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Nimm doch ne Ente© Che SeibertEr bückte sich, nahm die Kugel auf, ging in die Küche, setzte sich an den Küchentisch. Er ließ die Kugel von links nach rechts auf dem Tisch laufen. Er legte die Hand auf die Kugel und rollte sie hin und her, hin und her, immer wieder. Sie hinterließ allmählich eine schwarze Spur auf dem hellen Holz. Er dachte an gestern. Er sah dabei aus dem Fenster. Am Ende der Straße blinkte auf einer Dachterrasse die Beleuchtung eines Weihnachtsbaums. An, aus, an, aus. Einmal pro Sekunde, er hatte das gestoppt. Schon den ganzen Tag. Und jetzt die ganze Nacht. Offenbar hatte man nach der Bescherung abends vergessen, sie auszuschalten. Trunken vor Geschenken und Familienglück. Sein eigener Baum lag in der Ecke des Wohnzimmers, umgeben von blauen und roten Scherben der Weihnachtskugeln. Für ihn selbst würde es keine Bescherung geben. Für sie, Anne, schon. Nur nicht die, die sie sich gewünscht hätte. Falls sie sich eine gewünscht hatte. Im Laufe der Nacht waren ihm Zweifel gekommen. Gestern Abend. Er stand in der Küche und pfiff die Weihnachtsmusik mit, die aus dem Radio quoll. "I wish it could be christmas everyday." Gestern dachte er noch so. Er stand am Tisch, formte Klöße. Auf dem Herd schmorte der Rotkohl vor sich hin. Er hätte gerne Gans gemacht, wie seine Mutter früher zu Hause. Eine Gans wäre aber zu groß gewesen für sie beide, er wollte nicht tagelang daran nagen. Und Anne hatte gesagt "Dann nimm doch 'ne Ente". Und die sah ihn jetzt an und wartete darauf, dass der Ofen heiß genug war, um sich zu bräunen. In letzter Zeit war es wieder aufwärts gegangen mit ihnen beiden. Anne hatte ihre Eskapaden eingestellt. Schon lange hatte er nicht mehr bis in den frühen Morgen am Küchentisch gesessen und gewartet, ob sie kam. Erst traurig, dann wütend, dann betrunken. Whisky hatte ihm den Kopf auf die Tischplatte sinken lassen, und er hatte dem Moment entgegengedämmert, wo Anne beschwingt von der rauschenden Party, auf der sie gelandet war, hereinschwebte. Ihm den Kopf kraulte und sagte "Tut mir Leid, Frank, aber es war sooo lustig, ich konnte nicht anders." Und dann verschwand sie im Schlafzimmer. Und war im Handumdrehen eingeschlafen. Und er saß aufgeschreckt, in seine Eifersucht verstrickt, bis sie lächelnd und erfrischt wieder in die Küche kam und für sie beide Kaffee kochte. Einmal war es anders ausgegangen als sonst immer. Anne kam zwei Tage nicht nach Hause. Als er am dritten Tag aus dem Büro kam, saß sie lächelnd in der Küche, hatte eine Flasche seines Lieblingsrotweins auf dem Tisch und beeilte sich, sie zu öffnen. "Frank, Schatz, bitte verzeih' mir, ich bin da in eine dumme Sache geraten, es wird auch nicht wieder vorkommen." Er konnte ihrem Lächeln nicht widerstehen, wenn es von ihren braunen Augen herabperlte. Sie stießen an und landeten kurze Zeit später im Bett. Er spürte einen fremden Geruch, verscheuchte aber alle eifersuchtsschwangeren Gedanken. Er war froh, sie wieder in seinen Armen zu halten. Aber das war Vergangenheit, dachte er. Und dieses Weihnachtsfest sollte den Neubeginn ihrer Beziehung besiegeln. Er nahm den Pinsel und bestrich die Ente mit gewürztem Öl. Der Ofen war bald so weit. Er ging ins Wohnzimmer, sah nach dem Baum, rückte die Geschenke zurecht. Plötzlich erfasste ihn eine ungeheure Sehnsucht, er wünschte sich Anne augenblicklich her. Er griff zum Handy, wählte ihre Nummer. Eine blecherne Stimme teilte ihm mit, dass Anne im Moment nicht zu erreichen sei. Er eilte wieder in die Küche, öffnete den Backofen und schob die Ente hinein. Stellte die Platte, auf der der Rotkohl kochte, kleiner. Sein Zeitplan erzählte ihm jetzt, es seien noch zwanzig Minuten, bis die Ente fertig wäre. Er überprüfte zum dritten Mal, ob alle Kerzenhalter am Baum bestückt waren, und schenkte sich einen Whisky ein. Eben hatte er noch einmal versucht, Anne auf ihrem Handy zu erreichen. Es kam die gleiche Ansage wie eine Stunde vorher. Er begann, sich Sorgen zu machen. Er wollte auf keinen Fall darein verfallen, am Gelingen dieses Weihnachtsabends zu zweifeln. Vielleicht war ihr etwas passiert? Was hatte sie gesagt, wo sie wäre? Er hatte es vergessen. Sie hatte ja versprochen, pünktlich zum Essen zu kommen. Er hatte ihr geglaubt. Und es gab ja Handys. Wenn sie eingeschaltet waren. Zwei Stunden später war die Ente fast verschmort, die Whiskyflasche fast leer und seine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Er hatte sie noch ein paarmal auf ihrem Handy angerufen und immer war nur diese Automatenstimme dran gewesen. Als er keine Weihnachtslieder mehr hören konnte, machte er das Radio aus und den Fernseher an. Familie Becker aus Saarbrücken versuchte sich am trauten Weihnachtsfest. Dreimal sah er auf drei verschiedenen Regionalsendern den Baum im Hause Becker fallen. Dann reichte es ihm. Weil die Heizung in seinem Auto kaputt war, wickelte er sich in Mantel, Schal, Handschuhe, nahm den Hut und ging nach draußen. Plötzlich war Schnee gefallen, die Straßen und Bürgersteige waren weiß gestrichen. Seine Schuhe hinterließen dunkle Tapsen in der Schneedecke. Außer ihm war kaum jemand unterwegs. Weihnachten - Fest der Freude und Zusammengehörigkeit. Der einzige Mensch, der ihm auf dem Weg zum Auto begegnete, wagte es, ihm freundlich "Frohe Weihnachten" zu wünschen. Er kotzte ihn an: "Shut up!" Der Mann sah ihn kurz erstaunt an und schlug dann den Blick nieder. Er fragte sich wohl, was er falsch gemacht hatte. Als er im Auto saß, wusste er nicht mehr, wohin er fahren sollte. Er hatte keine Ahnung, wo Anne sich herumtrieb, wenn er auf sie wartete. Die Stadt war groß, sie arbeiteten in völlig unterschiedlichen Metiers, und außerdem war Heiligabend und die Kneipen und Discos hatten zu. Und wie gesagt, er wusste nicht, wohin sie ausging. Er startete den Motor und schlitterte aus der Parklücke. Er war Schnee nicht gewohnt und fuhr sehr langsam. An allen großen Plätzen standen riesige Weihnachtsbäume und strahlten ihn an. Er hatte sich so auf diesen Abend gefreut und konnte nicht verstehen, was falsch gelaufen war. Nach zwei Stunden Herumfahren war er fertig mit seiner Tour. An einer Tankstelle hatte er noch eine Flasche Whisky gekauft. Sie war völlig überteuert, aber das war ihm egal. Er bemühte sich, nicht zu unfreundlich zu erscheinen. Sein Parkplatz von vorhin war noch frei. Er setzte vorsichtig hinein und blieb danach noch fünf Minuten im Auto sitzen. Als er an dem Haus angekommen war, in dem sie unter dem Dach wohnten, blickte er nach oben. Es war alles dunkel. Er hatte gehofft, sie wäre inzwischen zurückgekommen. Aber es schien nicht so. Er stieg die Treppen hinauf, knöpfte unterwegs den Mantel auf und nahm den Hut ab. Dabei hantierte er mit der Flasche. Er hatte Angst, sie würde ihm aus den Händen gleiten. Die Wohnungstür war wie befürchtet abgeschlossen. Er hängte Hut, Schal und Mantel an die Garderobe, legte die Handschuhe in das kleine Schränkchen neben der Tür und ging ins Wohnzimmer. Sein Whiskyglas stand noch auf dem Tisch. Er öffnete die neue Flasche, nahm das Glas und goss sich randvoll ein. Er trank die oberste Schicht ab und ging dann mit dem Glas in die Ecke, wo er seine DVDs verwahrte. Er blätterte die Pornokollektion durch. Eine fiel runter. Er klaubte sie mühsam auf. Er war doch ziemlich betrunken, nachdem er aus dem Kalten ins Warme gekommen war, das merkte er jetzt. Er legte die DVD ein. Sie war aus der Hausfrauen-nebenan-Serie. Während der Pegel der Whiskyflasche stetig sank, ergötzte er sich an den absurden Dialogen, mit denen die kurzen Streifen garniert waren. Irgendwann machte er seine Hose auf, kramte seinen Schwanz hervor und holte sich einen runter. Inzwischen war es drei Uhr morgens. Er schleppte sich in die Küche und betrachtete eine Weile die dunkelbraune ausgetrocknete Ente. Eine Weile saß er am Küchentisch. Dann wankte er wieder ins Wohnzimmer und zündete die Kerzen am Baum an. Als die letzte dabei war zu verlöschen, fing er an, "Stille Nacht Heilige Nacht" zu singen. Es hörte sich nicht gut an. Bevor er sich ins Schlafzimmer verzog, gab er dem Weihnachtbaum einen Tritt, dass er in die Ecke fiel. Er riss die Christbaumkugeln von den Zweigen und trampelte auf ihnen herum. Er lag eine Weile wach, versuchte noch einmal das Spiel mit sich selbst, aber es gelang ihm nicht mehr. Irgendwann schlief er doch ein. Plötzlich schrak er hoch. Er fühlte, er war nicht mehr allein. Er schaute neben sich und sah Anne mit ihrem elektrisierenden Lächeln auf dem Gesicht neben ihm schlafen, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Gegenüber früher kam es ihm so vor, als verhöhne sie ihn. Er betrachtet sie ein letztes Mal so, erhob sich leise und ging auf die Toilette. Auf dem Rückweg kramte er in seinem Schreibtisch, nahm die Walter PPK und ging wieder ins Schlafzimmer. Er legte sich neben sie. Inzwischen lag sie auf der Seite, den Kopf ihm zugewandt. Er setzte sich die Pistole an die Schläfe. Dann drückte er ab.
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Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle
Weihnachtsgeschichten von Patricia Koelle
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