ja, die anderen haben bereits etwas erzählt. Sieht aus als hätten sie jetzt sämtliche Gebiete unter ihrer Kontrolle. Es geht sogar das Gerücht um, sie sollen bereits bis Washington und New York City vorgedrungen sein." "Ich hoffe, dass es nur Gerüchte sind", meinte mein Vater, wobei das Lachen auf seinem Gesicht verschwand. "Hm. Nun ja, immerhin scheinen sie bisher noch keine Ahnung davon zu haben, dass wir unsere Quartiere und Bunker unterhalb der Trümmer angelegt haben", antwortete Skip und versuchte dabei, der Unterhaltung etwas Aufmunterndes beizufügen. "Dabei sollte es eigentlich auch bleiben, solange wir bei unseren Ausflügen an die Oberfläche vorsichtig sind und uns niemand folgt oder verrät, was diesmal mit Sicherheit nicht der Fall sein wird. Boody und Creck sind erschossen worden, als es zum Schusswechsel kam. Die reden mit keinem mehr. Und dennoch bleibt es nur eine Frage der Zeit, bis einem dieser Bastarde die Idee kommt, nach uns zu graben", fuhr mein Vater daraufhin fort. Eine Weile verfolgte ich die Unterhaltung. Wahrscheinlich dachten beide, ich würde noch nicht verstehen, wovon sie da sprachen. Doch mit meinen sechs Jahren war mir bereits klar, was in den letzten Monaten passiert war. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie mein Vater eines Abends nach Hause gekommen war und mir, meiner Mutter und meinem Bruder erklärt hatte, wir müssten so schnell wie möglich fliehen. Er hatte etwas erzählt von einem dritten Weltkrieg, der Amerika erklärt worden war, doch von wem, hatte ich bereits wieder vergessen. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Wir waren lange Zeit auf der Flucht gewesen. Meine Mutter erkrankte später schwer, nachdem sie sich bei einem Unfall verletzt hatte. Wir mussten sie zurück lassen. Mein Bruder war beim Einsturz eines Hauses ums Leben gekommen, in dem er Schutz vor einem Luftangriff gesucht hatte, während Vater und ich unversehrt geblieben waren. Irgendwann hatten wir uns diesem Trupp von Rebellen angeschlossen und lebten seitdem in Bunkern, die tief unter den Trümmern des zerstörten Amerika lagen. Niemand außer denen, die zu uns gehörten, wusste von ihrer Existenz und ich betete tagtäglich, dass es so bleiben möge. Doch ich wollte jetzt nicht länger daran denken. Mein Vater, der letzte Mensch, der mir noch geblieben war, war soeben zurück gekehrt, gesund und am Leben. "Daddy?", fragte ich schließlich vorsichtig nach. Die beiden Männer wandten mir ihre Gesichter zu. Vater zwang sich rasch zu einem Lächeln. "Was ist denn Schätzchen?" "Sag mal, müsste eigentlich nicht morgen der Heilige Abend sein?", versuchte ich das Thema von Tod und Zerstörung abzuwenden, und zog aus einem kleinen Säckchen, das um meine Hüfte gewickelt war, einen Stapel zusammengefalteter Kalenderblätter hervor. Ich hatte sie vor unserer Flucht vom Kalender in der Küche gerissen, um niemals zu vergessen, wann der Alptraum, in dem ich nun lebte, begonnen hatte. "Oh ja, das kann gut sein! Ich habe über all die Tage und Wochen beinahe vergessen, dass wir bereits Dezember haben!" "Tja, dann lass uns doch mal schauen, was du so Schönes für deine Tochter zu Weihnachten erräubern konntest, was Mitch?", lachte Skip und klopfte meinem Vater aufmunternd auf die Schulter, ehe er sich abwandte. "Ja!" Freudestrahlend ergriff ich Daddys Hand und zerrte ihn zum anderen Ende des Raumes. Berge von Essen und Gegenständen türmten sich auf dem eichenen Holz der morschen Tische, einige der wenigen verwertbaren Einrichtungsgegenstände, die die Männer noch hatten auftreiben können. Diese passten soeben auf, dass alles gerecht verteilt wurde. Mein Vater hob mich hoch, sodass ich besser überblicken konnte, was es alles gab. "Ist da irgendetwas dabei, was du gerne hättest? Du weißt, viel kann ich dir nicht bieten, auch nicht am Heiligen Abend. Aber sollte hierunter irgendetwas sein, was du gerne hättest, dann sollst du es haben." Ich ließ meinen Blick über die Sachen schweifen. Es waren Gewehre dabei, aber auch kürzere Handfeuerwaffen, Sprengstoffe, Granaten und Massen von Essen. Doch alle Köstlichkeiten, die die Besatzer offenbar zum Weihnachtsfest hatten in ihre Lager transportieren lassen wollen, waren mir vollkommen gleich, als ich etwas erblickte, dass mich verzauberte wie keine andere Gabe auf diesem Tisch. Es war eine glühend rote, mit Gold verzierte, schimmernde Christbaumkugel. Gebannt betrachtete ich sie, fixierte sie geradezu. Schon seit langem hatte ich nicht mehr solch wunderbare, rote Farbe gesehen, sondern lediglich das kalte Rot von Blut. Sie hatte so etwas Tröstendes, so etwas Zärtliches an sich. Nach einigen Augenblicken schien mein Vater mein Starren zu bemerken, und folgte offenbar meinem Blick. Als er sah, was mich so faszinierte, streckte er den Arm über den Tisch aus. "He, Tuck! Kannst du mir mal eine von den Christbaumkugeln rüberreichen? Die rot-goldene da? Danke!", fügte er hinzu, als einer der Männer ihm den schönen Baumschmuck zuwarf, den ich die ganze Zeit betrachtet hatte. Unbeschreibliche Freude breitete sich in mir aus, als mir das Stück schließlich gereicht wurde. Das kühle Blech, aus dem es gefertigt war, erwärmte sich rasch in meiner Handfläche, sodass ich glaubte, sein Glühen würde sich noch verstärken. "Hier. Mehr kann ich dir leider momentan nicht bieten. Aber es werden wieder bessere Zeiten kommen, da bin ich mir sicher", sagte mein Vater und sah mich dabei ein wenig traurig an. "Aber das muss dir doch nicht leid tun. Das hier ist das Schönste, was ich seit langem bekommen habe! Aber ich habe leider nichts für dich Daddy …", erwiderte ich, zuerst freudig, dann betrübt. "Ich brauche auch nichts. Du bist gesund, das ist das Wichtigste für mich. Das ist es doch, worum es an Weihnachten geht. Unversehrt, glücklich und bei seiner Familie zu sein", antwortete er daraufhin und fuhr mir mit einer Hand durch mein Haar, wie er es des Öfteren tat. Gerade in diesem Moment hämmerte es von außen mehrmals gegen die stählerne Panzertüre, die unseren Unterschlupf schützte. Die Menschen um uns herum fuhren vor Schreck zusammen und sahen sich fragend um. Nur kurz darauf waren von draußen die Stimmen feindlicher Besatzer hören, die an ihrem akzentgeprägten Amerikanisch zu erkennen waren. Erschrocken starrte ich zu dem Tor hinüber, während die Menge, die um den Tisch versammelt gewesen war, in alle Richtungen auseinander stob, auf Türen und Gänge zu, die aus dem Raum führten, in dem wir uns befanden. Auch mein Vater riss mich hoch in seine Arme und lief mit mir zu einem Fluchtweg, als sich das Schloss der Stahltüre gewaltsam öffnete. Einer der Männer, von dem mein Daddy und seine Gefährten geglaubt hatten, er wäre tot, stürzte zuerst herein. Er rief, er habe mit den Besatzern einen Pakt geschlossen, dass sie niemanden mehr töten würden, wenn er sie zu unserem Quartier führen würde. Nur Sekunden später jagten ihm jedoch eben die, von denen er geglaubt hatte, ihnen trauen zu können, mehrere Kugeln in den Rücken. Überall waren Schüsse zu hören, ebenso die Schreie von Menschen, die panisch flohen oder gnadenlos niedergestreckt wurden. Ich sah, wie Skip eine Kugel direkt an der Schläfe traf. Auch er ging röchelnd zu Boden, während ich mich voller Angst an die Schultern meines Vaters klammerte und die Christbaumkugel so gut festhielt, wie es mir möglich war, ohne sie zu sehr zu drücken. Alles um mich herum glitt wie durch einen Vorhang an mir vorbei. Alles war so unwirklich, so unbegreiflich, alles passierte so schnell. Eben war es ruhig gewesen, nichts hätte mich ahnen lassen, was nur Sekunden später passieren würde. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass es noch viel schlimmer werden würde. Gerade als mein Vater durch die nahe Tür stürzte und ich glaubte, wir wären nun aus dem Schusswechsel zwischen Besatzern und Rebellen heraus, wurde erneut eine Kugel abgefeuert. Das Nächste, was ich bemerkte, waren die Schmerzen in meiner Hand und meinem Arm, als mein Daddy stürzte und mein kleiner Körper seinem Griff entglitt. Ich schlug hart auf dem Boden auf. Doch ich wusste, dass mir weder Zeit zum Weinen blieb, noch konnte ich liegen bleiben und dem Schmerz nachgeben. Zitternd rappelte ich mich auf, als ich das Blut an meiner Hand bemerkte, das stetig aus den Wunden lief, in denen noch einige Splitter der zerbrochenen Christbaumkugel steckten. Geschockt, zutiefst bestürzt sah ich hinab auf die glitzernden, roten Scherben, auf denen noch das Funkeln des Goldstaubes zu erkennen war. Das Geschenk meines Vaters war zerstört. Ich wurde erst aus meinen Gedanken gerissen, als ich Schritte hinter mir vernahm. Ruckartig fuhr ich herum, als ich sah, dass zwei der Besatzer herein traten. Einer von ihnen kam direkt auf mich zu und packte mich grob an der Schulter, ignorierte das Blut, das inzwischen an meinem Arm hinab lief und einige Stellen meiner kalten Haut wärmte, und schleifte mich hin zu dem Anderen, der sich über meinen Vater gebeugt hatte, welcher regungslos am Boden lag. Er drehte ihn gerade zu sich herum, als ich das blutige Loch in seinem Rücken entdeckte. Ich begann vor Schreck zu zappeln und zu schreien, doch weder hörte mich jemand oder kam mir zu Hilfe, noch rührte sich mein Vater. Seine Augen starrten nur ausdruckslos ins Leere. Tränen rannen über meine Wangen, als man mich unsanft neben den toten Körper warf. Kurz darauf spürte ich einen stechenden Schmerz in der Seite, als mich einer der Männer in die Rippen trat und auf amerikanisch, das von einem starken, östlichen Akzent geprägt war, sagte, ich solle endlich still sein. Doch ich schrie weiter, sah immer wieder zu meinem Vater, der sich nicht regte. Ich bekam nur am Rande mit, dass die beiden Soldaten sich offenbar besprachen, denn was sie sagten, verstand ich nicht. Es war kein Amerikanisch. Dann nickte einer von ihnen und kam auf mich zu. Er hob seine Waffe und richtete den Lauf direkt auf meine Stirn. Für mich und meinen Vater würden nie wieder bessere Zeiten anbrechen. Denn die kalte, schwarze Röhre war das Letzte, was ich in meinem kurzen Leben sah. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle
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