Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent Geschichten für Weihnachtsmuffel
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Dreißig Prozent

© Margrita Plychta

Karl hasste Weihnachten. Das überall lauernde Geglitzer machte ihn nervös.

Schon Wochen vor dem verhassten Termin hatte sich die Stadt in einen irren Vergnügungspark mit Karussells, Zuckerwatte und blechern dudelnden Unterhaltungssongs verwandelt. Genügte es nicht, dass das grässliche Fest drei volle Tage dauern würde? Musste man ihn schon bei den Vorbereitungen dafür mit Lärm, Gedränge und Rauschgoldengeln belästigen?

"Heiße Kastanien!"

Karl seufzte und fasste nach der klebrigfeuchten Hand seiner jüngeren Tochter, um sie sofort wieder loszulassen. Wozu hatte Angela morgens einen unendlich langen Kampf mit ihrer Mutter um das Tragen von neuen, pelzbesetzten Handschuhen geführt, wenn sie sie sowieso nicht anzog und ihrem Vater die Reste aufgeweichter Lebkuchen an die Finger schmierte?

Er hatte mehrmals versucht, den wöchentlichen Familieneinkauf gegen die restlichen Haushaltspflichten inklusive Kindererziehung aufzurechnen, für die seine Frau einfach ein besseres Händchen hatte. Doch heute nützte ihm kein Argumentieren, Linda lag mit einem Gipsbein zuhause, und Karl musste sämtliche Weihnachtseinkäufe alleine erledigen.

Nicht alleine, korrigierte er sich, sondern mit drei Kindern im schwierigen Alter.

(Im Prinzip fand er jedes Alter schwierig, seit die Kinder laufen konnten und ihm überallhin folgten, trotzdem hatten die Unannehmlichkeiten ihren Höhepunkt erreicht, als ihnen Miriam neulich ein Wesen als festen Freund vorgestellt hatte, das vermutlich nicht der menschlichen Spezies angehörte. Keine Haare, dafür lauter Ringe und Klammern im Gesicht, und überall tätowiert. Karl hatte kurz erwogen, das Luftgewehr aus dem Keller zu holen, doch Linda schien die Sache irgendwie im Griff zu haben, und außerdem war ja schließlich Advent.)

"Papa, kann ich noch einen Kinderpunsch?", fragte Angela und drückte sich an seinen Mantel.

"...haben", ergänzte Karl, "es heißt: kann ich bitte noch einen Punsch haben!"

"Wir kommen zu spät", sagte Miriam gelangweilt und betrachtete ihr Spiegelbild in einem Schaufenster, "Mama hat fünfzehn Uhr gesagt."

"Mama ist nicht hier", zischte Karl, "und sie hat keine Ahnung, wie schwierig das hier ist."

"Doch, hat sie", sagte Tobias, "sie macht das jedes Jahr."

"Du hast noch keinen Stollen, wir müssen den Baum schmücken, und Oma kommt um fünf", zählte Miriam triumphierend auf und wedelte mit Lindas "to do"-Liste herum.

"Kann ich den Baum schmücken, kann ich?", warf Angela eifrig ein.

"Nein", sagte Miriam, "das ist nichts für kleine Kinder."

"Ich bin kein kleines Kind." Angelas Oberlippe zitterte.

"Jetzt heult sie gleich", sagte Tobias mit zufriedenem Gesichtsausdruck.

Karl überschlug im Kopf, ob er genug Bargeld bei sich hatte, um jetzt sofort zu einer sehr weiten Reise aufzubrechen, von der er niemals zurückkommen würde.

"Papa, hast du Omas Krippe schon gefunden?", riss ihn sein Sohn aus den Gedanken.

Natürlich, Omas Krippe. Eine scheußliche Laubsägearbeit, von Omas kleinem Bruder vor ungefähr hundert Jahren angefertigt, die jedes Jahr unter der Tanne stehen musste. Jedes Jahr bekam Oma feuchte Augen, und jedes Jahr hatte Karl sich geschworen, das vermaledeite Ding diesmal ganz hinten im Keller verschwinden zu lassen. Unglücklicherweise hatte er diesen Vorsatz letztes Jahr in die Tat umgesetzt, weswegen die ganze Familie schon seit Tagen nach der kleinen Holzkiste suchte.

"Wir gehen jetzt", entschied Karl plötzlich, "das schaffen wir sowieso alles nicht mehr." Er grabschte nach der Liste und zerriss sie in winzige Stücke.

"Mama wird sich gar nicht freuen", meinte Angela.

In der Tat freute Mama sich kein bisschen.

"Dann gibt es halt nichts Süßes", meinte sie kurz angebunden, "es ist ja nur Weihnachten. Und der Baum sieht ungeschmückt auch viel natürlicher aus."

"Ich glaub, ich mache mal den Punsch", murmelte Tobias und schickte sich an, zu verschwinden.

"Halt!", sagte Mama eisig, "Frau Eckert kommt um fünf. Bis dahin ist die Russenflagge verschwunden!"

Vom letzten Flohmarkt war Tobias mit einer riesigen russischen Siegesflagge heimgekehrt, die seitdem den Flur verunstaltete. Wozu er sie verwenden wollte, schien ihm selbst nicht klar zu sein, aber er wirkte sehr glücklich über ihren Besitz. Es war nicht anzunehmen, dass Frau Eckert, deren verstorbener Mann den Krieg überwiegend in Russland verbracht hatte, Tobias' Sympathie für Tolstois Landsleute teilen würde.

Wie jedes Jahr hatte Linda die verwitwete Nachbarin freundlicherweise eingeladen. Karl hatte nichts gegen Freundlichkeit, solange er nicht davon behelligt wurde. Aber Frau Eckerts Besuch bedeutete Stress, denn sie redete gerne und laut, was seine Schwiegermutter überhaupt nicht leiden konnte. Oma wollte das Fest besinnlich haben, mit Weihnachtsliedern und dem Radiogottesdienst. Egal auf wessen Seite man sich schlug, man würde mit tadelnden Blicken bestraft werden.

"Ich leg' mich hin", sagte Linda knapp und humpelte die Treppe hinauf.

Tobias verzog sich in die Küche, Miriam hing schon wieder am Telefon, und Angela verschwand mit geheimnisvollem Gesicht in ihr Zimmer, um mysteriöse Päckchen zu packen.

Wenigstens hatte er seine Geschenke schon, dachte Karl befriedigt, und eingepackt hatte die Verkäuferin sie auch.

Linda bekam endlich eine schöne Leselampe, damit er in Ruhe schlafen konnte.

Für Angela hatte er Walt Disney's "Bambi" besorgt, das sie als Kind so gern gesehen hatte. Tobias sollte "Tom Sawyer" bekommen, so was lasen Jungs in dem Alter doch gern. Für Miriam, die sich ihrer Wirkung auf Jungs wohl nicht bewusst war, hatte er ein geblümtes, langes Unterkleid gewählt, das sich zu allen Röcken kombinieren ließ. Oma, die der modernen Technik gegenüber so unaufgeschlossen war, wollte er mit einem Handy überzeugen, während er für Frau Eckert, die er am wenigsten kannte, irgendein Parfüm gekauft hatte.

"Papa, was heißt EL?", schrie Tobias aus der Küche.

"Ein Liter", brummte Karl und behängte den Weihnachtsbaum halbherzig mit Lametta.

Miriam legte endlich den Telefonhörer auf, woraufhin das Telefon sofort wieder zu klingeln begann.

"Frau Eckerts Wellensittich ist krank", berichtete Miriam Minuten später.

"Sagt sie ab?", fragte Karl hoffnungsvoll. Die schönsten Abende in seinem Leben hatten mit einer Absage begonnen.

"Nein, sie bringt ihn mit", sagte die Tochter und legte wieder auf.

"Ich nehme an, der Tätowierte wird den Abend bei seinen Eltern oder seinem gerichtlichen Vormund verbringen, oder wo auch immer er sein Zuhause hat?", erkundigte sich Karl düster, woraufhin Miriam einen Heulkrampf bekam und sich in ihrem Zimmer einschloss.

Nur Angela war bester Laune, als Frau Eckert eintraf.

"Märri Krissmess", schnaufte sie und stellte den Vogelkäfig ab, "ich hab des Hansele doch ned alans lassn kenna."

Karl flüchtete in die Küche, in der Tobias Gläser mit dem dickflüssigen Punsch auf einem Tablett anordnete.

"Probier mal, Papa!", sagte er stolz.

"Lecker", sagte Karl, "aber ziemlich scharf. Wie viel Ingwer hast du denn genommen?"

"Ja mei, da sans in der Küchn, die Mannsleit", tönte die Nachbarin von der Küchentür. "Zu meinen Zeitn hätts des ned gegeben. Da ham die Madla noch gwusst, wie sich's ghört. Gehm's es her!", setzte sie hinzu und nahm Karl das Tablett aus der Hand.

"Den Ingwer hab ich nicht gefunden", erklärte der Sohn, als sie verschwunden war "dafür hab ich mehr Pfeffer reingetan. Außerdem war nur ein Liter Kirschlikör da, deswegen hab ich den Rest dann mit Rum aufgefüllt."

"Zeig mal das Rezept", sagte Karl vorsichtig.

"Ein Liter Tee, acht Gewürznelken, Ingwer, Pfeffer und Zimt, eine halbe Flasche Rotwein und 2 EL Kirschlikör", las Tobias vor.

Karl erinnerte sich undeutlich an seine Definition von EL und beschloss, den Punsch in die Toilette zu gießen.

"Stell das wieder hin", befahl Karl seiner Ältesten im Wohnzimmer.

"Nana, Herr Schuster", griff Frau Eckert ein, "die Miri is ein großes Mädchen, und heute is doch Weihnachten. Da döff ma sich schomal ein Schlückchen genehmichen. Trink nur zu, Madla!"

"Ich hab schon zwei Gläser!", rief Angela fröhlich aus,

"... getrunken", sagte Karl automatisch, "ich hab schon zwei Gläser getrunken ... was hast du?", fragte er entsetzt.

"Hab dich nicht so, das Zeug ist doch harmlos", sagte Linda und bemerkte weiterhin, dass die Mischung heuer besonders gelungen sei.

"Dreißig Prozent hab ich auf die Gardinen bekommen", sagte Frau Eckert befriedigt und informierte die Familie unzusammenhängend über weitere Details ihrer Weihnachtseinkäufe.

Karl, der einen ähnlichen Prozentsatz an Alkohol im Punsch vermutete, entschied sich spontan, seine Frau über die Einzelheiten der besonders gelungenen Mischung nicht zu informieren.

Als es um acht klingelte, war nur die Gans fertig, die Linda schon morgens in den Ofen geschoben hatte. Anstelle von Oma stand Miriams furchteinflößender Freund vor der Tür, woraufhin Frau Eckert eine Unterhaltung begann, die überwiegend vom Werteverfall der heutigen Jugend handelte.

Karl beschloss, ein wenig an die Luft zu gehen, und lief seiner Schwiegermutter in die Arme.

"Frohes Fest", sagte diese atemlos und legte ihm verschwörerisch den Arm um die Schultern.

"Ich hab mir ein ganz besonderes Geschenk ausgedacht. Einen Familienurlaub für alle", sagte sie glücklich und sah ihn erwartungsvoll an.

"Kannst du alle definieren?!", fragte Karl.

"Na alle eben, Susi und ihr Mann, ihr, Tante Henrietta mit den Kindern und die Cousinen mütterlicherseits", zählte die Oma auf.

"Um Gottes willen!", entfuhr es Karl, der mit diesen drei Worten nicht nur die Oma persönlich kränkte, sondern auch noch den Namen des Herrn missbrauchte.

Doch schließlich war es anstrengend genug, zwei Wochen Urlaub mit der engsten Familie zu überstehen. Die Vorstellung, mit den Nichten seiner Frau länger als einen Abend zu verbringen, ließ ihm kalten Schweiß ausbrechen.

Als sie schweigend das Haus betraten, stand Miriam tatsächlich in der Küche und wärmte das Rotkraut aus der Dose auf, während Tobias eine Schüssel durchweichter Tiefkühlpommes auf den beinahe hübsch gedeckten Tisch stellte.

"Die Klöße sind nichts geworden", sagte er erklärend und zeigte auf einen Topf mit grauem Brei.

Die Stimmung beim Essen war gedämpft. Karl vermied es, Lindas Blicken zu begegnen, die mindestens drei unterschiedliche Emotionen ausdrückten. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, dass die Wut definitiv hervorstach. Es war interessanter, die Abwehrstrategien der Oma zu beobachten, die sich offensichtlich vor Miriams Freund fürchtete und sich nicht traute, ihre wahren Ansichten zur Legalisierung von Marihuana preiszugeben. (Vielleicht wusste sie auch nicht, was das Wort bedeutete.)

Später wurde, Frau Eckert zur Freude, Scharade gespielt. Tobias stellte den Begriff "vogelfrei" besonders plastisch dar, indem er Hansi aus seinem Käfig befreite. Leider musste das Spiel hier auch abgebrochen werden, da Hansi sich weigerte, nach dem Spielzug an sein angestammtes Plätzchen zurückzukehren.

"Allmächd, die Fenster zu, schnell!" Frau Eckert ließ sich aufs Sofa fallen und beruhigte die angespannten Nerven mit einem Gläschen Punsch.

Langsam begann Karl, sich zu amüsieren.

"Bescherung!", kreischte Angela und stürzte sich auf den Geschenkehaufen unter der dürren Fichte. Linda zog ein schmales Päckchen aus dem Gewühl und löste das Geschenkband. Erst jetzt bemerkte Karl, dass er seine in elegantem Silber verpackten Gaben nicht mehr zuordnen konnte.

"Ein Nachthemd", säuselte Linda überrascht und hickste kurz. Sie ließ Miriams Unterkleid durch ihre Finger gleiten.

"Echte Seide", stellte sie fest, "so was hab ich seit Jahren nicht bekommen."

Dann errötete sie leicht und biss sich auf die Unterlippe.

"Poison!", rief Miriam entzückt und sprühte den Hauch einer tropischen Nacht ins Weihnachtszimmer, "das haben sie in meiner Clique alle!"

Tobias hatte sich das Handy geschnappt und studierte die Bedienungsanleitung, während Frau Eckert, die das Bambivideo in der Hand hielt, gerührt von ihrer Kindheit sprach. Oma bewunderte die Leselampe und Hansi beäugte die Gesellschaft von der Gardinenstange aus.

Als Angela die Gardinen zur Seite zog, um sich mit Tom Sawyer auf die Fensterbank zu verkriechen, flatterte der Wellensittich auf und landete auf dem Tisch. Er nippte an Miriams Glas, um wenig später einen grotesken Tanz aufzuführen.

"Komm mal mit", sagte Linda, als die Glocken läuteten, und Karl folgte seiner Frau ins Schlafzimmer, in dem sie die Besinnlichkeit auf ihre eigene Weise zelebrierten.

Als sie Hand in Hand zurückkamen, diskutierte Miriams Freund mit der Schwiegermutter die Vorzüge der veganen Ernährung, während Frau Eckert mit feuchten Augen den kleinen Lord im Fernsehen verfolgte. Die Kinder unterhielten sich friedlich, und der Wellensittich lag auf dem Rücken und schlief.

"Das war das schönste Weihnachten seit zwanzig Jahren", sagte die Oma und küsste Karl zum Abschied auf den Mund, "und endlich habt ihr die blöde Krippe weggeschmissen. Ich wollte ja nie was sagen, weil die Linda den Onkel Richard doch so gern hatte. Aber unter uns gesagt, ein großer Künstler war er nicht."

Als Karl sich die Treppe hinaufkämpfte, beschloss er, über die Sache mit dem Familienurlaub doch noch einmal nachzudenken.

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SPIEGEL ONLINE Bestsellerautorin Patricia Koelle

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